HINTERGRUND

Große Probleme mit den Zahlen - fünf Prozent der Schüler in Deutschland leiden an Dyskalkulie

Von Hans-Joachim Lukow Veröffentlicht:

Eine Rechenschwäche gibt sich nicht von selbst. Sie ist schon gar nicht durch zusätzliches Üben zu beheben. Signifikant ist eine Früherkennung am besten im 1. oder im 2. Schuljahr, um rechtzeitig gezielte Fördermaßnahmen einzuleiten. Das setzt allerdings ein spezielles Wissen über Diagnose und Behebung voraus. Aber nicht immer ist das möglich, denn es gibt auch Jugendliche, selbst auf dem Gymnasium, die an einer Dyskalkulie leiden.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bundesweit fünf Prozent der Schüler von einer Rechenschwäche betroffen. Auf eine Dyskalkulie weisen bestimmte Symptome hin. Auffällig ist, wenn Kinder immer wieder bekannte Mengen nachzählen, die mathematischen Symbole nicht begreifen. Zehner- und Hunderter-Übergänge bereiten große Probleme, aber vor allem Platzhalter-Aufgaben oder Umkehr-Operationen.

Addiert und subtrahiert wird mit Hilfe der Finger

Nahezu alle rechenschwachen Grundschüler bleiben zählende Rechner. Bei Additionsaufgaben wird oftmals mit Hilfe der Finger weitergezählt, bei Subtraktionsaufgaben werden die Finger weggeklappt. Rechenschwache Kinder zählen im Kopf (8, 9, 10, 11, 12, 13) und nehmen dabei Finger oder Stifte zu Hilfe, oder sie stellen sich Luftfinger vor.

Mit einer solchen Lösungsstrategie fallen Grundschüler bis Anfang der 2. Klasse kaum auf. Wer aber die Grundrechenarten nicht verstanden hat, der wird spätestens auf der weiterführenden Schule an der Bruchrechnung scheitern.

    Ein Katalog mit Symptomen hilft Ärzten bei der Diagnose.
   

3/10 + 2/5 = 5/15 ist ein typisches Fehlermuster, an dem erkennbar ist, daß der Bruch als ein Verhältnis von Anzahl und Teilung gänzlich unverstanden ist. In der Regel gehen solche Fehler auf ein mangelhaftes Verständnis der Division zurück.

Unter Haupt- und Realschulabsolventen ist ein hoher Anteil an rechenschwachen Jugendlichen, die schon seit Beginn ihrer Schulzeit eine Rechenschwäche aufweisen. Seltener, aber durchaus nicht ungewöhnlich, ist eine Dyskalkulie bei Kindern im Gymnasium.

Lehrer und Eltern sind zwar oft der Meinung: "Gymnasialschüler haben so etwas nicht, das ist Faulheit, Unkonzentriertheit oder doch mangelnde Begabung, das wäre doch bestimmt schon in der Grundschule aufgefallen!" Erfahrungen des Osnabrücker Zentrums für mathematisches Lernen, in der jährlich 270 Kinder mit einer Rechenschwäche lerntherapeutisch betreut werden, zeigen aber, daß auch in höheren Schulformen Dyskalkulie durchaus vorkommt.

Rechenschwache Kinder sind oft sehr fleißig und lernstark

Die fast zehnjährige Erfahrung mit rechenschwachen Kindern spricht eine deutliche Sprache. Gerade wenn ein Kind sehr lernstark ist, entwickelt es im Fach Mathematik Fleiß und Kompensationsstrategien, lernt vieles auswendig, ohne die Logik der Mathematik zu erfassen.

Gerade überdurchschnittliche Konzentrationsleistungen weisen auf Rechenschwäche hin, wenn am Ende der Grundschulzeit noch ein "Befriedigend" im Zeugnis erscheint. Die Fehlleistungen beim Rechnen werden oft von Außenstehenden, selbst von Lehrern, als "Blackout" interpretiert. Die Schüler wissen genau, was zählt.

Nicht nur Lehrer, auch Kinder- und Jugendärzte sowie Allgemeinmediziner sind häufig mit den psychischen und den psychosomatischen Folgesymptomen einer Rechenschwäche befaßt.

"Teilleistungsstörungen, aber auch Übergewicht und Störungen des Sozialverhaltens haben bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren deutlich zugenommen", so Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

"Sie können die Schullaufbahn sowie das gesamte spätere berufliche und soziale Leben negativ beeinflussen. Das bisherige Vorsorgeprogramm, das aus zehn Früherkennungsuntersuchungen besteht, reicht inhaltlich und quantitativ heute nicht mehr aus, diese Störungen frühzeitig zu erkennen und entsprechende Hilfen einzuleiten. Wir benötigen zusätzliche Vorsorgeuntersuchungen im Grundschulalter, wie sie vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte entwickelt worden sind, und ein ausreichendes Angebot an Hilfsmöglichkeiten vor Ort."

Gerade die U10-, die JGU- und die J1-Untersuchung (Vorsorgeuntersuchung für Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren), zu der viele Jugendliche ohne die Begleitung der Eltern hingehen, gäben Kinder- und Jugendärzten eine gute Möglichkeit, verstärktes Augenmerk auf Auswirkungen und Symptome von Lernschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu werfen.

Lernschwierigkeiten können zu Depressionen führen

Dringend Hilfe benötigen Kinder oder Jugendliche, wenn sie unter Schulängsten, Aggressivität oder häufig Depressionen leiden oder Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen haben, die oftmals auch Auswirkung von Lernschwierigkeiten sind.

Da sich eine Rechenschwäche nicht "auswächst", sind Symptome, wie sie in der Grundschule auftreten, auch in den weiterführenden Klassen zu finden. Ein Symptomkatalog für Grundschüler, aber auch für Schüler höherer Klassen (bis Klasse 10) ist vom Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung herausgegeben worden.

Dieser Katalog macht Ärzten ein Screening möglich, bei dem der mathematische Bereich sowie Auffälligkeiten im Lernverhalten erfaßt werden.

Der Symptomfragebogen für Grundschüler sowie für Schüler der Klassen 5 - 10 kann kostenlos im Internet unter www.arbeitskreis-lernforschung.de heruntergeladen werden.

Weitere Infos gibt es auf der Website www.os-rechenschwaeche.de.



ZUR PERSON

Hans-Joachim Lukow ist Leiter des Osnabrücker Zentrums für mathematisches Lernen (Rechenschwäche - Dyskalkulie). Außerdem ist er Mitglied im Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung gGmbH.

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