Preiswürdiges Engagement
Wie Helfer älteren Klinikpatienten Ängste nehmen
Ehrenamtliche kümmern sich im Klinikum Sindelfingen-Böblingen um betagte Patienten. Diese Idee hilft den oft einsamen Menschen – und entlastet die Pfleger. Wie das Konzept funktioniert.
Veröffentlicht:Neu-Isenburg. „Es sind die alten Patienten, die besondere Unterstützung benötigen“, sagt Professor Axel Prokop, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie am Klinikum Sindelfingen-Böblingen. An seiner Klinik beträgt der Anteil älterer Patienten 70 Prozent. Viele von ihnen blieben die meiste Zeit allein. Allein mit ihren Schmerzen, allein in der fremden Umgebung, allein mit den unbekannten Menschen um sie herum.
Eine solche Situation überfordere viele. 15 bis 25 Prozent aller Patienten über 65 Jahre reagierten auf ihre Krankenhauseinlieferung verwirrt, sagt Prokop. „Die einen sind hyperaktiv, die anderen liegen nur noch apathisch da.“ Beide Zustände könnten unter Umständen zum Tod führen. „Beispielsweise wenn die hyperaktiven Patienten aus dem Bett steigen und stürzen oder wenn die mit einem hypoaktiven Delir nichts mehr essen und zu wenig trinken, sodass am Ende ihre Nieren versagen.“
Initiative zur Delirvermeidung
Seit drei Jahren hat sich am Klinikum Sindelfingen-Böblingen die Situation für Betroffene deutlich verbessert. Seither nämlich werden dort ehrenamtliche Helfer eingesetzt, die sich unmittelbar nach der Einlieferung um alte Patienten kümmern. Für diese bemerkenswerte Initiative zur Delirvermeidung sind das Klinikum Sindelfingen-Böblingen, der Kreisseniorenrat Böblingen und der Verein FISH Leonberg mit dem 3. Preis des von Springer Medizin verliehenen Charity Awards 2020 ausgezeichnet worden (wir berichteten).
Das Klinikum Sindelfingen-Böblingen war vor zehn Jahren – nach dem AMEOS Klinikum St. Marien in Oberhausen – die bundesweit zweite Klinik, die vom TÜV als Zentrum für Alterstraumatologie zertifiziert wurde. Die Geriatrie gab 2017 denn auch den Anstoß dafür, mit dem Einsatz von ehrenamtlichen Begleitern ältere Patienten besonders zu unterstützen. Dazu nahm man zunächst Kontakt mit dem Kreisseniorenrat in Böblingen auf. „Dieser Verein ist überaus aktiv“, lobt Prokop. „Die ehrenamtlichen Helfer dort begleiten die Senioren nach Hause und besorgen ihnen bei Bedarf auch einen Handwerker. Zu Vortragsveranstaltungen, die der Kreisseniorenrat organisiert, kommen bis zu 1000 Zuhörer.“
Neben dem Netzwerk des Kreisseniorenrats Böblingen erhielten die Initiatoren des Projekts zur Delirvermeidung auch Unterstützung vom Verein FISH Leonberg, der vor allem erwachsene Menschen betreut, die wegen einer geistigen, seelischen oder körperlichen Beeinträchtigung auf besondere Hilfe angewiesen sind. Traditionell begleiten Mitarbeiter des Vereins auch ältere Patienten ins Krankenhaus und unterstützen Angehörige bei der Pflege Demenzkranker. Gemeinsam veröffentlichte man einen Aufruf in einer örtlichen Zeitung, auf den sich gleich zwei Dutzend Interessenten meldeten, von denen viele die spezifischen Probleme alter Menschen aus eigener familiärer Erfahrung kannten.
Vorbereitung für die Laienhelfer
Sämtliche Laienhelfer erhielten ein 30-stündiges Kolloquium, in dem sie in allen Fragen rund um Gesprächsführung, Erste Hilfe, Hygiene, Delir, Demenz, Depression, Osteoporose und Frakturen geschult wurden. Am Ende bekamen die Laienhelfer aus der Hand des Landrats eine Urkunde verliehen, die ihre neu erworbene Qualifikation bescheinigt. In der Regel verbringen die ehrenamtlichen Begleiter rund eine Stunde pro Tag mit den älteren Patienten. Vor allem hören sie ihnen zu, lesen ihnen aus der Zeitung vor, spielen mit ihnen Mensch-ärgere-Dich-nicht oder singen gemeinsam Lieder.
