EvidenzUpdate-Podcast

2024, das Jahr, in dem Evidenz auf der Strecke blieb – mal wieder

Medikalisierung, Interventionismus und Klientelismus statt mehr Orientierung an Evidenz. Unter anderem das bleibt von 2024. Ein EvidenzUpdate zum Rück- und Ausblick.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:

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Selbstbedienungsladen Gesundheitswesen, interventionistische Politik und Medikalisierungswahn – das Jahr 2024 zeigt, wie schwer es ist, Bedarfsgerechtigkeit im Versorgungssystem zu schaffen. In der aktuellen Episode des „EvidenzUpdate“-Podcasts suchen wir einen roten Faden im zu Ende gehenden Jahr – und wagen einen Ausblick auf 2025.

Ob Arzttermine, Krankenhausreform oder das gescheiterte „Gesundes-Herz-Gesetz“ – die Themen eint ein zentraler Punkt: das Ringen um Bedarfsgerechtigkeit. Fehlanreize und ökonomische Interessen verzerren die Versorgung. Auch die geplante Ermächtigung von Krankenhäusern zur hausärztlichen Versorgung sorgt für Empörung: „Das ist die Perversion dessen, was sektorenübergreifende Versorgung leisten sollte.“

Was es braucht, ist eine verpflichtende primärärztliche Steuerung, um Patientenbedarfe besser zu lenken und Ressourcen gezielter einzusetzen. Und die nach wie vor fehlende Umsetzung des Masterplans Medizinstudium 2020 ist ein „politisches Systemversagen“. Aussichten, dass die ÄApprO 2025 novelliert werden könnte, sind eher dürftig.

Und wir sprechen über eine Gesundheitspolitik, die zunehmend interventionistisch und marktgetrieben agiert. Ob bei Krankenhausstrukturen oder dem umstrittenen Medizinforschungsgesetz (MFG, vulgo „Lex Lilly“) – Entscheidungen folgen oft ökonomischen statt evidenzbasierten Prinzipien. „Wer stoppt die Medikalisierungsspirale?“ Minister Lauterbach steht wohl eher für diesen Trend, obwohl er vom Genotyp her eigentlich ein Evidenz-Mediziner ist.

Ein weiteres großes Thema, das uns diese Jahr beschäftigt hat, ist der schwindende Stellenwert der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Sie leidet unter Klientelismus, aber zunehmend auch unter Interventionismus. Entscheidungen, die früher im Dialog zwischen den Akteuren des Gesundheitswesens getroffen wurden, werden immer öfter durch politische Vorgaben ersetzt, die Klientelinteressen bedienen. Scherer: „Das wird so lange gut gehen, bis es knallt.“ Auf der anderen Seite erschwert eben auch das System mit seinen zahlreichen Stakeholdern und korporatistischen Mechanismen sinnvolle Reformen.

Was bleibt für 2025? Trotz aller Kritik bleibt verhaltener Optimismus: Die Debatte über eine bedarfsgerechte Steuerung hat Fahrt aufgenommen. Scherer: „Die Lösungsideen liegen auf dem Tisch, jetzt müssen wir sie umsetzen.“ (Dauer: 59:46 Minuten)

Anregungen? Kritik? Wünsche?

Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Shownotes

  1. Warum Elon Musk auf die AfD setzt – und warum er dabei irrt. DIE WELT. 2024. www.welt.de (accessed 31 Dec 2024)
  2. Klaus Reinhardt (Ärztekammer) - Gibt es eine Diskriminierung von Kassenpatienten? Deutschlandfunk. 2024. www.deutschlandfunk.de (accessed 31 Dec 2024)
  3. Nößler D. Kommentar zur „Debatte“ um Wartezeiten: Diskriminierung bei Arztterminen? Statt Neiddebatten lieber die richtigen Fragen beantworten. Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 31 Dec 2024)
  4. Gute Nachrichten des Jahres 2024 : Positiver Jahresrückblick: Davon bleiben Arztpraxen erst einmal verschont. Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 31 Dec 2024)
  5. Johne J, Oltrogge-Abiry JH, Lühmann D. Expertise: „Ambulante Akut- und Notfallversorgung – zwei Seiten einer Medaille“. KBV. 2024. www.kbv.de (accessed 31 Dec 2024).

Transkript

Nößler: Das Jahr, in dem Politik und Selbstverwaltung endlich zur Evidenzbasierung gefunden haben. Das Jahr, in dem politische Entscheidungen für das Gesundheitswesen auf Versorgungsnotwendigkeiten reagieren und nach Nutzenbelegung umgesetzt werden. Wie schön wäre so ein 2024 gewesen? Was wirklich geschehen ist und was wir daraus lernen könnten, darüber sprechen wir heute. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode des EvidenzUpdate-Podcast. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer!

Scherer: Moin, Herr Nößler!

Nößler: Herr Scherer, wie war Ihr Weihnachten? Wie haben Sie es verbracht?

Scherer: Sehr schön. Ich habe ein Buch geschenkt bekommen zu Weihnachten: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Also ein herrliches Stück. Und dann habe ich noch ein Buch von Hartmut Rosa bekommen, „Beschleunigen wir die Resonanz!“, ein bisschen auch die Winterlandschaft genossen. Sie merken daraus, ich war in Süddeutschland ein bisschen Langlauf, waren gute Tage. Und bei Ihnen?

Nößler: Das Highlight nach Weihnachten, das ist total witzig. Ich habe auch ein Buch nicht geschenkt bekommen, sondern verschenkt. Und jetzt halten Sie sich mal fest, wie das heißt: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Was ist denn da passiert?

Scherer: Sehr schön. Das ist eine weitere Interessenskonvergenz.

Nößler: Ja. Interessenskonvergenz, oh, das ist auch spannend. Statt Interessenkonflikt Interessenkonvergenz – müssen wir auch mal drüber sprechen. Jenseits von Langlauf, gab es irgendwelche Highlights jetzt um Weihnachten, die bei Ihnen hängengeblieben sind?

Scherer: Natürlich kriegt man so ein bisschen mit, was medial passiert. Das mediale Theater steht ja über Weihnachten nicht still. Deutschlandfunkinterview, über das wir vielleicht sprechen müssen mit Klaus Reinhardt. Vielleicht auch das ganze Theater um Elon Musk, das ja schon auch in unsere Themen, in unsere gesellschaftspolitischen Themen reinreicht. Also da ist ja um uns herum auch einiges passiert.

Nößler: Ja. Die Nachrichtenslots müssen irgendwie gefüllt werden. Reinhardt hatten Sie gesagt. Klaus Reinhardt hat ein Interview zum Thema Patientensteuerung gegeben. Das ist eine Replik auf das Thema Arzttermine – da können wir gleich drüber sprechen. Und jetzt haben Sie gesagt Elon Musk. Vielleicht kurz für alle, die es nicht mitbekommen haben, wir verlinken das auch. Herr Scherer, machen wir wohin?

Scherer: In die Shownotes.

Nößler: Elon Musk, kurz für alle noch mal zum Erinnern, hat in der Welt am Sonntag in der Ausgabe vom 29. Dezember, einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem empfiehlt er, die AfD zu wählen bei der anstehenden Bundestagswahl. Und er sagt, die AfD sei die einzige Partei, die Deutschland retten könne. Und da hat es dann viel, viel Empörung gegeben. Wie haben Sie das denn wahrgenommen?

Scherer: Als moralischen Reflex.

Nößler: Die Empörung oder den Gastbeitrag?

