Interview mit neuem STIKO-Chef

"Fake News halten sich im Internet hartnäckig"

Mit kaum einer Maßnahme haben Ärzte so viel erreicht wie mit Impfungen, betont Professor Thomas Mertens im Interview. Der neue STIKO-Vorsitzende setzt bei neuen Empfehlungen auf Transparenz – um so auch Impfgegner zu erreichen.

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Windpocken: Für die meisten Kinder eine unnötige Quälerei, für manche ein schweres Krankheitsrisiko.

Windpocken: Für die meisten Kinder eine unnötige Quälerei, für manche ein schweres Krankheitsrisiko.

© Per Boge / fotolia.com

Das Interview führt Wolfgang Geissel

Ärzte Zeitung: Manche Menschen in Deutschland haben Vorbehalte gegen Impfungen. Wie lassen sich die Skeptiker überzeugen?

Professor Thomas Mertens: Den Skeptikern muss man entgegenhalten, dass Impfen genial die natürlichen Abwehrmechanismen des menschlichen Körpers nutzt. Die "menschlichen" Pocken wurden damit ausgerottet, gefährliche Krankheiten wie Kinderlähmung, Diphtherie und Tetanus weitgehend zurückgedrängt. Mit kaum einer anderen Maßnahme hat man in der Medizin so viel erreicht.

Professor Thomas Mertens

"Fake News halten sich im Internet hartnäckig"

© Simon Haas / Schwäbische Zeitung

Aktuelle Position: Der Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Ulm wurde Mitte März zum neuen Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (STIKO) gewählt.

Ausbildung: Der 67-Jährige hat von 1968 bis 1977 in Köln und Bonn Medizin studiert und sich 1984 als Virologe habilitiert.

Werdegang: Von 1976 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter und bis 1991 Professor am Institut für Virologie in Köln. Ab 1991 Professor an der Uniklinik Ulm und ab 1998 Leiter des dortigen Instituts für Virologie.

Weil viele Menschen wegen der Impferfolge heute diese Krankheiten nicht mehr kennen, haben die Vorbehalte gegen Impfungen aber zugenommen. Leider halten sich auch "Fake News" hartnäckig, vor allem im Internet. Dazu gehört zum Beispiel die 1998 veröffentlichte Falschmeldung, die Masern-Impfung führe zu Autismus. Hier kann man nur sachlich darüber informieren, dass dieser Verdacht in großen Studien mehrfach widerlegt wurde.

Der Ständigen Impfkommission (STIKO) wurde auch immer wieder unterstellt, die Impfstoffhersteller beeinflussten ihre Empfehlungen. Dieser Vorwurf ist seltener geworden, seit wir den anspruchsvollen Prozess der Entwicklung einer Impfempfehlung und auch mögliche Befangenheiten vollständig offenlegen.

Wie lassen sich die Impfraten verbessern? Hilft eine Impfpflicht?

Mertens: Eine Impfpflicht wäre in Deutschland eher kontraproduktiv. Dadurch würden hartnäckige Impfgegner nur zu Märtyrern aufgewertet. Auch eine indirekte Impfpflicht wie in den USA – ohne Impfschutz werden Kinder nicht in eine Schule oder einen öffentlichen Kindergarten aufgenommen – wäre in Deutschland kaum durchsetzbar. Die problematischsten Impflücken etwa bei Masern gibt es bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, da würde eine Impfpflicht für Kinder gar nicht helfen. Gezielte Impfprogramme in diesen Altersgruppen werden in Deutschland durch das föderale System erschwert. Gesundheit ist Ländersache, und da gibt es unterschiedliche Vorstellungen zur konkreten Durchführung von Impfungen. Leider haben wir auch keinen "Surgeon General" wie in den USA, der mit einer Stimme alle Belange der öffentlichen Gesundheit gegenüber der Bundesregierung und der Öffentlichkeit vertritt.

