Minderjährige
Hohes Suizidrisiko nach Selbstverletzung
Selbstverletzungen deuten auch bei Kindern und Jugendlichen auf ein hohes Suizidrisiko hin. Im ersten Jahr nach einer solchen Tat ist die Suizidgefahr rund 30-fach gesteigert. Und das bleibt es noch länger.
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Ritzen und andere Selbstverletzungen – ein Warnsignal für ein erhöhtes Suizidrisiko.
© Robert Schlesinger / dpa
Das Wichtigste in Kürze
- Frage: Wie hoch ist die Suizidrate nach einer stationären Aufnahme aufgrund einer Selbstverletzung bei Minderjährigen?
- Antwort: Die Suizidinzidenz ist im ersten Jahr 30-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung und bleibt anschließend konstant hoch.
- Bedeutung: Nach Selbstverletzung sind Kinder und Jugendliche besonders suizidgefährdet und sollten daher eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erhalten.
- Einschränkung: Nur wenige Suizide erfasst, Daten basieren auf wenigen Zentren.
Oxford. Absichtlich herbeigeführte Verletzungen und Vergiftungen sind ein wichtiger Hinweis auf ein hohes Suizidrisiko. Darauf deuten mehrere aktuelle Untersuchungen bei Jugendlichen als auch Erwachsenen.
So unternehmen nach einer 2019 veröffentlichten Analyse vor allem jene Heranwachsenden Suizidversuche, die neben Suizidgedanken auch Selbstverletzungen in der Vorgeschichte aufweisen – Selbstverletzungen sind dann ein Hinweis, dass die Betroffenen es mit ihren suizidalen Absichten ernst meinen.
In einer weiteren Untersuchung konnte ein Team um Dr. Galit Geulayov vom Suizidforschungszentrum der Universität Oxford anhand von Angaben der „Multicentre Study of Self-harm in England“ nachweisen, dass das Suizidrisiko innerhalb von einem Jahr nach einer Selbstverletzung am höchsten ist.
Hier war die Rate im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 56-fach, bei Personen über 55 Jahren sogar 190-fach erhöht. Berücksichtigt wurden für die Untersuchung Personen über 14 Jahre, die in fünf britischen Kliniken aufgrund von Selbstverletzungen aufgenommen worden waren.
Nun haben die Forscher um Geulayov Angaben aus der Studie speziell für Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren ausgewertet: Auch in dieser Altersgruppe ist die Suizidgefahr im ersten Jahr nach einer Selbstverletzung drastisch erhöht, und zwar um den Faktor 30. Allerdings geht das Suizidrisiko in den Folgejahren nicht wesentlich zurück (Lancet Child Adolesc Health 2020; online 9. Januar).
Für ihre Analyse durchforsteten die Wissenschaftler Angaben zu knapp 9200 Kindern und Jugendlichen, dies sich in den Jahren 2000 bis 2013 selbst körperlich verletzt oder vergiftet hatten. Knapp drei Viertel waren Mädchen, ein ähnlich hoher Anteil war zwischen 16 und 18 Jahre alt.
Fast die Hälfte der Todesfälle durch Suizid
Bis Ende 2015 waren 55 Jungen (2,3 Prozent) und 69 Mädchen (1,0 Prozent) gestorben. Die altersadjustierte Sterberate bei Jungen war 2,5-fach höher als bei Mädchen.
55 Todesfälle (44 Prozent) ließen sich auf Suizide zurückführen, 26 bei Jungen und 29 bei Mädchen. Von den Suizidopfern hatte sich rund ein Viertel noch im Jugendalter getötet, die übrigen waren zum Todeszeitpunkt bereits erwachsen. Die Suizidopfer töteten sich hauptsächlich durch Erhängen und Ersticken, zehn durch Vergiften.
Acht der Studienteilnehmer begingen innerhalb eines Jahres nach der Selbstverletzung Suizid, daraus berechneten die Forscher eine 30-fach erhöhte Suizidinzidenz bei Minderjährigen mit Selbstverletzungen.
Diese Inzidenz blieb über die ersten zehn Jahre nach einer Selbstverletzung weitgehend konstant, sodass auch lange nach einer Selbstverletzung noch von einer erhöhten Suizidgefahr auszugehen ist. In absoluten Zahlen war die Suizidrate mit rund 1 Prozent bei Jungen und 0,5 Prozent bei Mädchen über den gesamten Studienverlauf hinweg aber dennoch gering.
Methode der Selbstverletzung wohl prädiktiv
Besonders suizidgefährdet nach Selbstverletzungen scheinen Jungen zu sein – bei ihnen ist die Suizidrate nach diesen Daten mehr als doppelt so hoch wie bei Mädchen. Ähnliches lässt sich für ältere Jugendliche (16 bis 18 Jahre) sagen sowie solche, die mehrfach aufgrund von Selbstverletzungen in eine Klinik müssen.
Prädiktiv ist offenbar auch die Selbstverletzungsmethode: Nach Gewalteinwirkungen wurde deutlich häufiger ein Suizid beobachtet als nach Vergiftungen.
Schließlich deuten die Daten auch auf ein erhöhtes Risiko durch einen Unfalltod nach einer Selbstverletzung. Viele der tödlichen Unfälle geschahen unter Drogeneinfluss.
Minderjährige brauchen nach einer Selbstverletzung eine besonders intensive Betreuung. Dabei sollte auch der Substanzabusus berücksichtigt werden, folgern die Suizidforscher.