Scherer: Die Empörung. Also die mediale Empörung nach Elon Musks Wahlaufruf der AfD, die kann man ja auch als Symptom sehen für eine sehr polarisierte, sehr polarisierende Öffentlichkeit. Und diese Polarisierung, die steht oft auch im Zusammenhang mit einer sehr verkürzten politischen Debatte. Statt dass man sich ausschließlich dann auf die moralische Verurteilung von Elon Musk konzentriert, sollte man, sollten wir, sollten die Medien vielleicht eher einen differenzierten und konstruktiven Dialog fördern, der auf die politischen Ursachen für die Zunahme solcher Bewegungen lenkt. Und dass man sich auch mal Gedanken über die breite politische Landschaft macht und sich überlegt, wie kommt es dazu. Also wenn wir jetzt anfangen, den Diskurs einzuengen auf vereinfachende Feindbilder statt auf eine offene pluralistische Diskussion, dann machen wir die gesellschaftliche Spaltung, die wir eh schon längst haben, nicht besser. Meine Meinung dazu. Ich weiß nicht, inwiefern wir da noch im Kernbereich des EvidenzUpdates sind, Herr Nößler. Aber Sie haben mich gefragt und ich habe geantwortet.

Nößler: Das ist immer das Ziel von Fragen, dass man Antworten kriegt. Aber am Ende gibt es vielleicht eine Analogie, und das werden wir gleich mal sehen, wo uns das berührt, auch beim Streit im Gesundheitswesen, beim Streit um Ansichten, Haltungen, gar nicht so der Streit um Evidenz. Also das erlebt man ja auch oft im Gesundheitswesen. Deswegen ist vielleicht die Analogie mit Musk gar nicht so falsch. Also ich gebe zu, wenn ich das jetzt aus der journalistischen Perspektive betrachte, das Thema Musk, ich habe da auch keine abschließende Antwort drauf, ich kann die Argumente, die andere vorbringen, gegen so einen Beitrag, nachvollziehen. Aber es erfüllt mich ein ziemliches Unbehagen bei der absoluten Aussage, man dürfe so was nicht veröffentlichen. Da geht das, was Sie Pluralismus gerade genannt haben, Meinungspluralismus, dann per due, das ist dann weg.

Scherer: Da stimme ich Ihnen zu. Ich denke, wir sollten rote Linien definieren bei klaren Gewaltaufrufen, bei klaren antisemitischen Äußerungen, bei Dingen, die einfach auch verboten sind, da, wo es direkt dann an die freiheitlich demokratische Grundordnung geht, da müsste man vielleicht auch als Redaktion sagen, das geht jetzt nicht mehr. Aber zunächst, auch wenn es uns alles nicht gefällt, bewegt sich Musk hier noch im Bereich der Meinungsäußerung. Wenn das jetzt nicht mehr erlaubt ist, dann haben wir schon mal das erste Problem.

Nößler: Soweit ich das sehe, hat er niemanden rassistisch oder irgendwie beleidigt oder das Strafgesetzbuch berührt. Vielleicht können wir an dieser Stelle es mit dem Einstieg Musk soweit belassen, aber verbinden. Was halten Sie davon, Herr Scherer, wenn wir die Hörerinnen und Hörer bitten, uns mal mitzuteilen, wie sie das sehen. Die haben vielleicht auch eine Meinung dazu und das könnten die Hörerinnen und Hörer einfach an EvidenzUpdate@springer.com uns senden. Das soll ja nicht schaden, oder?

Scherer: Wir sind immer offen für Rückmeldungen. Und das wäre mal interessant, da so ein paar Meinungen auch zu kriegen, die können wir dann auch besprechen. Und es ist nicht so ganz weit weg von unserem Thema, Herr Nößler. Denn wir versuchen auch uns Gedanken darüber zu machen, wie wir unser Gesundheitssystem bedarfsgerechter und sinnvoller gestalten können, auch in der Pandemie. Denken Sie nur an unsere vielen Podcast in der Pandemie zurück. Auch da haben wir immer versucht, das große Ganze im Blick zu behalten. Und auch da gab es verkürzende moralisierende, polarisierende Reaktionen, nicht unbedingt auf uns, aber es war auch während der Pandemie eine Bubble, die sich doch sehr für zentralistisch gesteuerte medizinisch interventionelle Maßnahmen stark gemacht hat. Und wann immer man gesagt hat: Moment, die Bedarfsgerechtigkeit im Gesundheitssystem ist auch unter Krisenbedingungen noch ein bisschen komplexer, lasst uns auch mal die anderen Stellen im System ausleuchten – auch da gab es sehr oft moralisierende, polarisierende Reaktionen. Und wir haben das eingeübt. Wir haben diese dichotomisierende Verkürzung in unserem öffentlichen Meinungsverhalten, die haben wir irgendwie im Laufe der letzten Jahre eingeübt. Ich weiß nicht woran es lag, Herr Nößler, ob es jetzt hauptsächlich an der Pandemie lag oder an anderen Dingen. Aber das, was Sie so bedrückt, das ist der Verlust der Diskursfähigkeit in unserem Land. Und das ist aber genau das, was wir brauchen für viele verschiedene Themen. Und das ist die AfD nur eins davon.

Nößler: Und vielleicht auch nur ein Synonym. Und ja, der Verlust der Diskursfähigkeit. Man könnte auch sagen: Es wird nicht mehr dialektisch miteinander gesprochen. Und das, was Sie gerade sagten, in der Pandemie wurde oftmals reagiert mit: Kann man das überhaupt so sagen. Auf einmal wurden Dinge unsagbar. Und das wurde dann kombiniert mit einem Argumentum ad hominem und auf einmal warst du nur ob deiner Person nicht mehr diskursfähig oder dir wurde die Diskursfähigkeit genommen. Herr Scherer, Sie haben jetzt gerade die Brücke gemacht von einem gesellschaftlichen Konflikt oder einer gesellschaftlichen Fragestellung, die wir ganz grundsätzlich zu führen hätten, hin zu einer konkreten Sache, nämlich Stichwort bedarfsgerechte Steuerung, haben Sie gerade gesagt. Das ist das, was uns dann im Gesundheitswesen betrifft. Und wo wir hier auch oft sprechen über Fehlanreize in der Steuerung im Gesundheitswesen. Wir haben uns vorgenommen für diese Episode, dass wir auf das Jahr 2024 zurückblicken wollen. Wir haben im Vorgespräch uns ein paar Gedanken gemacht, welche Dinge uns aus diesem Jahr in Erinnerung geblieben sind. Wir wollen den Blick zurück aus Sicht der evidenzbasierten Medizin machen. Was ist davon geblieben, was nicht? Vielleicht können wir da auch im Gespräch so ein paar Lektionen draus ziehen, Rückschlüsse für das Jahr 2025. Dann hätten wir gleich noch einen Jahresausblick mitgemacht. Und idealerweise gelingt es uns, dass wir so einen roten Faden finden. Ich könnte jetzt fast schon mal sagen, dass wir heute weniger über Literatur, also wissenschaftliche Literatur, sprechen, sondern vielmehr, dass wir heute über das, was uns beschäftigt hat, sprechen und worüber wir andernorts schon gesprochen haben. Was halten Sie davon, wenn wir erst mal so ein bisschen explorativ vorgehen und verschiedene Aspekte zusammensammeln und beschreiben. Und dann können wir mal schauen, wo die Dinge zusammengebunden werden könnten. Oder?

Scherer: Gerne.

Nößler: Bevor wir sammeln, man hat ja oft das Problem bei dem Jahresrückblick, wenn man sich dann hinsetzt und überlegt: Hm, über was wollen wir sprechen? Dann hat man so einen Recency Bias, die Wahrnehmung durch das Kurzfristige, durch das Neue dominiert wird. Und wenn ich jetzt überlege, kurz vor Silvester, kurz nach Weihnachten poppte dann in dieses Debattenloch auf einmal dieser angebliche Streit über die Vergabe von Arztterminen hoch. Sie hatten schon Klaus Reinhardt, Deutschlandfunk angesprochen. Es geht da auch um die Bevorzugung von Privatversicherten. Jetzt könnte man sagen, es ist Wahlkampf. Wie haben Sie diese – Debatte will ich es gar nicht nennen – wie haben Sie das jetzt erlebt, diese Arzttermingeschichten?

