„EvidenzUpdate“-Podcast

DD und Therapie bei Insomnie: Vorsicht vor Schnellschüssen!

BenzoZ können bei Schlafstörungen eine Option sein – wenn erste Maßnahmen nicht mehr helfen. Ein „EvidenzUpdate“ über gute diagnostische und therapeutische Pfade. Und über die Wahl zwischen Muster 16 und Privatrezept.

Denis NößlerVon Denis Nößler und Prof. Dr. med. Martin SchererProf. Dr. med. Martin Scherer Veröffentlicht:
DD und Therapie bei Insomnie: Vorsicht vor Schnellschüssen!

© Springer Medizin

Wieder einmal schlecht geschlafen, und das schon das vierte, fünfte Mal? Dann könnte der Griff zu Zopiclon oder Zolpidem ein schneller sein. Interessant ist, dass Hausärzte zwar oft zögern, bevor sie bei einer Insomnie zu Benzodiazepinen oder Z-Substanzen greifen. Wenn sie sie dann dennoch verordnen, zücken sie nicht selten ein Privatrezept statt Muster 16, hat ein deutsches Forscherteam herausgefunden. Sie haben auch die Gründe der Verordner dafür untersucht.

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Darüber sprechen wir in dieser Folge vom „EvidenzUpdate“-Podcast. Und wir schauen auf die Evidenzlage: Wie lassen sich diagnostische Schnellschüsse verhindern? Welche Intervention ist wann angezeigt? Wann dürfen BenzoZ ins Spiel kommen, und wie lange? Und droht dann gleich ein Regress? Last but not least: Wie schaffen es Ärzte, nicht zu „Dealern“ zu werden? (Dauer: 45:38 Minuten)

Transkript

Nößler: (...) Und damit herzlich willkommen zu einer neuen ganz aufgewachten Episode von Evidenz-Update-Podcast. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Telefon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Hause Springer Medizin. Moin nach Hamburg, Herr Scherer, hallo!

Scherer: Moin nach Neu-Isenburg, Herr Nößler! Hallo!

Nößler: Haben Sie gut geschlafen? Es ist gerade die Sonne aufgegangen.

Scherer: Danke, sehr gut. Und Sie?

Nößler: Perfekt. Ich könnte zwar sagen, ich bin noch ein bisschen müde. Irgendwie schlafe ich viel. Aber – na ja. Bundestagswahl, würde ich sagen – kann das müde machen?

Scherer: Die journalistisch gesundheitspolitische Aufarbeitung der Bundestagswahl, Tag und Nacht sozusagen.

Nößler: So in etwa, genau. Das könnte dann der Grund für Müdigkeit sein. Das ist das Thema, Müdigkeit, Herr Scherer, Schlafstörung – darüber wollen wir heute reden. Insomnien, therapeutische Option. Und das Ganze so ein bisschen aus Evidenzsicht. Und da sind wir ganz schnell in der pharmakologischen Trickkiste, auch mit ganz nicht so einfachen Substanzen. Benzos, Z-Substanzen, zunächst mal so der Profitipp von Ihnen, von mir, was machen Sie, wenn Sie nicht schlafen können? Wie gehen Sie damit um?

Scherer: Es kommt zum Glück so gut wie nie vor. Vielleicht mal im Urlaub kann das vorkommen, dass ich zu ausgeruht bin, vielleicht einen Mittagsschlaf gemacht habe und deshalb so wenig Schlafdruck habe. Aber normalerweise falle ich abends müde ins Bett und dann klappt es auch.

Nößler: Perfekt. Und im Urlaub ist es dann wahrscheinlich auch nicht ganz so schlimm, wenn man mal ein bisschen länger wach bleibt.

Scherer: Genau.

Nößler: Eine Option ist, dass man dann ein Gläschen Wein trinkt oder im Zweifel auch drei davon. Dann haben wir aber eigentlich schon das erste Problem.

Scherer: Da fängt es dann schon an. Beziehungsweise sind wir mittendrin in der Anamnese. Tatsächlich ist die Frage nach Alkohol ein wichtiges anamnestisches Element. Zwei Fragen dazu: Wurde Alkohol als Schlafmittel eingesetzt? Wird Alkohol regelmäßig konsumiert? Gehört zu der Schlafanamnese mit dazu.

