Neue Leitlinie

Freie Fahrt für fast alle Diabetiker

Eine neue Leitlinie hilft Ärzten, die Fahrtauglichkeit ihrer Diabetes-Patienten zu beurteilen. Hohe Blutzuckerwerte sind dabei nicht zwangsläufig ein K.o.-Kriterium.

Anno FrickeVon Anno Fricke und Marco Hübner Veröffentlicht:

Dank einer neuen Leitlinie bleiben Diabetiker künftig häufiger im Rennen.

BERLIN. Das Thema Diabetes und Straßenverkehr gerät immer dann in den Fokus der Öffentlichkeit, wenn es kracht - so wie im September 2012.

Damals verunglückte der Fußballprofi Boris Vukcevic mit seinem Auto schwer. Der Diabetiker war plötzlich unterzuckert. Solche Nachrichten führen zu falschen Annahmen und sozialen Risiken für Diabetiker.

Ereignisse wie das geschilderte seien Ausnahmen, berichtete Dr. Reinhard Holl, Epidemiologe an der Universität Ulm, bei der Vorstellung der Leitlinie "Diabetes und Straßenverkehr" vom Niveau 2e (evidenzbasiert) am Donnerstag in Berlin.

Die Annahme auch von Diabetologen und Diabetesberatern sei falsch, Menschen unter Insulintherapie könnten nicht mehr als Bus- oder Lkw-Fahrer arbeiten. Nach allen verfügbaren Untersuchungen, sei die Unfallhäufigkeit bei Menschen mit Diabetes nur unwesentlich erhöht.

In der Leitlinie selbst angeführte Daten aus den USA gehen davon aus, dass das Unfallrisiko bei Diabetikern zwischen 1,12- bis 1,19-fach höher liege als das der Allgemeinbevölkerung.

Bei Menschen mit dem Schlaf-Apnoe-Syndrom liegt das Risiko demnach um das 2,4-fache über dem Normalwert, bei Menschen mit ADHS-Syndrom um das 4,4-fache.

Jährlich werden in Deutschland 40.000 Führerscheine eingezogen

Nach Angaben der DDG ist in Deutschland schätzungsweise jeder zehnte Führerscheininhaber ein Diabetiker, fast sechs Millionen Diabetespatienten in Deutschland besitzen einen Führerschein.

Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) führt keine Statistik darüber, wie viele Führerscheine wegen Diabetes entzogen werden, wohl aber eine Gesamtübersicht.

Demnach werden in Deutschland im Jahr 40.000 Führerscheine ganz oder vorübergehend eingezogen. Darunter seien jedoch lediglich rund 1000 aufgrund von Erkrankungen und körperlicher Mängel.

Dr. Martina Albrecht vom BAST, selbst Ärztin, betonte, dass auch die Begutachtungsleitlinie ihrer Behörde Diabetes nicht als Ausschlusskriterium für berufliches Autofahren definiere. Die Diagnose an sich solle keine sozialen Konsequenzen zeitigen, was aber immer wieder vorkomme.

Wichtig für Ärzte: Mögliche Gründe, Diabetiker zumindest vorübergehend vom Straßenverkehr auszuschließen, sind schwere Unterzuckerungen zweimal im Jahr, Sehstörungen aufgrund von Nervenschäden und häufiger Sekundenschlaf aufgrund zu hohen Gewichts.

Ärzte können "ärztliches Fahrverbot" aussprechen

Dann könne auch der Arzt ein "ärztliches Fahrverbot" aussprechen, sagte Rechtsanwalt Oliver Ebert, Koordinator und Mitautor der Leitlinie am Donnerstag.

Das sei zwar vordergründig nicht unmittelbar rechtsverbindlich, sei in der Konsequenz aber "faktisch ein Verbot", sagte Ebert. Missachte der Patient die ärztliche Empfehlung, könne sich im Falle eines Unfalls der Strafrahmen empfindlich erhöhen.

Bislang gab es keine anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Grundsätze zur Bewertung der Fahreignung bei Diabetes. "Damit bestand eine erhebliche haftungsrechtliche Grauzone für Ärzte und Behandlungspersonal", erläuterte Ebert.

Die Leitlinie, die 188 Seiten umfasst, bedeutet für behandelnde Ärzte und medizinische Gutachter vor allem verbesserte haftungsrechtliche Sicherheit.

"Ein Arzt, der sich an diese wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen hält, muss grundsätzlich keine Haftung befürchten", versicherte Ebert.

Auch vorübergehende Fahruntauglichkeit möglich

Menschen mit Diabetes können auch vorübergehend fahruntauglich sein, hieß es. Das gelte zum Beispiel für die Einstellungsphase auf Insulin und jede weitere Therapieumstellung oder Dosisänderung, sagten die Autoren der Leitlinie.

Auf grün solle die Ampel erst wieder schalten, wenn der Blutzuckerstoffwechsel als stabil gilt.

Folgende Empfehlungen hält die Leitlinie unter anderen bereit:

» Ärzte müssen Diabetespatienten über das Hypoglykämierisiko der Therapie und Einschränkungen der Fahrsicherheit aufklären, gerade auch bei Therapieumstellungen. Das gilt nicht nur für Berufskraftfahrer, sondern auch für den Mofaführerschein oder begleitetes Fahren.

» Bei Diabetikern möglichst eine Therapieform mit geringem Hypoglykämierisiko wählen.

» Hypoglykämiewahrnehmungstraining; Therapieumstellung auf weniger hypoglykämiegefährdende Medikamente, Einsatz technischer Hilfsmittel wie Insulinpumpen; kontinuierliche Glukosemessung.

» Strukturierte Diabetesschulung; Rat, vor Fahrtantritt die Blutglukose zu messen, immer ein solches Gerät mitzuführen und Snacks griffbereit im Auto zu haben.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Leitlinien - jetzt auch sozial

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Kommentare
Dr. Gerhard Kraus 23.03.201809:23 Uhr

Ein schelmisches Bonmot - wenn es nicht so ernst gemeint wäre

"Die Leitlinie [alleine zur Fahrtauglichkeit von Diabetikern], die 188 Seiten umfasst, bedeutet für behandelnde Ärzte ... vor allem verbesserte haftungsrechtliche Sicherheit.
"Ein Arzt, der sich an diese ... Empfehlungen hält, muss grundsätzlich keine Haftung befürchten", versicherte Ebert."

Eine 188seitige Leitlinie zu einem zweifelsfrei wichtigen, aber doch Randthema der Medizin als haftungsmindernde Handlungsempfehlung für Ärzte - ein typisches Behörden-Zitat!

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