Scherer: Im Grund genommen passt das ja sehr gut zu unserem roten Faden und zu unserem Jahresrückblick. Denn das, was die unterschiedlichen Themen verbindet, das ist das Ringen um Bedarfsgerechtigkeit in unserem Versorgungssystem. Und oft ist es mehr ein Ringen miteinander anstatt eines Ziehens am selben Strang in dieselbe Richtung. Es sind unterschiedliche Faktoren, die dazu beitragen, dass wir eine Ungleichverteilung von Ärztinnen und Ärzten haben zwischen Stadt und Land, eine Ungleichverteilung zwischen unterschiedlichen Fächern, zwischen ambulant und stationär. Und es gibt eine Reihe von Fehlanreizen und Fallpauschalen, die den Fokus auf lukrative Behandlungen lenken, aber oft wegführen von bedarfsgerechter Versorgung. Wir haben volle Notaufnahmen, wir haben volle fachärztliche Praxen, einen Mangel an Pflegepersonal, Versorgungsprobleme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Also eine ganze Reihe von Problemen in unserem System, wo man nicht mehr darauf vertrauen kann, dass, wenn man mit was Schwerwiegendem in die Notaufnahme kommt, dann da auch verlässlich schnell drankommt, beispielsweise, oder auch anderweitig bedarfsgerecht versorgt wird und ein System, in dem sich jeder durchwurschtelt. Die Patientinnen und Patienten wurschteln sich durch und die Leistungserbringer auch und schauen oftmals wie sie sich optimieren.

Nößler: Noch mal anders gefragt: Ist an diesen Vorhaltungen, die es da gab in diesem Arztterminstreit, aus Ihrer Sicht was dran? Also die Privilegierung von, Sie haben schon gesagt lukrative Leistungen und klar, PKV ist besser bewertet. Ist da etwas dran an diesen Vorhaltungen?

Scherer: Darf ich diplomatisch antworten, Herr Nößer?

Nößler: Wie Sie wollen.

Scherer: Also Sie finden an vielen Stellen im System, dass die Weichenstellungen über Vergütungsanreize erfolgt. Und so ist es auch hier. Also tendenziell können Sie davon ausgehen, dass die Leistungserbringung sich entlang dieser Vergütungsleitplanken bewegt. Ich sage Ihnen mal ein Beispiel: Wir haben das KHVVG, das dafür gelobt wird, dass es die Mengenanreize reduzieren soll – ja, es reduziert Mengenanreize, aber es gibt immer noch Mengenanreize – auch die Reduzierung des DRG-Anteils auf 40 Prozent führt jetzt nicht dazu, dass Kliniken in Zukunft sagen werden: Kommt alle her und wir behandeln euch bedarfsgerecht, sondern es wird auch da Leistungsgruppen geben. Dieses komplexe Zusammenspiel von unterschiedlichen Vergütungselementen wie zum Beispiel die DRG einerseits, dann die Vorhaltepauschalen andererseits, dann die unterschiedlichen Leistungsgruppen, die bedient werden müssen. Das ist alles ziemlich komplex. Und ein Krankenhausmanager wird sich dann irgendwann überlegen müssen, welche Patientinnen und Patienten sind für mich eigentlich noch ökonomisch gut abbildbar in meiner Klinik beziehungsweise wie komme ich hier ökonomisch am besten durch. Und solange solche Dinge möglich sind in unserem System, werden Sie alles Mögliche an Reaktionen darauf finden. Auch bei dem Beispiel, das Sie angesprochen haben. Darf ich es mal so ein bisschen allgemein beantworten.

Nößler: Ja. Hochdiplomatisch. Sie treten gerade niemandem auf die Füße. Das kann ich heute mal übernehmen. Sie liefern mir die diplomatische Steilvorlage und ich haue dann um mich. Nein, wir wollen tatsächlich – wir hatten es eingangs kritisiert, die fehlende Dialektik – uns nicht damit gemein machen. Sie haben gerade eins unserer Themen aus dem Jahr 2024 angesprochen, das KHVVG, das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz. Hat dann der Bundesrat die Länderkammer am 22. November passieren lassen, hat es nicht in Vermittlungsausschuss geschickt. Sie haben schon gesagt, die Vergütung wird ein wenig verändert, es werden jetzt Vorhaltepauschalen bezahlt. Da gibt es auch wiederum Kritik dran. Sie haben gesagt, Level 1i, es soll eine Verzahnung von ambulanter Versorgung noch stärker mit stationärer geben. Das Ganze geht sogar so weit, dass in unterversorgten Regionen jeder Fachgruppe Krankenhäuser diese Fachgebiete ambulant anbieten dürfen. Sogar hausärztliche Leistungen. Jetzt wissen wir alle, Martin Scherer macht ja selbst hausärztliche Medizin in einem Supramaximalversorger, am UKE. Was ist eigentlich so falsch daran, Allgemeinmedizin im Krankenhaus anzubieten? Das wäre doch eigentlich für die stationären Versorger, denen man immer nachsagt, euch fehlt so ein bisschen der Blick für das große Ganze, ein super Lerneffekt, wenn man Hausarztmedizin ins Krankenhaus holte.

Scherer: Das ist bei uns noch mal ein Spezialfall, weil wir das, glaube ich, a) können und b) dann auch verschiedenen Klammern ausbilden. Einmal wirklich eine sektorenübergreifende Klammer, die funktioniert, und dann aber auch eine Klammer innerhalb des Klinikums. Also wir sind da ein integratives, integrierendes Element. Und das funktioniert. Und ich denke, wir können das auch. Und man soll sich ja nicht selber auf die Schulter klopfen, aber ich denke, was das anbelangt, sind wir für ein allgemeinmedizinischen Hochschulstandort auch modellgebend. Das hat dann auch mit Lehre zu tun und mit Weiterbildung und alles greift ineinander. Aber, Herr Nößler, das ist nicht das, worüber wir hier sprechen. Sondern wir sprechen hier über Feld-, Wald- und Wiesenkrankenhäuser, die ermächtigt beziehungsweise eingebunden werden sollen in die hausärztliche Versorgung. Und Sie können ziemlich sicher davon ausgehen, das wird da anders laufen. Da werden mit Sicherheit Krankenhausleistungen erbracht, die mit hausärztlicher Versorgung nicht viel zu tun haben. Und deshalb hat sich sowohl der Verband der Hausärztinnen und Hausärzte in Deutschland als auch die DEGAM darüber empört. Denn das kann nicht funktionieren. Das ist ja genau praktisch die Pervertierung dessen, was wir am Uniklinikum Hamburg Eppendorf versuchen. Also wir versuchen ja durch die Präsenz der Allgemein- bis hin der Notaufnahme wieder die Versorgung auf die Füße zu stellen und dann ein Fast-Track, einen gutes Fast-Track zu machen für die Patientinnen und Patienten, die auch ambulant gut behandelt werden können. Aber wir stellen die Versorgungspyramide natürlich auf den Kopf, wenn man durch einen Gesetzentwurf die Patienten in die Krankenhäuser schickt. Das kann nicht funktionieren. Und noch einen Satz, Herr Nößler: Wir machen eh durch das KHVVG potenzielle Zugangsprobleme dadurch, dass man eine hochgradige Zentralisierung, Spezialisierung hat und die einfachen stationären Versorgungsangebote auf dem Land, die werden wahrscheinlich nicht mehr da sein. Also kann es auch gut sein, dass man die Patienten zunehmend auch in spezialisierte Leistung reintreibt, dass man da noch mal eine Überversorgung kriegt und eben zusätzlich noch die Zugangsproblematik.