Nößler: Selbst auch bei unverdächtigen Personen?

Scherer: Was heißt Verdacht? Wir wollen das ja nicht kriminalisieren, das Trinken eines Gläschens. Aber klar, gehört einfach dazu.

Nößler: Wir wollen ja so ein bisschen auch in die Evidenz hineinschauen, speziell therapeutisch. Aber Sie haben jetzt schon die Anamnese aufgemacht. Da wollen wir gleich noch mal zukommen, auch wie man sich so differenzialdiagnostisch nähert, die Ursachen so ein bisschen abcheckt. Und dann kommen wir zur Therapie. Vielleicht vorweg, wollen wir aber uns mit einer Arbeit beschäftigen, einer Studie, die im Jahr 2019 publiziert worden ist, ist schon ein paar Tage her. Aber die wird ihre Relevanz seither nicht eingebüßt haben. Und zwar sind es teilstrukturierte Interviews mit hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen gewesen. Und zwar Erstautorin ist Katharina Schmalstieg-Bahr, wir werden das natürlich verlinken, und zwar wo, Herr Scherer?

Scherer: In den Shownotes.

Nößler: In den Shownotes. Katharina Schmalstieg-Bahr, die war damals, als die Arbeit publiziert worden ist, noch am Institut in Göttingen und arbeitet jetzt aber am UKE bei Ihnen am Institut. Und die hat seinerzeit eben Hausärztinnen und Hausärzte befragt, wie sie denn therapeutisch bei Insomnie vorgehen und was auch ein bisschen die Fallstricke sind. Und hat da ein bisschen was herausgearbeitet, so zwei Ebenen identifiziert. Vielleicht können wir diese Arbeit mal so ein bisschen erklären, Herr Scherer, ein bisschen einordnen, was da so rausgekommen ist.

Scherer: Was haben die gemacht beziehungsweise wovon sind die ausgegangen? Nämlich von dem Befund, dass fast 50 Prozent der Verordnungen für Benzodiazepine und Medikamente wie Zolpidem und Zopiclon als Privatrezepte verordnet werden. Und dann die Patientinnen und Patienten selber tragen. Und das Ziel war zu verstehen, warum jetzt die Hausärztinnen und Hausärzte diese Methode der Verschreibung wählen. Denn man kann da eigentlich sagen, okay, das, was nötig ist, das was indiziert ist, könnte man ja eigentlich auch auf Krankenkassenrezept verschreiben, weil die Krankenkasse eben für das, was erforderlich ist, auch einsteht. Was haben sie gemacht? Sie haben eine qualitative Studie gemacht mit 17 semistrukturierten Interviews, haben sie wirklich transkribiert, haben die Transkripte dann mit Grounded Theory analysiert. Und haben dann versucht, das Verschreibungsverhalten zu verstehen.

Nößler: Jetzt nur mal ein methodischer Tipp für alle, die nicht so tief da drin sind: Grounded Theory, das können Sie vielleicht noch mal kurz erklären.

Scherer: Grounded Theory ist eine Methode der qualitativen Forschung. Es gibt ja die qualitative Forschung, die Dinge zählt, Wirksamkeitsnachweise erbringt. Und dann gibt es die qualitative Forschung, die eigentlich mehr dazu da ist, Dinge zu verstehen. Da kann man die qualitative Inhaltsanalyse machen oder eben die Grounded Theory, die zum Ziel hat, durch die Analyse von Interviews, Beobachtungen, eine neue Theorie zu formulieren. Es entsteht also aus der Grounded Theory ein theoretisches Modell, das so ein Forschungsthema auch komplett erfassen soll. Und vielleicht sagt den Hörerinnen und Hörer den Namen Strauss und Corbin etwas. Die haben diese Forschungsmethode begründet. Also es ist eine Methode der qualitativen Sozialforschung.

