Pflegekind

Gast oder Familienmitglied?

"Gehöre ich mit zur Familie?" Auch Silvana hat sich diese Frage früher immer wieder gestellt. Forscher der Uni Siegen wollen in einer Langzeitstudie mehr über das Leben von Pflegekindern erfahren.

Von Elke Silberer Veröffentlicht:
Eine glückliche Familie: Das gilt oft auch für Pflegeeltern und -kinder.

Eine glückliche Familie: Das gilt oft auch für Pflegeeltern und -kinder.

© katie_martynova / stock.adobe.com

AACHEN. Ihre eigene Tochter ist sechs Jahre alt. So alt wie sie selbst damals. "Man vergleicht oft", sagt die 32-jährige Silvana (Name geändert) aus Nordrhein-Westfalen. Wie viel anders war doch ihre eigene Kindheit: Mit knapp sechs Jahren kommt sie in eine Pflegefamilie.

Die ältere Schwester marschiert irgendwann zum Jugendamt und sagt, dass es so nicht mehr weitergehen könne: Die "Mama" trinkt, der "Papa" prügelt – die fünf Kinder betteln bei Mitschülern ums Schulbrot, sie sind ganz auf sich allein gestellt.

Als Silvana zum ersten Mal die Pflegeeltern besucht, ist der Tisch fein gedeckt. Für sie! Und als sie raus auf den Spielplatz geht, wird sie vorher eingecremt. Was für eine Fürsorge! Sie geht zur Schule, darf reiten. Sie gewinnt Freunde.

Die erste richtige Krise kommt, als die Familie "in dieses Kuhdorf" zieht. Das Pflegekind fühlt sich von anderen Kindern gemobbt, hat es schwer, gibt den Eltern die Schuld.

Schlechte Studienlage

Eine zentrale Frage ist: Bin ich ein normales Familienmitglied?

Daniela Reimer, Studienleiterin

Silvana hat ihre Lebensgeschichte Wissenschaftlern der Uni Siegen erzählt. In einer bisher beispiellosen Langzeitstudie wollen sie untersuchen, wie sich das Leben von Pflegekindern bis ins Erwachsenenalter hinein entwickelt. "Die Wissenschaft weiß sehr viel über das Leben von Heimkindern, aber sehr wenig über Pflegekinder", sagt Studienleiterin Daniela Reimer.

Die Pädagogin und ihr Team haben schon vorher in anderen Forschungsprojekten mit 100 Pflegekindern zwischen 18 und 25 Jahren biografische Interviews geführt. Vier bis acht Jahre später lassen sich die Wissenschaftler von 15 Betroffenen die Fortsetzung der Lebensgeschichte erzählen: Wie ist der Übergang in den Beruf, das Verhältnis zu den leiblichen und zu den Pflegeeltern?

Die Pflegekinder sind jetzt Erwachsene, sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt. Mit einem Abstand von sechs Jahren sollen sie noch einmal befragt werden.

Ungünstige Startbedingungen

Silvana ist alleinerziehend und lebt mit ihrer sechsjährigen Tochter in ihrer Eigentumswohnung. Sie arbeitet als Krankenschwester. "Aus mir ist was geworden", stellt sie etwas zögerlich fest. Die Pflegefamilie als positiver Wendepunkt: Kein Einzelfall, finden die Wissenschaftler heraus.

Pflegekinder haben in der Regel deutlich schlechtere Startbedingungen: misshandelt, missbraucht, vernachlässigt, Mutter oder Vater süchtig – das sind häufig Gründe, warum Jugendämter Kinder aus den leiblichen Familien nehmen.

Tendenziell gehen eher jüngere Kinder in Pflegefamilien – zum einen, weil sie die Familie brauchen und zum anderen, weil Pflegeeltern tendenziell mehr jüngere Kinder bis zu sechs Jahren aufnehmen wollen. Die Aufnahme in Pflegefamilien könne zum kompletten Wendepunkt im Leben der Kinder werden, sagt Reimer.

Dafür müssten Kinder ihre Persönlichkeit entwickeln dürfen, sich akzeptiert und aufgehoben fühlen. Ein sehr sensibler Punkt. "Eine zentrale Frage ist: Bin ich ein normales Familienmitglied?", sagt Reimer.

"Mir hat es an nichts gefehlt"

Wenn Verwandte – wie von Pflegekindern in den Interviews geschildert – bei Familienfesten Fotos mit und ohne Pflegekindern machen, dann treffe das einen ganz empfindlichen Punkt.

"Mir hat es an nichts gefehlt", sagt Silvana. Und trotzdem: "Wenn es ein Problem gab, wurde das mit der Frau vom Jugendamt besprochen. Und bei mir kam immer die Angst hoch, dass ich gehen muss", sagt sie.

Doch sie kann bleiben, selbst als sie 18 wird, wo Hilfen und das Pflegegeld des Jugendamtes laut Reimer noch mal extra beantragt werden müssen. "Ich war nicht in der Lage alleine zu leben", sagt Silvana.

Ihre Pflegeeltern nennt sie "meine Eltern". Als sie 21 ist, gibt es Streit mit ihnen wegen des Freundes. Sie zieht aus. Heute sind "Oma" und "Opa" für Tochter und Enkel da. Sie sehen sich alle regelmäßig.

"Es war nicht einfach", sagt Silvana. Sie hat nur noch zu einem Bruder intensiven Kontakt. Der leibliche Vater ist tot, die leibliche Mutter sieht sie zwei Mal im Jahr. Sie trinkt immer noch. (dpa)

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