Nößler: Sie haben schon die Kritik an dieser Ermächtigung, insbesondere eben auch der hausärztlichen – ist auch noch mal wichtig, das ist wirklich nur wichtig in unterversorgten Regionen, da gibt es genügend von – Versorgung möglich. Und die Kliniken müssen auch wieder raus, sobald die Überversorgung im KV-System abgebaut wurde. Das nur eine Nebenbemerkung. Auch der Berufsverband der Internistinnen und Internisten hat das übrigens sehr scharf kritisiert, das lässt aufhorchen. Muss man die neue Ermächtigungsregel vielleicht so interpretieren oder kann man die dann vielleicht auch so interpretieren, Herr Scherer, dass da quasi nur eine neue Zuweisungsschiene für die Krankenhäuser etabliert wurde, also quasi um Fälle zu generieren?

Scherer: Darauf kann man sagen, Herr Nößler, „Honi soit qui mal y pense“, also ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das wollen wir natürlich niemandem, unserem wohlmeinenden noch Minister unterstellen, dass hier eine neue Zuweisungsschiene aufgemacht wurde. Dass das bewusst erfolgt ist, das glaube ich nicht. Aber dass es den Effekt haben kann, das glaube ich schon.

Nößler: Das wird man ja sehen. Vielleicht zwei Anmerkungen dazu: Der noch Minister Karl Lauterbach wirbt ja schon intensiv darum, Minister bleiben zu dürfen, ad 1. Und ad 2 die Krankenhäuser, insbesondere hier die deutsche Krankenhausgesellschaft, die macht gar kein Hehl daraus in der sogenannten Debatte, lautstark zu betonen, dass es hier eigentlich nur um die Kohle geht. Letztlich reden wir dann, wie so oft, ums goldene Kalb. KHVVG war jetzt mal ein Punkt aus dem Steuerungsjahr 2024. Wollen wir gerade mal den nächsten Punkt aufmachen, Herr Scherer? Wenn wir gerade im Krankenhausbereich sind, vielleicht eine gute Überleitung ins Ambulante ist das Thema ärztliche Approbationsordnung. Ist wieder nichts passiert.

Scherer: Das ist die längst überfällige Form des Medizinstudiums, der Masterplan Medizinstudium 2020. Eine Reform, die wir eigentlich dringend brauchen, die schon längst beschlossen war, seit langem beschlossen ist und ohne diese Reform bleibt das Medizinstudium auf Klinikstrukturen ausgerichtet und versäumt es, die jungen Leute, die Studierenden auf das vorzubereiten, was sie später wirklich brauchen. Also das ist eine Tragödie und das ist ein politisches Systemversagen, dass das nicht gekommen ist.

Nößler: Dann verbinden wir den Rückblick direkt mal mit dem Ausblick. Wir wollen auch so ein bisschen nach vorne schauen, aus den Lehren von 2024 überlegen, was bedeutet das für 2025 fortfolgende. Jetzt wissen wir, Masterplan Medizinstudium 2025, veröffentlicht 2015 von Gröhe und den Gesundheitsministern der Länder 2017 beschlossen, seitdem erblicken immer wieder neue Novellen für die Approbationsordnung das Licht, um darauf wieder in irgendwelchen Schulbladen zu verschwinden. Es sind immer die Bundesländer, die wegen der Finanzierung das stoppen und letztlich keine Mehrheit im Bundesrat ermöglichen. Jetzt mal Hand aufs Herz, Herr Scherer, daran wird sich doch 2025 nichts ändern.

Scherer: Daran wird sich 2025 vermutlich nichts ändern. Und Sie sehen das auch schon am Namen dieses ganzen Vorhabens. Wir reden hier nicht über den Masterplan Medizinstudium 2030, sondern über den Masterplan Medizinstudium 2020. Da sind wir jetzt schon vier, in wenigen Tagen fünf Jahre drüber.

Nößler: Was meinen Sie: Daumen hoch oder Daumen runter für das kommende Jahr? Realistisch, diplomatisch realistisch.

Scherer: Da sehe ich leider den Daumen nach unten. Und wenn ich den Daumen eher unten sehe, dann ist das natürlich auf der einen etwas prognostisch Pessimistisch, geprägt aus den letzten Monaten und Jahren. Aber damit dürfen wir uns auf keinen Fall zufriedengeben. Das ist eine Reform, die brauchen es unbedingt. Und deshalb werden wir als Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin, Familienmedizin, zusammen mit dem Hausärztlichen Hausärzteverband, da weiter dran arbeiten und schon dafür sorgen, dass der Daumen dann irgendwann auch wieder nach oben zeigt.

Nößler: Das ist dann jetzt aus der realistischen Kategorie eine Einschätzung. Machen wir direkt mal weiter. Jetzt bleiben wir ein bisschen ambulanter. Stichwort Entbudgetierung. Es gab den großen Plan – wir wissen alle, vorletztes Jahr kam die Entbudgetierung der pädiatrischen Leistung, nicht nur im ambulanten Bereich, auch für die Kinderkliniken wurde einiges getan. Da gab es eklatante Probleme, das wissen wir alle. Jetzt gab es den Plan, das auch für die hausärztlichen Leistungen zu tun. Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband hat naturgemäß gejubelt, aus der gebietsärztlichen Ecke gab es daran sehr viel Kritik. Es gab auch Versuche des Torpedierens, das dann irgendwie zu stoppen, wenn dann nicht die Gebietsärzte mit drin sind. Und jetzt ist die Ampel auseinandergeflogen. Der Kanzler schmeißt den Finanzminister raus und das GVSG kommt nicht. Jetzt haben wir aber irgendwie gar keine Kohle mehr im Gesundheitswesen. Wir sehen alle, die GKV-Beiträge gehen hoch. Entbudgetierung – ist das wirklich noch zeitgemäß, das zu machen? Oder anders: Wäre es eine sinnvolle Antwort auf das Problem mit dem Arzttermin, das wir eingangs besprochen hatten? Versuchen wir es mal so.

Scherer: Ich bin mir relativ sicher, dass wenn die breite Öffentlichkeit begreifen würde, was da passiert, dass da hausärztliche Leistungen, die erbracht werden ohne diese Reform gar nicht vergütet werden, ich glaube, da würden die meisten Versicherten die Welt nicht mehr verstehen. Versuchen Sie doch mal irgendwo eine Leistung in Anspruch zu nehmen, die nicht vergütet wird. Und das ist einfach längst überfällig. Diese Entbudgetierung würde dazu führen, dass jede erbrachte Leistung auch wirklich bezahlt wird. Und es würde die Motivation natürlich steigern, auch für junge Leute, sich in den hausärztlichen Bereich zu begeben. Es würde aber auch die Patientensicherheit, den Sicherstellungsauftrag stützen. Also dass das versäumt worden ist, das ist natürlich ein Versäumnis. Das ist ein dringend überfälliger Baustein zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung. Und Sie merken es, Herr Nößler, so wahnsinnig viel zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung – damit haben wir ein Zwischenfazit unseres Jahresrückblicks – ist in 2024 nicht passiert.

