Missstände in der Psychiatrie
Nord-Abschlussbericht: Schläge, Missbrauch und fehlende Kontrolle
Bis in die 1980er Jahre gab es in psychiatrischen Kliniken und Behinderteneinrichtungen in Schleswig-Holstein gravierendes Fehlverhalten von Mitarbeitern. Eine Gruppe war dabei besonders gefürchtet.
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Lieber mit Medikamenten ruhiggestellt, statt therapiert: Auch das trifft auf viele ehemalige Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein zu.
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Kiel. Der Abschlussbericht über Gewalt und Unrechtstaten gegen Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwischen 1949 und 1990 in Schleswig-Holstein liegt vor. Er bestätigt, was Betroffene schon in einem Symposium zum Thema in Kiel geschildert hatten: Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen waren Misshandlungen ausgesetzt und wurden vernachlässigt.
In der Aufarbeitung des Lübecker Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung berichten Betroffene von Schlägen, Zwang, Missbrauch, medikamentöser Ruhigstellung und Ausbeutung, unter deren Folgen sie bis heute zu leiden haben. Darüber hinaus wurden sexuelle Übergriffe, demütigende Strafpraktiken und körperliche Misshandlungen geschildert, die ein gravierendes Ausmaß an Gewalttätigkeit und Willkür des Personals erkennen ließ.
Regelmäßige Gewaltanwendung
Die Forschenden sprechen insgesamt von einem „erschreckenden Bild“. Im Fokus standen zwei Einrichtungen in Schleswig und eine in Wyk auf Föhr. „In allen von uns untersuchten Einrichtungen kam es regelmäßig zu Gewalt, obwohl die Misshandlung von Schutzbefohlenen bereits damals dienstrechtlich verboten war“, sagte Professor Cornelius Borck aus Lübeck. In einer ersten Studie hatte sein Institut bereits über die Medikamentenversuche in diesen Einrichtungen berichtet.
Als Ursache für die Gewalt und Willkür begünstigenden Rahmenbedingungen werden strukturelle Mängel in den Einrichtungen der Psychiatrie und Behindertenhilfe genannt, die für die Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik insgesamt kennzeichnend waren. Hinzu kam laut Bericht eine mangelhafte oder Missstände tolerierende Kontrollpraxis gegenüber den zu beaufsichtigenden Institutionen.
„Alte Riege“ besonders gefürchtet
Auch die im Nachkriegsdeutschland verbreiteten Vorurteile über Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen werden als gewaltfördernd angesehen. Berücksichtigt werden müssten außerdem die Verstrickungen der Einrichtungen in die nationalsozialistische Politik sowie die Haltung des Klinikpersonals. Viele der interviewten ehemaligen Mitarbeiter hatten berichtet, dass insbesondere die „alte Riege“ der Pflegekräfte auf Gewalt und Entwürdigung im Arbeitsalltag zurückgriff.
Zwischen psychiatrischen und heilpädagogischen Zuständigkeiten wurde oft nicht differenziert. Die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses Schleswig sei im Untersuchungszeitraum eher eine Großeinrichtung der Behindertenhilfe und kaum eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen, heißt es im Bericht. Hinweise auf diagnostische oder therapeutische Maßnahmen gab es demnach kaum.
Das Land hat laut Bericht Reformen im Bereich der Psychiatrie nur unzureichend vorgenommen. Der 252-seitige Bericht widmet sich der politischen Verantwortung in einem Kapitel mit der Überschrift „Versagen der politischen Entscheidungsträger“. Dort wird klargestellt, dass den politisch und institutionell Verantwortlichen zumindest die strukturellen Defizite in den Einrichtungen bekannt waren.
Die Reformbemühungen durch die „Psychiatrie-Enquete“ der 1970er Jahre hätten wenig Niederschlag gefunden. Die Sanierungsprogramme der 1960er Jahre und der 1978 vorgelegte Psychiatrieplan konnten die Erwartungen nicht erfüllen, so dass Reformbemühungen und Interventionen in erster Linie aus verschiedenen selbstorganisierten Interessenvertretungen kamen.
Land unterstützt Betroffene finanziell
Den Bericht hatte das Kieler Sozialministerium als Umsetzung eines Beschlusses des Landtags an der Lübecker Universität in Auftrag gegeben. Schleswig-Holsteins Sozialminister Dr. Heiner Garg (FDP) nannte es „erschütternd, dass Menschen, die Hilfe und Schutz erwarteten, Misshandlung und Vernachlässigung erfahren haben.“
Das Land unterstützt Betroffene inzwischen finanziell und hat dafür mehr als sechs Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Damit soll auch nach dem Auslaufen der bundesweiten Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen durch den Fonds Heimerziehung und durch die Stiftung Anerkennung und Hilfe vergleichbare Anerkennungs- oder Unterstützungsleistung in Schleswig-Holstein gewährt bleiben.