Der standpunkt
Vernebelte Glaskugel

Dr. Angela Speth ist Redakteurin im Ressort Medizin. Schreiben Sie der Autorin: angela.speth@springer.com
© Michaela Illian
Auch EHEC ist eine Metapher. Nicht nur der Krebs, den die amerikanische Essayistin Susan Sontag 1978 in ihrem Buch "Krankheit als Metapher" trotz des allgemeinen Titels im Blick hatte. Darin wehrt sie sich gegen die moralische Last, die den Kranken aufgebürdet wird. Aus eigener Erfahrung kannte sie die mehr oder weniger unterschwelligen Vorwürfe, Krebspatienten hätten ihr Elend selbst verschuldet, etwa weil sie ihre Gefühle in sich hineinfräßen. Wahlweise fettiges Essen.
So eine Metapher ist EHEC auch. Eine Metapher dafür, dass solche "albernen und gefährlichen" Anschuldigungen immer noch lebendig sind. Nur dass sie jetzt auf Institutionen zielen. Und ausgesprochen rüde daherkommen. Schwere methodische Fehler, die nicht mal Anfängern unterlaufen, blaffte ein Hygieniker. Auch aufs Robert Koch-Institut prasselten Schmäh-Pfeile. Und zwei Drittel der Bundesbürger bemängelten zuwenige Infos - oder zuviele.
Mit Ameisenfleiß jedenfalls kämpften sich die Verantwortlichen durch diese schwerste Lebensmittelinfektion seit Jahrzehnten: Behördenmitarbeiter wühlten wie Detektive im Müll, warnten schon beim Hauch eines Verdachts vor Gurken und Sprossen. Forscher präsentierten im Handumdrehen Test und Genom des Keims. Ärzte und Pflegekräfte betreuten die Patienten nach allen Regeln der Kunst. Und doch soll alles, womit ein hochtechnisiertes Land nur auffahren kann, derart mickrig gewesen sein?
Auf jede Katastrophe - ob Erdbeben, Kernschmelze oder Epidemie - folgt solche Polemik so stereotyp, dass man die Uhr danach stellen kann. Im Grunde gipfelt sie in der widersinnigen Frage: Warum habt Ihr das Unvorsehbare nicht vorhergesehen? Auch das eine Metapher: für die Unfähigkeit anzuerkennen, dass der Mensch, der auf seinen hellen Kopf und schlauen Verstand so stolz ist, das Chaos doch nicht steuern, Gesundheit für alle doch nicht aus dem Ärmel zaubern kann. Gewiss, nach dem Motto "Fehler sind unsere Freunde" ist Manöverkritik wichtig, um für die nächste Krise zu lernen. Nur dass dann alles wieder ganz anders ist ...