Interview
„Erst wenn Adipositas-Patienten sich verstanden fühlen, sind sie Therapie-bereit“
In der JA-Studie wurde die medizinische und psychosoziale Versorgung extrem adipöser Jugendlicher optimiert. Das Credo: Erst wenn sich Betroffene verstanden fühlen, sind sie bereit für eine antiadipöse Therapie, betont Studienleiter Professor Martin Wabitsch aus Ulm.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Professor Wabitsch, in der JA-Studie haben Sie und Ihr Team mit extrem adipösen Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersucht, wie sich die Betreuung bei Adipositas verbessern lässt. Begonnen wird mit einem drei- bis sechsmonatigen Gruppenprogramm. Was gehört dazu?
Professor Martin Wabitsch: In dieser Zeit finden ambulante Gespräche und Schulungen statt. Ziel ist es, den Jugendlichen Informationen zum Krankheitsbild und möglichen Folgeerkrankungen zu übermitteln und über Alltagsschwierigkeiten zu sprechen. Zunächst geht es darum, eine Vertrauensbasis zu schaffen, um die Patienten für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Themen sind unter anderem Stressbewältigung, Lebenszufriedenheit, Umgang mit Hänseleien, soziale Kompetenz, soziale Angst, Körperschema, psychisches Wohlbefinden, Selbstwertgefühl, negative Gefühle, emotionales Essen und Problemlösungsstrategien.
Erst wenn die Patienten vertrauen, sich verstanden fühlen und einen neuen Blick auf ihre Situation gewonnen haben, sind sie bereit für die Suche nach einem Behandlungsweg.

Professor Martin Wabitsch
© Universitätsklinikum Ulm
Die eigentlichen Bemühungen zur Gewichtsreduktion beginnen erst in Phase 3. Geben Sie zu Beginn wenigstens Ernährungsempfehlungen?
Nein, weil das Thema Gewichtsreduktion über Verhaltensänderung viele Jahre nicht funktioniert hat und dieser Ansatz schnell zu Nichtadhärenz und Frustration führt. Wir wollen drei Wege eröffnen, die wir am Ende vorschlagen.
Weg 1: Wiederkommen; ernst genommen werden; zusammenarbeiten; Blutdruck, Diabetes und Schlafapnoe-Syndrom behandeln; den Lebensstil, wie es unter den persönlichen Gegebenheiten möglich ist, optimieren.
Weg 2: eine stationäre Langzeittherapie oder Wohngruppe. Die neue Umgebung wird als Chance gesehen, über eine Veränderung der Lebensbedingungen und des Verhaltens das Gewicht in den Griff zu bekommen. Allerdings ist dieser Weg wegen seiner langen Dauer von sechs oder neun Monaten umstritten.
Weg 3 ist die Adipositas-Chirurgie, die für eine beträchtliche Anzahl von Patienten infrage kommt. Wir haben hierfür strenge Indikationskriterien entwickelt. Mittlerweile wurden mehr als 30 der 431 Studienteilnehmer operiert.
Welche Verbesserungen konnten mit dem neuen Konzept erreicht werden?
Wir sehen, dass die Adhärenz gegenüber früheren Maßnahmen deutlich gesteigert wurde. Wir sind noch mitten in der Auswertung der Studie, ich kann aber jetzt schon sagen, dass die 30 Patienten, die operiert wurden, hervorragende Gewichtsabnahmen von 30, 40 oder sogar 50 kg hatten. Dies führt bei den Betroffenen zu einem ganz neuen Lebensgefühl. Körperliche Behinderung, Lebensqualität und kardiovaskuläre Risikofaktoren verbessern sich.
Es gibt auch Einzelfälle, die über eine Wohngruppe oder die Langzeittherapie außerhalb der bisherigen Familie erfolgreich waren. Insgesamt waren dies allerdings weniger als zehn Patienten. Aber auch bei Jugendlichen, die keine Gewichtsabnahme schaffen, sehen wir deutliche Verbesserungen, da Folgeerkrankungen erkannt und gut versorgt werden. Ein Fünftel der extrem adipösen Jugendlichen benötigt beispielsweise wegen einer Schlafapnoe nachts eine CPAP-Maske. Durch diese Maßnahme sind sie tagsüber wieder fitter.
Sie arbeiten mit Krankenkassen und Jobcentern zusammen. Wie sieht die Kooperation aus?
Wir haben an vielen Orten Flyer ausgelegt. Jugendliche wurden oft über die Jobcenter, in die sie regelmäßig kommen, für die Studie rekrutiert. Die meisten, die letztlich operiert wurden, hatten ihre Erstinformationen aus den Jobcentern. Die Implementierung von Teilen des Programms in der Versorgung läuft an den fünf Studienzentren in enger Kooperation mit Jobcentern. Gemeinsam mit Krankenkassen und MDK haben wir ein Konzept entwickelt, mit dem jetzt auch unter 18-Jährige, die die Kriterien erfüllen, eine Adipositas-Chirurgie erhalten können.
Nur wenige Jugendliche mit einem BMI >30 kg/m2 suchen aktiv ärztliche Hilfe. Wie kann man erreichen, dass sich mehr Betroffene solchen Konzepten öffnen?
Das schaffen wir durch möglichst breite Öffentlichkeitsarbeit. Wir müssen in der Gesellschaft vermitteln, dass die extreme Adipositas bei jungen Menschen kein selbst gewählter Zustand ist, sondern eine Krankheit, die auf der Basis einer Anlage entsteht und durch die Lebensbedingungen beeinflusst wird. Deshalb müssen wir adipöse Menschen als Patienten betreuen. In Deutschland wird die Adipositas noch immer als reines Lebensstilproblem gesehen.
Professor Martin Wabitsch
- Position: Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Ulm.
- Leiter der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten JA-Studie.
- Ziel seiner Forschung ist eine verbesserte Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas.
- Ein Konzept wurde in der JA-Studie an den Universitäten Ulm, Berlin, Leipzig, Witten-Herdecke, Essen von 2012 bis 2019 mit 431 betroffenen 14- bis 21-Jährigen (BMI >40) untersucht.