Nößler: Wie auch. Im Übrigen auch nicht zur gebietsärztlichen Versorgung. Jetzt will ich das Thema Budgetierung noch mal zusammenbinden mit dem Thema, das wir eingangs angesprochen hatten, nämlich der zuletzt nach Weihnachten erlebte Streit über die Vergabe von Arztterminen. Wo es dann auch hieß: Privatversicherte bekommen schneller Termine und man kommt auch nicht dran oder wird nicht versorgt. Also das war eine ganz krude Mischung an Beobachtungen, die alle nicht falsch sind. Aber in meinen Augen eine sehr krude Vermischung von Dingen, die man vielleicht gar nicht vermischen kann. Jetzt nehmen wir mal für Spaß die Idee, dass im nächsten Jahr dann vielleicht doch endlich die hausärztlichen Leistungen entbudgetiert werden und vielleicht – nehmen wir auch für Spaß – ich bin sehr skeptisch, Herr Scherer, ob das kommt angesichts der Kassensituation, angesichts der Beobachtung, dass wir in eine Kostendämpfungsspirale hineinkommen werden. Aber das können wir ja noch an anderer Stelle besprechen. Nehmen wir mal für Spaß, das käme, die Entbudgetierung. Wir können uns ja hausärztliche Arbeitszeit nicht backen. Es gibt ja dadurch nicht mehr hausärztliche Leistungskapazität. Die Leistung wird vielleicht gerechter vergütet, das schon. Aber zur Wahrheit gehört ja auch dazu, man erlebt gerade in Städten, dass Hausärztinnen und Hausärzte sagen, ich kann keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Das wird sich durch eine Entbudgetierung nicht radikal ändern, oder? Das müssen Sie auch zugestehen.

Scherer: Nein, aber man würde die vorhandenen wenigstens nicht noch stärker belasten. Das wäre schon mal ein Anfang. Dass man die, die gerade noch da sind, wenigstens stützt und entlastet. Und dann muss man natürlich andere Dinge tun, die wir auch im Jahresverlauf häufiger besprochen haben, das sind Dinge wie Steuerungselemente in der Weiterbildung, weiter natürlich die Bemühungen in der Ausbildung an den Hochschulstandorten, die Kompetenzzentren Weiterbildung und last not least natürlich irgendwann auch mal eine Umverteilung aus anderen Bereichen in die hausärztliche Versorgung hinein. Das ist etwas, was kommen muss. Und auch hier: Es mangelt nicht am Geld, es mangelt auch nicht an den Köpfen, sie müssen nur das Richtige tun.

Nößler: Jetzt ergänzen wir Ihr Zwischenfazit von eben mal um einen Zwischenausblick. Stichwort Steuerung. Das deutet sich beim Thema Steuerung – ach, das deutet sich gar nicht an, es ist wahrscheinlich so, das wird eine der roten Fäden sein des Gesprächs. Sie haben jetzt verschiedene Beispiele genannt. Klaus Reinhardt hat in dem von Ihnen zitierten Deutschlandfunkinterview gesagt, er spricht sich für eine verpflichtende Steuerung aus. Als BÄK-Präsident – wir wissen alle, er ist Allgemeinmediziner – ist er natürlich für alle Fachgebiete zuständig. Er ist da auch sehr konziliant in seinen Äußerungen. Aber er hat sich jetzt für ein verpflichtendes Steuerungsmodelle, Primärversorgungsmodell ausgesprochen – ad 1.

Scherer: Bevor man in die nächst höhere Versorgungsebene möchte, immer erst zur Hausärztin oder zum Hausarzt gehen.

Nößler: So ist es. Genau. Und jetzt sehen wir das in allen Wahlprogrammen, oder in vielen jedenfalls, gerade von den beiden großen Parteien, „mitgliedergroß“, SPD und CDU/CSU, wo alle dieses Thema aufgreifen, primärärztliche Steuerung. Macht Ihnen das Hoffnung?

Scherer: Jetzt fragen Sie einen, der das selber seit fast 20 Jahren fordert. So lange ist es schon, Herr Nößler.

Nößler: Aber es steht jetzt im Wahlprogramm und auch der BÄK-Präsident sagt es.

Scherer: Das ist sehr positiv. Das ist absolut positiv, aber auch dringend erforderlich und längst überfällig. Es ändert nichts daran, dass die DEGAM das seit Jahrzehnten fordert. Wir brauchen das. Wir müssen auch immer wieder ein bisschen den Bogen zurückschlagen im guten Jahresrückblickstil, Herr Nößler, erinnern Sie sich an verschiedene andere Podcast-Episoden, vielleicht auch an Hartmannbund, wo wir über freie Arztwahl gesprochen haben, und wo wir immer wieder darauf hinweisen: gerne eine freie Arztwahl innerhalb derselben Sektorenebene, aber zwischen den Sektoren muss es unbedingt steuernde Elemente geben. Und das ist der richtige und überfällige Schritt. Ja, und das macht mir Mut, dass es im Wahlprogramm steht. Das wollten Sie jetzt gerne von mir hören. Ja, es macht mir Mut.

Nößler: Bei der Hartmannbund-Hauptversammlung hat Klaus Reinhardt, der auch Hartmannbund-Vorsitzender ist, wie wir alle wissen, von einem Selbstbedienungsladen Gesundheitswesen gesprochen. Und Sie haben an vielen Stellen in diesem Gespräch genau diese Selbstbedienung im Gesundheitswesen kritisiert. Das heißt, das wissen wir alle, die Selbstbedienung, die Selbstzuweisung, auch angebotsorientierte Problematiken, auch im ambulanten Bereich, verbrauchen medizinische Ressource, die wir eigentlich sinnvoll einsetzen können. Jetzt mal Hand aufs Herz, wenn wir dahinkommen und sagen, wir machen hier eine ordentliche Primärversorgung, eine ordentliche primärärztliche Steuerung, dann ist aber vollkommen klar auf der anderen Seite, dass man gebietsärztliche Leistung wird wegnehmen müssen.

Scherer: Also, wenn Sie bei mir auf Entrüstung warten, dann können Sie lange warten.

Nößler: Ich warte auf eine Replik.

Scherer: Warum eine Replik? Dann gibt es das eben weniger und das ist gut so.

Nößler: Und wie machen Sie den „Fröschen“ schmackhaft, dass sie ihren Teich trockenlegen müssen?

Scherer: Es tritt doch jeder an, eine gute Medizin zu machen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mehrheit der Gebietsärztinnen und Gebietsärzte ständig Patienten bei sich sitzen haben wollen, die diese hohe Spezialisierung eigentlich nicht brauchen. Eine bessere Steuerung führt ja auch dazu, dass deren Ressource zielgerichteter eingesetzt wird. Und für die Patienten ist es auch sinnvoll, dass unnötige Facharztbesuche vielleicht nicht sein müssen und nötige vielleicht auch ein bisschen schneller passieren. Also dass wir da irgendwie hinkriegen müssen, dass das etwas bedarfsgerechter abläuft, etwas näher an den Erfordernissen der Patienten, das steht für mich völlig außer Frage. Aber ich bin auch da nur vorsichtig optimistisch, weil unser System doch sehr komplex geworden ist, weil jede Reform uns SGB V dicker macht. Das SGB V hat mal dünn angefangen, ist im Laufe der Regierungen, im Laufe der Jahre immer dicker geworden, immer komplexer geworden. Ich kenne nicht viele Leute, die das komplett überblicken und auch verstehen können. Also wir leben schon in einem sehr komplexen System, das sehr komplex geregelt ist. Und vielleicht, Herr Nößler, brauchen wir drei ostdeutsche Frauen, die sich betrinken und das ideale Gesundheitssystem gründen. Deshalb würde ich noch mal auf das Buch vom Anfang zurückkommen, einmal kurz Resetknopf, alles ein bisschen einfacher, alles ein bisschen klarer. Wenn man die Gesetzentwürfe liest, es wird hier ein bisschen geschraubt, es wird da ein bisschen gedreht, dann meldet sich die eine Statusgruppe und der andere Verband und dann sagt die DEGAM wieder was. Also wir haben ein korporatistisches System. Wir haben extrem viele Stakeholder, die sich dann zu Wort melden. Und wer möchte schon Gesundheitsminister sein in eine solchen Zeit? Es ist überhaupt nicht mehr einfach, da sinnvolle Reformen hinzukriegen, die über das Drehen an kleinen Stellschräubchen hinausgeht.