Inzwischen wurde ein weiteres Projekt gestartet, bei dem die Begleiter ihre Schützlinge schon am Vorabend von deren Operation kennenlernen, sie am OP-Tag bis zur Schleuse begleiten und anschließend im Aufwachraum auf sie warten. Mittlerweile gibt es 75 ehrenamtliche Patientenbegleiter, die bis heute in den Krankenhäusern des Klinikverbunds Südwest in Herrenberg, Leonberg, Böblingen und Sindelfingen mehr als 8500 ältere Patienten begleitet haben.
„Tatsächlich bekommen sehr, sehr viele unserer älteren Patienten keinen Besuch“, erzählt Prokop, der seit 13 Jahren Chefarzt der Böblinger Klinik für Unfallchirurgie ist. „Dabei wollen sie unterhalten werden oder einfach nur reden.“ Das führe oft dazu, dass einsame Patienten permanent nach den Schwestern klingelten und jene von ihren eigentlichen Arbeiten abhielten. Seit dem Einsatz ehrenamtlicher Helfer habe sich die Situation für alle Beteiligten entspannt. Keiner der ersten 500 dokumentierten Patienten, so ergab eine Evaluation, erlitt bis zur Entlassung ein manifestes Delir. Der Verbrauch an Neuroleptika ging um 25 Prozent zurück, die Schwestern und Pfleger auf den Stationen fühlen sich deutlich entlastet. Und die Patientenbegleiter empfinden ihre ehrenamtliche Tätigkeit als überaus erfüllend – sie selbst bewerten ihre Arbeit mit einer durchschnittlichen Note von 1,3!
Finanzierung vorerst gesichert
Die Finanzierung des Projekts, freut sich Chefarzt Prokop, sei für die nächsten Jahre gesichert. Zwar arbeiteten die Patientenbegleiter ehrenamtlich, erhielten aber sowohl eine Haftpflicht- wie eine Unfallversicherung und überdies als Anerkennung einen Zuschuss zu ihrem Fahrtgeld. Anfangs habe man das mit Spenden finanziert, die der Kreisseniorenrat, der Rotary Club, die Sparkasse und er selbst geleistet hätten, so der 57-Jährige. Inzwischen jedoch hat die Initiative neben dem Charity Award von Springer Medizin weitere gut dotierte Preise erhalten: 2018 den QuMiK-Qualitätspreis in Baden-Württemberg, 2019 den Deutschen Patientenpreis und in diesem Jahr den Sonderpreis der Ferry-Porsche-Stiftung.
„Zurzeit sind unsere Aktivitäten coronabedingt eingeschränkt“, sagt Axel Prokop. Doch auch in der Akutphase der Pandemie wird das Projekt weitergeführt. Mit strengen Hygieneauflagen und einer besonderen Schulung sind derzeit 35 Patientenbegleiterinnen in den vier Krankenhäusern des Klinikverbunds Südwest aktiv.
Ihre Arbeit ist derzeit umso wichtiger, da die betagten Patienten coronabedingt noch weniger Besuch bekommen. Da sich die Patientenbegleiterinnen derzeit nicht untereinander austauschen können, versucht die Klinikleitung, ihnen mittels Videovorträgen und sogenannten Durchhaltebriefen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln. Anfang des Jahres hat man zudem ein neues Projekt gestartet, die „Übergangsbegleitung vom Krankenhaus in die Häuslichkeit“.
Professor Axel Prokop
- Medizinstudium Universität Essen, 1982-1989
- Promotion am Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln, Oktober 1989
- Habilitation für Chirurgie und Unfallchirurgie, Mai 2000
- Chefarzt für Unfallchirurgie, Klinikum Sindelfingen seit 1. Februar 2007