Health and Retirement Study
Überlebensvorteil bei Übergewicht nur ein Trugschluss?
Übergewicht ist ein kardiovaskulärer Risikofaktor, doch wer schon eine kardiovaskuläre Erkrankung hat, lebt länger, wenn er deutlich mehr auf den Rippen hat? Dieses immer wieder gern zitierte "Adipositas-Paradox" gibt es vielleicht doch nicht.
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Schützt mehr Bauchumfang, wenn bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung vorliegt?
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NEW YORK. Das "Obesity Paradox" ist möglicherweise nicht so paradox wie es erscheint. Diese These vertreten Public Health-Experten um die Ärztin und Soziologin Dr. Virginia Chang von der New York University. Für ihre Analyse haben die Wissenschaftler Daten der US-amerikanischen Health and Retirement Study ausgewertet, eine mehr als 30.000 Teilnehmer starke, nationale, bevölkerungsrepräsentative Kohorte von US-Amerikanern jenseits der 50, die in mehreren Wellen seit 1992 läuft (PLOS ONE 2017; online 7. Dezember). Die aktuelle Analyse bezieht sich auf insgesamt zehn Wellen zwischen 1992 und 2010 mit Mortalitätsdaten bis 2012.
Nur auf den ersten Blick paradox
Untersucht wurde der Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Sterblichkeit bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, wobei die Wissenschaftler hier zwei Gruppen bildeten. Sie unterschieden zwischen Patienten, bei denen bereits bei Studieneinschluss die Diagnose einer kardiovaskulären Erkrankung bekannt war und solchen Studienteilnehmern, bei denen erst nach Studienaufnahme eine kardiovaskuläre Erkrankung diagnostiziert worden war.
Hierbei zeigten sich interessante Unterschiede. Im Einklang mit dem Adipositas-Paradox hatten Patienten mit vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung und einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m2 im Vergleich zu normalgewichtigen Menschen mit vorbestehender Herz-Kreislauf-Erkrankung eine signifikant geringere Sterblichkeit. Die Risikoreduktion lag bei knapp 30 Prozent für Tod durch Herzinfarkt, bei 20 Prozent für Tod durch Schlaganfall und bei 36 Prozent für Tod durch Herzinsuffizienz. Auch übergewichtige Menschen (BMI 25–30 kg/m2) hatten beim Endpunkt Herzinfarkt einen Überlebensvorteil gegenüber Normalgewichtigen, nicht dagegen bei Schlaganfall und Herzinsuffizienz. Diese Quoten stehen im Einklang mit anderen Kohorten, an denen das Adipositas-Paradox untersucht worden war.
Hinweise für relevanten Bias
Interessant sind die Daten zu den Patienten mit neu diagnostizierten Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hier ließen sich die geschilderten Zusammenhänge nicht nachweisen. Es gab teils noch numerische Vorteile für die geringgradig adipösen Patienten im Vergleich zu Normalgewichtigen. Aber bei keinem einzigen kardiovaskulären Ereignistyp wurde die statistische Signifikanz erreicht. Bei den nur übergewichtigen Probanden gab es lediglich bei der Herzinfarkt-Mortalität einen signifikanten Vorteil gegenüber Normalgewichtigen. Und bei Adipositas Grad II/III war die Sterblichkeit teils signifikant höher, was bei den Patienten mit prävalenter Herz-Kreislauf-Erkrankung so nicht nachweisbar war.
Ziel der Trennung zwischen Patienten mit prävalenter und mit inzidenter Herz-Kreislauf-Erkrankung sei es gewesen, Störgrößen zu reduzieren, die das Ergebnis von Analysen zum Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Sterblichkeit verfälschen könnten, so Chang in ihrer Publikation. Insbesondere zwei Punkte seien bei Sterblichkeitsanalysen auf Basis prävalenter Erkrankungen problematisch, der Gewichtsverlust und das "selektive Überleben". Sie führten möglicherweise zu einem Bias, der in der Vergangenheit als "Adipositas-Paradox" fehlinterpretiert wurde.
So gehen kardiovaskuläre Erkrankungen regelmäßig mit Gewichtsverlust einher. Wenn die Sterblichkeit bei Patienten mit schon bekannter kardiovaskulärer Erkrankung ermittelt wird, ist es also durchaus plausibel, dass dünnere Menschen früher sterben: Das niedrigere Gewicht könnte schlicht ein Zeichen einer weiter fortgeschrittenen Erkrankung sein.
Der Bias durch "selektives Überleben" geht in die entgegengesetzte Richtung: Er würde im konkreten Fall besagen, dass übergewichtige Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankung in den frühen Phasen der Erkrankung eher sterben. Jene, die übrig bleiben und die bei prävalenzbasierten Querschnittsuntersuchungen dominieren, sind dann die "fitten Adipösen" und als solche nicht direkt mit den Normalgewichtigen vergleichbar.
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