Nößler: Dann können Sie direkt ein Wahlprüfsteinreform formulieren. Welche Reform bräuchte es denn dann?

Scherer: Sie meinen jetzt für die Bundestagswahl? Ich weiß nicht, ob wir das jetzt schon alles umgesetzt kriegen. Aber schauen Sie doch einmal zurück, Herr Nößler, wir reden sehr oft über Bedarfsgerechtigkeit, über eine sinnvolle Verteilung, über eine gute und schnelle Behandlung derer, die diese Behandlung auch wirklich brauchen, und zwar dann auch fachgerechte und zielgerechte Behandlung. Und was erleben wir? Wir erleben im Grunde genommen eine Medikalisierungsspirale im Bereich der Prävention. Nehmen Sie das Gesunde-Herz-Gesetz. Wir schauen ja zurück auf 2024. Im Bereich der Schwangerschaft und Geburten erleben wir eine Medikalisierung. Bei den Älteren, wo wir sehr viel Unterversorgung haben im Bereich Multimorbidität erleben wir auch Medikalisierung, bei Anti Aging, bei Polymedikation, eine Pille für jedes Problem. Bei der psychischen Gesundheit erleben wir Medikalisierung. Und insgesamt beobachte ich einen Fokus auf spezialistische kostenintensive Behandlungen. Und unser Gesundheitsminister hat durch viele Beiträge, Wortbeiträge und Gesetzentwürfe diese Tendenz eher verstärkt. Und solange wir das nicht ändern, solange wir nicht ganz klar sagen, wo die Medizin anfängt und aufhört und dieser ganzen Medikalisierungsspirale mal Einhalt gebieten, werden wir einen sinnvollen Einsatz von Ressourcen in unserem Gesundheitssystem nicht hinkriegen.

Nößler: Dann bleibt ja die Hoffnung, auch wenn das jetzt ad personam ist, dass vielleicht eine andere Hausleitung etwas anders mit den Dingen umgeht. Wir sprechen über den Minister gleich noch mal. Weil der natürlich in der Beobachtung auch ein Teil dieses Jahres oder vielleicht auch ein Bindeglied für die Betrachtung in diesem Jahr ist. Also Stichwort gebietsärztliche Medizin, Entbudgetierung, Steuerung. Vielleicht noch einen Aspekt, Herr Scherer: Wenn man auf der einen Seite sagt, dass unnötige Leistung auch gebietsärztlich unnötige Leistung wegfallen soll, damit diejenigen, die dieser Versorgung machen, die sinnvolle Versorgung machen können, dann könnte das ja unterm Strich auch bedeuten, dass man die gebietsärztliche Leistung die sinnvolle, zum Beispiel die Chroniker-Versorgung, dass man die einfach besser vergütet.

Scherer: Das wäre dann natürlich der zielführende nächste Schritt, dass man sagt: Okay, vielleicht brauchen wir gar nicht die Flucht in die Menge, vielleicht müssen wir das Hamsterrad einfach ein bisschen langsamer laufen lassen. Dafür muss dann mehr Zeit für das wirklich Nötige, für die komplexen Behandlungen da sein. Und das muss dann natürlich auch entsprechend vergütungsmäßig abgebildet sein.

Nößler: Kommen wir zu einem nächsten Punkt, den Sie schon angesprochen haben, aber so en passant wollen wir das nicht stehenlassen, weil dafür hat uns dieses Thema in diesem Jahr zu intensiv beschäftigt. Das ist das Gesunde-Herz-Gesetz, GHG, das dann nun nicht kommt. Wir haben uns hier in diesem EvidenzUpdate intensiv damit beschäftigt und abgearbeitet – die Hörerinnen und Hörer, die Fans da draußen werden die Argumente, die für dieses GHG sprechen sollen und die, die dagegensprechen sollen, kennen. Man kann das Ganze jetzt zum Beispiel noch verbinden mit dem letzten GBA-Beschluss von kurz vor Weihnachten – es war wirklich kurz vor Weihnachten –, nämlich die Absenkung der Schwelle, ab der man ein Statin künftig verordnen dürfen soll zulasten der GKV, von 20 Prozent Zehnjahresrisiko auf 10 Prozent. Das war ja letztlich der Versuch im GHG, dass ich quasi ohne Evidenz per Gesetzeswegen par ordre du mufti als Minister ansage, was ist medizinisch gut und was nicht. Dass Sie das Ende der Koalition und damit wenigstens hinsichtlich des GHG, gut finden werden, dass es nicht kommt, nehme ich jetzt einfach mal an. Oder sagen wir mal so: Dass das GHG mit dem Ende der Koalition jetzt nicht kommt, Herr Scherer, davon dürfen wir alle ausgehen. Wenn wir das noch mal zusammenfassen, was da passiert ist in diesem Jahr: Was bedeutet das mit Blick auf die Evidenzbasierung in Politik und Medizin?

Scherer: Das ist frustrierend, dass es den Bruch der Koalition braucht, um dieses absurde Gesetz zu stoppen. Gut gedacht, schlecht gemacht. Und ein völlig falsches Mindset. Ja, Sie haben es schon gesagt, Minister Lauterbach hat das ja sehr geprägt, nicht zuletzt auch durch sein Engagement im Gesunden-Herz-Gesetz. Wir haben ihn auch hier und da mal als Chefarzt Deutschlands bezeichnet, oder jedenfalls trat er so auf, weil er doch oft sehr zentralistische, sehr auf medizinische Intervention ausgerichtete Ansätze vertreten hat. Und vom Genotyp ist er eigentlich ein EBMler, vom Phänotyp ist er ein interventionsverliebter, zentralistisch orientierter Gesundheitspolitiker, der tendenziell eher die Medizin aufbläht. Und das habe ich ihm an dieser Stelle übelgenommen, weil da auch Ansätze drin waren, die alles andere als evidenzbasiert waren. Nehmen wir mal das systematische Screening auf Lipide bei Kindern oder die Aufklärung der Gesundheitsuntersuchung der DMP und viele andere Dinge, die dazu geführt hätten, dass viele Gesunde in die Praxen geschickt worden wären, was das ganze Problem der hausärztlichen Versorgungsproblematik – volle Praxen, Aufnahmestopps, Nachwuchsmangel – eigentlich nur noch schlimmer gemacht hätte. Da haben wir uns ganz schön dran abgearbeitet. Und am Ende war es wahrscheinlich auch richtig, dass wir da so gekämpft haben. Aber es hat den Bruch der Koalition gebraucht, um das zu stoppen.

Nößler: Immerhin ist die Koalition nicht am Gesundes-Herz-Gesetz zerbrochen, sondern unabhängig davon. Und das ist dann vielleicht das Beste, was vom Koalitionsbruch übrigbleibt, oder? Wenn es etwas Gutes im Schlechten geben kann. Wenn man versucht, aus diesem Beispiel GHG mal auf eine etwas größere Ebene zu kommen – Sie haben Herrn Lauterbach als Chefarzt Deutschlands bezeichnet, Sie haben versucht, so ein bisschen zu skizzieren, wo er eigentlich herkommt, dass er schon eigentlich ein sehr wissenschaftlich denkender orientierter Mensch ist. Aber vom Habitus, jedenfalls im Ministeramt, sich jetzt eben anders dargestellt hat. Jetzt könnte man sagen: Hm, das ist ein Lauterbachscher Politikstil, interventionistisch zu sein. Ich würde die Gegenthese präsentieren und sagen, das geht weit über eine Person hinaus und das ist eigentlich Stil der Gesundheitspolitik in dieser Zeit, und zwar allerorten. Ist mein Eindruck als Beobachter. Man erlebt ein immer tiefer interventionistisches Arbeiten, die Selbstverwaltung, ganz besonders da auch der gemeinsame Bundesausschuss steht massiv in Kritik. Wir wissen, dass die Bundesländer den so gut wie gerne eigentlich abschaffen möchten, damit sie es selbst in der Hand haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man das im kommenden Jahr anders sehen wird, Herr Scherer.

