Spontanremissionen -- immer noch ein Stiefkind der Forschung
Spontanremissionen und Spontanheilungen bei Krebs sind seltene, aber keinesfalls ausgeschlossene Ereignisse. Es handelt sich um günstige Wendungen einer malignen Erkrankung ohne Therapie oder unter einer Behandlung, die eine solche günstige Wendung nicht erwarten läßt. Obwohl die Entschlüsselung der zugrundeliegenden Mechanismen Modell für gezielte Therapien stehen könnte, existiert bislang keine systematische Erforschung solcher Phänomene.
Die meisten Spontanremissionen seien auf nur wenige Tumorarten wie das Melanom beschränkt, so der niedergelassene Onkologe Dr. Herbert Kappauf aus Starnberg im Gespräch mit Werner Stingl, Mitarbeiter der "Ärztlichen Allgemeinen". Spontanremissionen seien ein Stiefkind der Forschung. Es gebe in Deutschland dazu keine systematische Forschung und noch nicht einmal eine systematische Erfassung von Patienten mit Spontanremissionen.
Ärztliche Allgemeine: In welcher Häufigkeit ist in der Onkologie mit Spontanremissionen und tatsächlichen Spontanheilungen zu rechnen?
Kappauf: Genaue Zahlen gibt es nicht. Die in der Literatur immer wieder zu findende Spontanremissionsquote von einem Ereignis auf 60 000 bis 100 000 Erkrankungen ist eine reine und zudem differenzierungspflichtige Schätzung. Denn die Mehrheit aller Spontanremissionen findet sich bei einigen wenigen Tumorarten, etwa dem Melanom, niedrig malignen Lymphomen und Nierenzellkarzinomen.
Spontanremissionsraten bewegen sich hier bis in den einstelligen Prozentbereich hinein, während bei vergleichsweise häufigen Krebsformen wie dem Kolon- oder dem Bronchialkarzinom die Spontanremissionsraten sogar deutlich unter eins zu 100 000 liegen dürften. Warum gerade Melanome, Nierenzellkarzinome und maligne Lymphome eher zu Spontanremissionen neigen, dürfte daran liegen, daß es sich hierbei um immunogene Krebserkrankungen handelt, die durch endogene immunologische Abläufe stärker beeinflußt werden als andere, nicht oder weniger immunogene Tumoren.
Ärztliche Allgemeine: Unterscheiden sich Spontanremission und Spontanheilung?
Kappauf: Ja, Spontanremission ist keineswegs mit Spontanheilung gleichzusetzen. Die Mehrzahl aller Spontanremissionen mündet nicht in eine dauerhafte Spontanheilung, sondern das maligne Geschehen rezidiviert früher oder später.
Ärztliche Allgemeine: Wie oft haben Sie persönlich bisher Erfahrungen mit "verwunderlichen" Krankheitsverläufen gemacht? Haben Sie ein Beispiel?
Kappauf: Ich sehe oft, daß Patienten auf eine konventionelle, studiengeprüfte effektive Therapie überdurchschnittlich bis überraschend gut ansprechen und etwa weit länger als statistisch zu erwarten krankheitsfrei überleben. Mediane Überlebenszeit bedeutet ja nichts anderes als: 50 Prozent der Patienten leben länger. Wenn Sie aber mit Ihrer Frage auf offensichtliche Spontanremissionen abzielen, habe ich mit etwa 15 betroffenen Patienten gesprochen und bei vielleicht fünf eigenen Patienten ein solches Ereignis erfahren.
Ärztliche Allgemeine: Welches Ereignis hat Sie am meisten beeindruckt?
Kappauf: Das beeindruckendste Erlebnis war Ende der 80er Jahre ein Patient mit Lungenmetastasen eines Nierenzellkarzinoms. Da der Patient subjektiv beschwerdefrei war und es damals keine effiziente Therapie gegen diese Metastasen gab, einigte ich mich mit dem Patienten auf eine abwartende Strategie mit Kontrolluntersuchungen alle drei bis vier Monate. Die Lungenherde waren bis zum ersten Nachkontrolltermin noch gewachsen.
Beim nächsten Termin konnten sie aber nicht mehr nachgewiesen werden. Der Patient ist dann ein Jahr später an einer neu hinzu getretenen Hirnmetastase gestorben, obwohl die früheren Lungenmetastasen weiterhin nicht mehr nachweisbar waren. Dieses beeindruckende und dennoch tragische Beispiel macht aber auch deutlich, daß Spontanremissionen keineswegs mit Spontanheilungen gleichzusetzen sind.
Ärztliche Allgemeine: Könnte es sein, daß sich eine relevante Zahl von Spontanremissionen oder gar Spontanheilungen hinter vermeintlichen iatrogenen Therapieerfolgen versteckt?