Für bessere Impfraten in Deutschland müsste es noch mehr öffentliche Kampagnen geben, etwa von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Auch sollten es alle niedergelassenen Ärzte als ihre Pflicht verstehen, bei jedem Patienten den Impfschutz abzuklären und Impflücken zu schließen. Dies muss natürlich auch im Medizinstudium verankert werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und die "Stiftung Warentest" haben in den letzten Jahren eigene Impfempfehlungen veröffentlicht. Wie steht die STIKO dazu?

Mertens: Darüber sind wir nicht glücklich. Die STIKO hat als einzige Kommission in Deutschland einen gesetzlichen Auftrag zur Erstellung von Impfempfehlungen. Wir prüfen sehr sorgfältig für jede Impfung alle verfügbaren wissenschaftlichen Daten.

Natürlich ist Kritik an unserer Arbeit immer möglich und wir setzten uns auch damit auseinander. Es ist aber nicht hilfreich, wenn kleine Expertengruppen ohne systematisch erhobene Evidenz abweichende Empfehlungen veröffentlichen. Das behindert die Umsetzung von Impfempfehlungen, weil nicht mit einer Stimme gesprochen wird.

Wie entstehen denn überhaupt die STIKO-Empfehlungen?

Mertens: Wir haben uns in den letzten zehn Jahren die wahrscheinlich weltweit strengsten Arbeitsregeln vorgegeben. Aufgrund dieser sogenannten "standard operating procedures" (SOP, im Internet zugänglich) werden im Vorfeld jeder neuen Empfehlung alle verfügbaren Daten zu Wirksamkeit, Verträglichkeit und Effektivität einer Impfung analysiert. Hinzu kommen Informationen zur Epidemiologie und nationalen Bedeutung der Krankheit, gegen die geimpft werden kann. Das ist wegen der häufig dünnen Datenbasis in Deutschland gelegentlich ein Problem.

Ist das alles zusammengetragen, kommen auch gesundheits-ökonomische Betrachtungen hinzu: Wieviel kostet es, mit einer Impfung einen Krankheitsfall zu verhindern? Hierzu wird die "number needed to vaccinate" (NNV) ermittelt. Und schließlich muss eruiert werden, ob und wie eine neue Impfung in den Impfkalender integriert werden kann.

Für ein ehrenamtliches Gremium wie die STIKO ist das eine sehr aufwändige Aufgabe, die nur durch die große Unterstützung der Geschäftsstelle am Robert Koch-Institut (RKI) möglich wird. Allein die Sichtung der Daten für einen neuen Impfstoff kann einen Experten leicht ein halbes Jahr beschäftigen.

Ist die Versorgung mit Impfstoffen in Deutschland gewährleistet?

Mertens: Die Konzentration von Unternehmen in der pharmazeutischen Industrie begünstigt gefährliche Engpässe, nicht nur bei Impfstoffen. Kürzlich wurde zum Beispiel berichtet, dass es für ein essenzielles Antibiotikum weltweit nur noch drei Produktionsstätten gibt. Wenn dann eine Charge wegen eines Problems in der Herstellung ausfällt, kann es schnell zu Lieferengpässen kommen.

Die STIKO bemüht sich, in einer solchen Situation soweit möglich zeitnah alternative Empfehlungen zu geben. Manchmal kann ein Impfstoff aber trotz Lieferengpass etwa bei Großhändlern oder in einer Apotheke doch noch beschafft werden. Mehr Informationen über die Lagerbestände in der Lieferkette von Impfstoffen wären daher wünschenswert.

Mit welchen Impfungen wird sich die STIKO als Nächstes befassen?

Mertens: Die hohen Anforderungen und die begrenzte Kapazität machen eine Priorisierung unumgänglich – "Schnellschüsse" sind nicht möglich. Zu nennen ist zum Beispiel die Impfung gegen Humane Papillomaviren (HPV) für Jungen. Hier ist zum Beispiel die "number needed to vaccinate" nicht leicht zu bestimmen, weil das Infektionsrisiko von Jungen ja durch die Impfung der Mädchen kontinuierlich sinkt. Das macht es komplex, abzuschätzen wie viel man investieren muss, um hier einen additiven Schutz zu erreichen.