Scherer: Wenn das jetzt so aussah, dass Karl Lauterbach oder unser Gesundheitsminister die Medikalisierung hier in Deutschland zu verantworten hat, das sollte so nicht rüberkommen, auf keinen Fall. Er hat es nur nicht besser gemacht und eher verstärkt. Weil die Medikalisierung gab es vorher schon. Sie wird nur immer schlimmer. Trotz unseres Bemühens, trotz unserer Positionspapiere und der Stellungnahmen der DEGAM wird das eher schlimmer. Und die Gesetzentwürfe, die da vorgelegt wurden, die machen es auch eher schlimmer. Also wer hält bitteschön diese Medikalisierungsspirale mal an?

Nößler: Man hat also, um es anders auszudrücken, Herr Scherer, den Eindruck, insbesondere Gesundheitspolitik, die ja eigentlich Entscheidungen zu treffen hat über Rahmenbedingungen für auf wissenschaftlichen Errungenschaften und geprüften Dingen kluge Entscheidungen zu treffen, die über Leben und Tod entscheiden können. Statt diese Rahmenbedingungen zu setzen, gehorcht Gesundheitspolitik mehr und mehr auf Marktmechanismen oder trifft Entscheidungen auf Basis von Marktmechanismen. Krankenhausversorgung wird als Standortpolitik betrieben, schon immer. Jeder Bürgermeister hängt an seinem Krankenhause. Wir hatten gehört, auch noch zum Jahresrückblick 2024, das sogenannte Medizinforschungsgesetz, das in der Rückschau eigentlich ein Pharmalobby-Gesetz ist. Es wird auch als „Lex Lilly“ bezeichnet. Auch das ist an anderer Stelle intensiv beschrieben. Dann wird auf einmal Forschungspolitik zur Standortpolitik gemacht. Und so weiter und so fort. Also man hat mehr und mehr das Gefühl, Gesundheitspolitik gehorcht vor allem irgendwelchen ökonomischen Interessen.

Scherer: Wenn ich da einhaken darf: Zumindest macht die Gesundheitspolitik nichts, um die Medikalisierung zu stoppen. Und was Sie eben skizziert haben, das kann man durch einige Beispiele ergänzen. Ja, es gibt klare Akzente aus der Gesundheitspolitik, die aber oft auch zentralistisch anmuten und die tendenziell eher die Pharmaindustrie und auch medizinische Interventionen stützen. Ich will Ihnen mal zwei Beispiele nennen: Sie haben die „Lex Lilly“ schon genannt. Auch während der Pandemie wurde doch sehr auf Medikamente zur Problem- und Pandemielösung gesetzt. Gut, dass wir die Impfung hatten, das war ein großes Glück. Aber wenn Sie mal zum Beispiel diese ganze Paxlovid-Diskussion noch mal reflektieren, wie dieses Medikament, das nur partiell sinnvoll war, noch überhöht wurde und auch gesundheitspolitisch gepusht wurde, dann ist das ein weiteres Beispiel in der Reihe, die Sie angefangen haben, Herr Nößler. Und letztlich auch – wir haben es eben schon angerissen – das KHVVG, das ist ja auch ein Umbau der Krankenhauslandschaft, der letztlich zur medizinischen Elitenbildung führt. Und noch mal das medizinisch Interventionelle, Spezialistische sehr stark betont - nicht, dass wir das nicht bräuchten, aber was ich befürchte, ist, dass es die Mengenausweitung nicht stoppt, sondern diese Medizinmaschinerie, die wir haben, die ja relativ entkoppelt von den realen Bedarfen vor sich hinarbeitet, dass es die eher weiter antreibt. Insofern, Herr Nößler, Sie haben Recht, die Gesundheitspolitik sollte da eigentlich Schranken setzen, Leitplanken aufstellen und das tut sie nicht.

Nößler: Und jetzt mache ich mal eine Hypothese und jetzt binden wir das Ganze mit dem Thema Streit um die Arzttermine anfangs zusammen und die Ungleichbehandlung zwischen lukrativen PKV-Patienten und weniger lukrativen GKV-Patienten, die die Mehrheit stellen im Land. Und ich glaube, eine Bürgerversicherung – das nur nebenbei – wird da nichts ändern, da kann man nur mal nach Österreich gucken, da boomt die Wahlleistungsmedizin trotz Bürgerversicherung. Also das nur mal so als Nebensatz. Diese Idee, eine Bürgerversicherung würde dieses Problem heilen in einem kapitalistischen System gleich mal wegzuräumen. Ich versuche die Medikalisierung zusammenzubinden mit dem Thema Arzttermine. Meine Hypothese ist, dieser Interventionismus, den Sie beschrieben haben, von politischen Entscheidungen in medizinische Versorgungsentscheidungen hinein, obwohl man gar keine Ahnung davon hat, wird schlimmer werden. So wie es im Moment aussieht. Ich will ja nur eine Gefahr skizzieren. Und auch die Idee, die präsentiert wurde, dass es irgendwelche Entscheidungsstrukturen geben muss, wann bekomme ich als GKV ... Also die Idee war ja, Arzttermine, auch PKV et cetera, sollen nur noch vergeben werden nach medizinischer Notwendigkeit und Dringlichkeit. Herr Scherer, wie wollen wir denn bitte eine präliminäre, eine auch vorgelagerte Triage da einbauen? Man ahnt ja schon, wohin das führt. Am Ende gibt es irgendwelche Regelungsvorgaben, die weiter in die Berufsausübung natürlich hineingrätschen, was in einem solidarischen System erst mal nicht verkehrt ist, dass man Regeln gibt. Aber mein Eindruck dabei ist, die Vorgaben werden eher schlimmer. Und am Ende werden per Gesetz vorgaben gemacht, die ganz sicher jedenfalls nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.

Scherer: Nehmen Sie mal das Beispiel der digitalen Notfallakte. Wir haben ja auch innerhalb dieses Jahres ein Gutachten diskutiert, was im Kontext der Notfallreform erstellt wurde. Das ist aus meinem Haus gekommen. Und da haben wir ja auch einige Ausführungen zur digitalen Notfallakte gemacht und zur sektorenübergreifenden Versorgung von Notfallpatientinnen und -patienten. Im Grunde genommen braucht es das auch insgesamt im ambulanten Bereich, dass man eine vernünftige elektronische Gesundheitsakte hat, die den transsektoralen Bogen zieht, wo dann alle reinarbeiten. Und die von der hausärztlichen Einschätzung dann eben bis zum Fachgebietsarzt geht. Das müsste passieren. Im Augenblick haben wir ein relativ intransparentes Einbestellsystem, wo man den Eindruck hat, die Sprechstunden der Fachgebietsärzte sind voll mit Patientinnen und Patienten, die eben nicht alle zuvor hausärztlich sinnvoll eingeschätzt wurden. Das muss besser werden. Und noch mal, deshalb bin ich an dieser Stelle auch optimistisch und finde die Entwicklung, die da jetzt angestoßen wird, auch sinnvoll.