Kappauf: Die Rate an Spontanremissionen, die sich möglicherweise hinter einer erwiesenermaßen effizienten onkologischen Therapie versteckt, dürfte statistisch kaum relevant sein. Skeptisch wäre ich hier eher bei vermeintlichen Einzelerfolgen unkonventioneller Therapiemethoden. So manches, was auf die Fahne einer naturwissenschaftlich unplausiblen Außenseitermethode geschrieben wird, ist wohl in Wirklichkeit eine Spontanremission. Dieser Verdacht drängt sich um so mehr auf, wenn der scheinbar spektakuläre Einzelerfolg - wie so oft - nicht reproduzierbar ist.
Ärztliche Allgemeine: Ist es möglich, daß eine nennenswerte Rate von malignen Erkrankungen unbemerkt wieder abheilt, noch bevor diese Erkrankungen überhaupt diagnostiziert worden sind?
Kappauf: Daß ein manifest gewordenes und prinzipiell nachweisbares malignes Geschehen wieder spontan ausheilt, bevor es diagnostiziert wird, kommt meines Erachtens nur bei bestimmten Formen des Neuroblastoms von Säuglingen und Kleinkindern in nennenswertem Umfang vor.
Ärztliche Allgemeine: Wäre etwa mit Blick auf Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie vorstellbar, daß der Schock und die psychologische Langzeitbelastung einer malignen Diagnose Spontanremissionstendenzen behindern?
Kappauf: Ich glaube nicht. Denn wir wissen aus psychoonkologischen Studien, daß andere extreme psychische Belastungssituationen, wie der Tod eines Kindes oder Ehepartners, weder mit einer erhöhten Krebsinzidenz einhergehen noch statistisch signifikant die Prognose einer bestehenden Krebserkrankung verändern.
Ärztliche Allgemeine: Gibt es Untersuchungen zu Spontanremissionen von Tumoren bei Tieren?
Kappauf: Zumindest sind mir keine bekannt. Ohnehin wäre aber die Übertragbarkeit entsprechender Daten aus der Veterinär- auf die Humanmedizin zweifelhaft, da meines Wissens bei Tieren immunogene und damit auch potentiell spontanremissionsfreudigere Tumoren eine weit größere Bedeutung haben als bei Menschen.
Ärztliche Allgemeine: Wie intensiv beschäftigt sich denn die humanmedizinische onkologische Forschung derzeit mit Spontanremissionen und -heilungen?
Kappauf: Eher wenig. Genaugenommen gibt es hierzu keine systematische Forschung, und es gibt nicht einmal eine systematische Erfassung von Spontanremissionen. Denn auch Registraturen kosten Geld. Man glaubt offensichtlich, daß solche Gelder in anderen Forschungsbereichen besser angelegt sind. Warum Spontanremissionen ein Stiefkind der Forschung sind, hat meines Erachtens zwei wesentliche Gründe. Zum einen sind Spontanremissionen insgesamt zu selten, um mit ihnen kalkulieren zu können.
Wer Forschungsgelder beantragt, muß aber einen Plan mit einer zeitlich eng begrenzte - üblicherweise auf zwei Jahre befristeten - Ergebnisprognose abliefern. Und selbst bei den wenigen Krebsarten mit einer nennenswerten Spontanremissionsrate verbietet die zunehmende Verfügbarkeit wenn auch oft noch nicht optimaler, so doch zumindest effektiver Therapien eine gezielte Forschung. Wir können und sollten uns es schlichtweg nicht erlauben, zu Forschungszwecken auf spontane Remissionen zu warten, wenn wir bereits ein Mittel haben, das die Remissionschance erhöht.
Ärztliche Allgemeine: Hat das begrenzte Wissen von möglichen Mechanismen der Spontanremission bereits Auswirkungen auf die Therapie?
Kappauf: Die gesamte onkologische Immuntherapie, vor allem auch die Zytokinforschung, wurde durch Beobachtungen von Spontanremissionen induziert. Und auch die antihormonelle Therapie etwa beim Mamma-Karzinom konnte entwickelt werden, weil in Zeiten eines hormonellen Umbruchs, etwa im Wochenbett oder mit Eintritt in die Menopause öfters spontane Remissionen beobachtet worden waren. Umgekehrt liefert aber auch die onkologische Grundlagenforschung - etwa zur Antiangiogenese - Ansätze, um die eine oder andere Spontanremission besser zu verstehen.
Im Zusammenhang mit der körpereigenen Krebsbekämpfung und was man davon therapeutisch lernen kann, sollte man den Blick aber nicht nur auf Spontanremissionen fokussieren. Mindestens ebenso interessant sind mehrere endogene Kontrollmechanismen, etwa eine balancierte Apoptose, die den Organismus in die Lage versetzen, eine begonnene Zellentartung oder Mikrometastasen eines bereits chirurgisch entfernten Primärtumors jahrzehntelang in Schach zu halten.
Dr. Herbert Kappauf ist niedergelassener Onkologe in Starnberg. Seine Erfahrungen mit Spontanheilungen und -remissionen hat er in seinem Buch "Wunder sind möglich" (Herder-Verlag Freiburg) niedergeschrieben.