Präventionsangebot
Eine „Ratschkasse“ gegen die Einsamkeit
Mit der Corona-Pandemie hat die Einsamkeit der Menschen zugenommen. Das kann krank machen. Kleine Plaudereien in einem Allgäuer Supermarkt sollen Abhilfe schaffen.
Veröffentlicht:Buxheim. „Mein Eindruck ist: Während der Corona-Pandemie wurden die Menschen immer einsamer, verstockter und verschlossener“, erzählt Ilka Abröll-Groiß. Glücklich ist sie darüber nicht und blickt auf die zunehmende Einsamkeit ihrer Mitbürger mit Sorge. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die 57-jährige Betriebswirtin im Unterallgäu vier inhabergeführte Edeka-Supermärkte. Als Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek mit der Idee einer „Ratschkasse“ gegen Einsamkeit an das Ehepaar herantrat, rannte er dort offene Türen ein. Vier Tage die Woche ist die „Ratschkasse“ im Edeka in Buxheim direkt an der Stadtgrenze Memmingens bereits seit Ende April von Montag bis Donnerstag jeweils zwei Stunden am Vormittag geöffnet.
Dass CSU-Mann Holetschek die „Edeka Abröll-Groiß KG“ für seine Projektanfrage auswählte, dürfte auch daran liegen, dass er selbst aus Memmingen stammt. Die Vorgabe: Zwölf Wochen lang soll in dem Supermarkt getestet werden, was das Projekt mit Kunden macht und für die Mitarbeiter bedeutet. Noch bis Ende Juli läuft der Pilotzeitraum, dann sollen die Supermarkt-Geschäftsführung, Angestellte wie auch Kunden dazu befragt werden. „Wenn die Ratschkasse erfolgreich war, würde ich mich freuen, wenn die Idee zahlreiche Nachahmer in Bayern findet“, erklärte damals Gesundheitsminister Klaus Holetschek in einem Presseschreiben zum Projektstart.
Blabla-Kassen in Frankreich, Kletskassa in Holland
Was im ersten Moment nach einer witzigen Idee für Plaudertaschen klingen mag, hat sich in anderen Ländern bereits als Hilfsangebot für einsame und gestresste Menschen etabliert: Unter anderem hatte die französische Supermarktkette „Carrefour“ in ihren Läden vor mehr als einem Jahr flächendeckend „Blabla-Kassen“ eingerichtet. Auch die Supermarktkette „Jumbo“ in Holland hat spezielle „Kletskassa“ (auf Deutsch: Klatschkasse) etabliert, an denen sich die Kunden Zeit für ihren Einkauf lassen können, die Plauderei mit dem Kassierer ist explizit erwünscht.
Andere Länder, andere Konzepte
Supermarkt führt „Klatschkassen“ ein
In Japan gibt es speziell für Senioren „langsame Kassen“, um einerseits den alten Menschen Stress zu ersparen und andererseits lange Schlangen mit genervt wartenden Kunden zu vermeiden. Auch in der Schweiz wurden im vorigen Jahr testweise erste Plauderkassen eingeführt. Und vereinzelt schwappt die Idee nun nach Deutschland über: Vor rund vier Monaten startete ein Supermarkt im unterfränkischen Schweinfurt mit einer „Plauderkasse“.
Mehr als 16 Prozent Erwachsene häufig einsam
Ob die Kassen tatsächlich als Präventionsangebot gegen Einsamkeit helfen, ist bislang wohl nicht erforscht. Fest aber steht, dass Einsamkeit schon vor der Corona-Pandemie ein Thema war – und seitdem deutlich zugenommen hat. Das Bayerische Gesundheitsministerium verweist auf die Langzeitstudie „Sozio-oekonomisches Panel“ (SOEP). Das SOEP läuft seit 1984, jedes Jahr werden rund 30.000 Befragte in etwa 15.000 Haushalten vom Umfrageinstitut infas Institut für angewandte Sozialforschung befragt. Forscher weltweit nutzen die Daten, um ganz unterschiedliche Probleme und Phänomene zu analysieren – so auch aus dem Bereich Gesundheit. Demnach berichtet im Jahr 2017 etwa ein Drittel der Menschen in Bayern, manchmal einsam zu sein. Zwei bis drei Prozent waren häufig oder sehr häufig einsam. Im Jahr 2021 stieg die Zahl der häufig oder sehr häufig einsamen Erwachsenen auf 16,2 Prozent an.
Davon betroffen sind besonders auch Frauen und jüngere Menschen. Auf die Einsamkeit der Jungen reagiert man im Freistaat etwa auch mit dem Modellprojekt „Digitale Streetworker“ als neuer Form der Jugend- und Jugendsozialarbeit. Kontakt zu den Streetworkern kann aufgenommen werden via Social Media, im Chat auf Discord oder beim Zocken, bei einem Telefonat oder auch persönlich. Sofern gewünscht, geschieht dies anonym.
Kassentrenner fungieren als Eisbrecher
Doch zurück ins schwäbische Buxheim. Backen Sie auch so gerne Kuchen? Wie geht’s Ihnen heute? Wie war Ihr Wochenende? Freuen Sie sich auch schon auf den Sommer? Fragen wie diese zieren eigens angefertigte Kassentrenner. Über der Kassiererin hängt ein großes Plakat, „Ratschkasse für Menschen mit ein bisschen Zeit“ ist darauf zu lesen.
Natürlich werde an einer Ratschkasse weniger Umsatz generiert, ist sich Betriebswirtin Abröll-Groiß bewusst. Trotzdem ist die Geschäftsfrau von dem Projekt rundum überzeugt: Ein Supermarkt sei für sie nicht nur Lebensmittelladen, sondern auch Lebensmittelpunkt. Dass der soziale Aspekt für sie eine so zentrale Rolle spielt, mag auch daran liegen, dass bereits ihr Großvater 1945 einen ersten Tante-Emma-Laden eröffnet hatte. Der Vater führte die Familientradition fort. Als „Edeka“ bei ihm anrief und fragte, ob er einen weiteren Markt eröffnen wolle, verneinte er – verwies aber auf seine Tochter. So eröffnete Ilka Abröll-Groiß 2005 den ersten Edeka-Markt, inzwischen sind es vier.
Ganz bewusst verweigert die 57-Jährige bislang Kassen in ihren Märkten, an denen die Kunden die Einkäufe – ganz ohne Verkäufer – selbst scannen. Das fördere nur die Anonymität und die Einsamkeit der Menschen weiter.