Nößler: Herr Scherer, ich verstehe ja Ihren Optimismus. Vielleicht ist der auch quasi im Amt angelegt, dass man als Präsident der DEGAM optimistisch für die eigene Sache sein muss, geschenkt. Aber noch mal zu der Betrachtung, die ich geäußert habe, nämlich dass Politik immer mehr Klientelinteressen gehorcht. Dass der Klientelismus sich an allen Orten immer weiter stärker ausprägt. Und dass gerade – bleiben wir im Bereich Gesundheitspolitik – immer mehr Entscheidungen rein diesen klientilistischen Mechaniken gehorchen und dadurch das Ganze immer weiter interventionistisch wird, im Zweifel auch die Selbstverwaltung im Jahr 70 ihres Bestehens übrigens 2025, immer weiter an Stellenwert verlieren könnte. Diese Sorge, auf die haben Sie noch nicht reagiert.

Scherer: Na ja, ich habe Ihnen aber auch nicht widersprochen. Also jetzt könnte man sagen: Wer schweigt, stimmt zu. Das ist die Gefahr, dass das so weitergeht, dass sich diese von Ihnen skizzierte Tendenz fortsetzt und vielleicht sogar noch verstärkt. Es wird so lange gutgehen, bis es eben mal richtig knallt. Bis wir merken, hier kommen Menschen zu Schaden in unserem Gesundheitssystem. Und hier kommen Menschen zu Schaden in einem Umfang, den wir so nicht mehr akzeptieren können. Und dann wird man sehen, dass es so nicht mehr weitergeht. Also dass das Gesundheitssystem eben nicht dafür da ist, Klientelpolitik zu betreiben, dass sich jeder selber bedient, dass sich jeder selber optimiert, sondern dass die Ressourcen nur für eine einzige Sache einzusetzen sind, nämlich um die Gesundheit unserer Patientinnen und Patienten zu verbessern, und zwar bedarfsgerecht. Und da muss der ganze Fokus draufgesetzt werden und die ganze Energie reinfließen. Und ich fürchte, dass die Krise hinsichtlich der bedarfsgerechten Steuerung unserer Versorgung noch nicht stark genug ist, dass die Unterversorgung noch nicht schlimm genug ist, dass noch nicht genug Menschen – so zynisch das jetzt klingen mag, ich bitte mir das zu verzeihen – durch Unterversorgung zu Schaden kommen.

Nößler: Nur wer soll es ändern? Auf der einen Seite, ja, wir haben diesen Interventionismus in der Politik, gleichzeitig haben wir eine Selbstverwaltung und freie Berufe im Gesundheitswesen. Die kriegen es aber nicht hin offensichtlich. Das muss man ja auch mal konstatieren. Wenn ich den Krankenhäusern die Versorgung und die ökonomischen Entscheidungen dafür überlasse, ja, dann wissen wir wo das hinführt. Wenn ich jetzt gebietsärztlicher Medizin auch in Angebotsinduktion erlaube, dann wird man das machen. Also ich sage nur IGeL. Also wir könnten jetzt noch über IGeL sprechen, wir kennen alle das Problem. Also da werden sogar schädliche Leistungen angeboten, um damit Geld zu verdienen. Das hat was von Darwinismus. Sie haben gesagt Selbstbedienungsladen, Cherry-Picking und so weiter und so fort. Dann muss es ja mehr Regulation geben.

Scherer: Herr Nößler, wir haben ja den Jahresrückblick. Und Sie machen es mir nicht leicht, da positiv in 2025 zu blicken. Versuchen Sie mal die Perspektive eines Außerirdischen wahrzunehmen.

Nößler: Das kann ich gut.

Scherer: Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem fernen Planeten, nähern sich mit Ihrem Raumschiff unserem Gesundheitssystem und sehen, was da abläuft. Dann sehen Sie die Aufklärung medizinischer Leistungen, Sie sehen, dass wir wenig dagegen tun, dass Armut krank macht beziehungsweise, dass wir wenig gegen die soziale Ungleichheit tun in unserem System, in unserer Gesellschaft. Dass wir uns ein hochkomplexes System erlauben, das Eigendynamiken hat, die kaum noch einer überblickt. Wenn Sie sagen, es muss mehr Regulierung geben, dann bin ich wieder bei den ostdeutschen Frauen, die sich betrinken und die dann vielleicht im Suff die Selbstverwaltung abschaffen und die doppelte Facharztschiene. Ich habe darauf keine andere Antwort. Aber vielleicht lassen wir es an dieser Stelle gut sein, Herr Nößler. Wenn es so einfach wäre, würde ich Ihnen hier ein neues Gesundheitssystem präsentieren.

Nößler: Ich hätte ja einen Vorschlag. Jetzt kommen wir an den Punkt, Herr Scherer, dass wir die guten Vorsätze formulieren könnten für das kommende Jahr. Vielleicht auch nicht nur die guten Vorsätze für uns, sondern für das Gesundheitswesen, vielleicht sogar für diesen Podcast. Auch wenn da draußen es alles so düster ist, könnten wir uns einen Vorsatz mitnehmen, dass wir in diesem Podcast uns mal betrinken sollten und dabei das ideale Gesundheitswesen erfinden sollten.

Scherer: Das wäre auf jeden Fall mal eine Maßnahme. Ich bin jetzt noch am Überlegen, wie wir das jetzt hinkriegen, dass wir da keine bösen Zuschriften kriegen: Nößler/Scherer, als nächste Schlagzeile, propagieren hier den C2H6O-Konsum.

Nößler: Nur nach Indikation. Und die Indikation ist ja hier gegeben. Dann würde ich sagen, Martin Scherer, es ist ein – wie soll ich sagen – denkwürdiger Jahresrückblick gewesen. Es gab auch viele denkwürdige Ereignisse, über die ganz großen auf der Welt haben wir heute gar nicht gesprochen, dafür gibt es andere Orte. Wir beschränken uns auf die Gesundheitsversorgung hier im Gespräch. Und der Ausblick auf das kommende Jahr fällt nicht ganz leicht. Das würde ich jetzt an der Stelle mal so mitnehmen. Gleichwohl liegen die Lösungsideen auf dem Tisch. Und wenn ich das richtig verstehe, dürfte das auch für jemanden wie Martin Scherer und Kolleginnen und Kollegen ein arbeitsreiches Jahr 2025 werden, wo man dann idealerweise dann doch versucht, mit Argumenten zu überzeugen, diejenigen, die gute Entscheidungen ermöglichen könnten. Martin Scherer, vielleicht haben Sie noch für alle Hörerinnen und Hörer einen Ausblick auf 2025, vielleicht Wünsche für das kommende Jahr.

Scherer: Ich habe ja ein paar Weihnachtszuschriften bekommen und selber auch ein paar Karten geschrieben. Dabei hat sich ein Duktus rauskristallisiert oder ein Thema. Beim Blick über den Tellerrand kann einem übel werden. Das haben Sie gerade insinuiert auch mit den globalen Entwicklungen. Beim Blick auf das Private tut jeder das, was er kann. Und das ist letztlich das, was uns dann am Ende übrigbleibt, innerhalb unseres Einzugsbereichs das Beste zu tun. Und dass das jedem und jeder gelingen möge, das wünsche ich Ihnen uns allen für das neue Jahr.

Nößler: Das ist doch ein super Schlusswort.

Scherer: Danke schön!

Nößler: Martin Scherer, vielen Dank für diesen Rückblick auf 2024, für das Zusammenbinden und das Suchen roter Fäden und den Ausblick und die Wünsche für 2025. Dann mache ich heute den Cliffhanger. Wir hören uns im Januar wieder. Es gibt tausend Themen, einige liegen auf der Straße, andere haben wir längst angekündigt. Wir kümmern uns um alles. Ihnen, Martin Scherer, Ihnen da draußen einen guten Rutsch! Bleiben Sie gesund und fröhlich! Bis bald! Tschüss!

Scherer: Alles Gute!

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