Weitere Themen sind die Meningokokken-B-Impfung von Säuglingen oder die Impfung gegen Zoster.

Sehr interessant ist ein neuer rekombinanter Impfstoff gegen Herpes zoster, der allerdings in Deutschland noch nicht zugelassen ist. Dieser hat sich in Studien als erstaunlich wirksam vor allem auch bei alten Menschen erwiesen.

Der neue Impfstoff kann zudem – im Gegensatz zu dem verfügbaren konventionellen Lebendimpfstoff – auch bei Patienten mit Immunsuppression eingesetzt werden. Für solche Patienten wäre einen Zoster-Schutz besonders wichtig.

Wogegen bräuchten wir dringend neue Impfstoffe?

Mertens: Wichtig wäre vor allem ein wirksamerer Grippe-Impfstoff. Der Schutz sollte nicht mehr abhängig von den gerade zirkulierenden Virus-Subtypen sein. Der Impfstoff sollte zudem langfristig eine gute T-Zell-Immunität hervorrufen und eine gute Gesamtwirksamkeit haben. Hierzu gibt es zwar vielversprechende Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung. Bisher ist aber kein solcher Impfstoff in der klinischen Entwicklung.

Weil es jährlich mehrere Tausend influenza-assoziierte Todesfälle in Deutschland gibt, müssen wir also die moderat wirksame konventionelle Impfung noch weiter propagieren. Sie ist das Beste, was wir haben.

Natürlich bräuchten wir außerdem dringend wirksame Impfstoffe gegen HIV, Tuberkulose und Malaria. Hier hat es trotz jahrzehntelanger Forschung kaum Fortschritte gegeben. Neue Herausforderungen sind Infektionen mit Zika- und Dengue-Viren, deren rasante Ausbreitung nur durch Impfungen gestoppt werden könnte.

Auch gegen Hepatitis C wäre ein Impfstoff wünschenswert. Bei chronischer Infektion gibt es zwar inzwischen wirksame Therapien. Grundsätzlich ließe sich die Krankheit aber weltweit nur durch einen Impfstoff eindämmen.

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Kommentare
Angelika Nothum 13.04.201716:23 Uhr

Handeln und haften...

...sollte man nicht trennen. Wäre kein radikaler, aber ein konsequenter Ansatz, wenn Impfgegner im nachgewiesenen Schadensfall für ihre Behandlung oder die ihrer Kinder aufkommen müssten. Wenigstens bei einigen Krankheiten, die völlig unstrittig durch die Impfung hätten verhindert oder deren Schweregrad erheblich hätte reduziert werden können (Masern, Keuchhusten z. B.). Bei uns im Kindergarten gibt es auch einige Muttis, die gar nicht oder nur selektiv impfen, alles zum Thema Impfung meinen zu wissen und eine fast religiöse Haltung zu dem Thema einnehmen. Die sehen sich schon ohne Impfpflicht als Märtyrer der Gesellschaft und des medizinischen Systems, wenn sie im Krankheitsfall mit dem Nachwuchs nur noch unterwegs sind für die "Sache". Vielleicht vergeht denen die Lust auf ihre Ideologie, wenn sie die Krankenhausrechnung für die stationäre Behandlung z. B. bei einer Masernkomplikation selbst begleichen müssen. Oder bereits einen anderen Tarif bei ihrer Krankenkasse erhalten, bei dem Folgeschäden des Nicht-impfens verrechnet sind. Menschen ändern sich nie, es sei denn, etwas tut ihnen sehr weh. Ob alle immer das Beste für ihre Kinder wollen, sei dahin gestellt. Es gibt aber keinen Grund, warum der Sozialverband unserer Gesellschaft, deren Mitglieder durch die Impfgegner gefährdet werden, für deren Schäden auch noch aufkommen soll.

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