Nößler: Tatsächlich herausgekommen ist, wie gesagt, die Arbeit ist verlinkt, die ist auch frei zugänglich, da kann man dann zwei Bubbles sehen, so Graphen, wo versucht wird, so Kontextualisierung herzustellen. Und da kommen dann Kernaussagen raus, die die Autorinnen und Autoren dort ermittelt haben aus diesen Gesprächen. Was haben die da rausgefunden, wie Hausärztinnen und Hausärzte vorgehen? Sie haben schon gesagt, jede zweite Verordnung erfolgt auf Privatrezept.

Scherer: Richtig. Also ein Ergebnis war, dass den Hausärztinnen und Hausärzten schon bewusst ist, dass es hier medizinische Risiken gibt. Und dass sie im Grunde genommen das Medikament eigentlich nicht verschreiben wollen und dass sie dann über die Selbstzahlung eine Barriere aufbauen.

Nößler: Stichwort Suchtpotenzial vor allem.

Scherer: Das Suchtpotenzial und auch andere Dinge. Also das Nebenwirkungsspektrum ist nicht gering, aber es steht natürlich das Suchtpotenzial an erster Stelle. Und wenn man das dann aus eigener Tasche bezahlen muss, ein Ergebnis dieser Arbeit, dann ist es vielleicht noch mal eine kleine Barriere. Und dann hängt es auch vom wahrgenommenen Patiententypus ab, von der erwarteten Problemdauer und von der Diagnose, also von der Komorbidität. Also ein Patient mit einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oder solche unkomplizierte Insomnie haben, die waren dann in dieser Studie eher diejenigen, von denen gesagt wurde: Ja, die kriegen dann so ein Privatrezept. Patientinnen und Patienten, die eine handfeste psychiatrische Diagnose hatten, bei denen wurde das dann eher zulasten der gesetzlichen Krankenkasse verordnet. Was ist jetzt die Moral oder was folgt daraus? Dass es im Augenblick keinen klaren Rahmen gibt, der einem ärztlich Handelnden bei dieser Entscheidung dann auch hilft. Es fehlt ein regulatorischer Rahmen beziehungsweise sind die Leitlinien auch nicht instruktiv genug an dieser Stelle.

Nößler: Da sind eher Fragezeichen.

Scherer: Es sind eher Fragezeichen und das ist nicht selten in der qualitativen Forschung, dass man einfach zusätzliche Fragen generiert oder einfach auch Hypothesen. Und eine ist eben die, dass es ein Ansatz ist zur Reduktion des Medikamentenkonsums, indem man eben diese Barriere aufbaut, in dem Wissen, dass die Evidenz für ein solches Vorgehen mager ist.

Nößler: Zu wissen, dass die Evidenz mager ist, Benzos oder Z-Substanzen einzusetzen. Dann bleiben wir doch direkt mal bei dem Evidenzthema und schauen einfach mal, was wir dort sagen können, was dort vielleicht gewisse Goldstandards sind, wo es gute Empfehlungsstärken gibt. Und dann gucken wir noch mal in diese Aussagen hinein, die Sie jetzt schon erwähnt haben. Wenn wir uns aus der EBM-Sicht dem Thema Insomnien nähern, dann geht es ja – das haben Sie eingangs schon angedeutet – zunächst mal an die Grunderkrankung. Das heißt, wenn jemand in die Praxis kommt – ich mache jetzt mal ein relativ saloppes Beispiel auf – wo man einfach ganz offenkundig und augenfällig einfach wahrnimmt, da hat jemand ein BMI jenseits der 30, da geht es dann sofort erst mal differenzialdiagnostisch ran, dass man in dem Fall zum Beispiel schaut, Schlafapnoe, oder? Diese Dinge ausschließen.

Scherer: Genau. Schlafapnoe ist auf jeden Fall ein Thema. Aber Vorsicht vor diagnostischen Schnellschüssen. Jemand, der adipös ist, der kann trotzdem was anderes haben. Depressionen oder andere Erkrankungen. Deshalb lieber systematisches Vorgehen. Aber natürlich, Sie haben recht. Anamnestisch müsste man dann explorieren, wird Schnarchen beobachtet durch die Partnerin/Partner? Werden Erstickungsanfälle nächtlich beobachtet oder sagen die Patienten, dass sie als Autofahrer einschlafen? Wird das alles verneint, ist der Verdacht auf eine Schlafapnoe schon mal gleich etwas entschärft. Man kann differenzialdiagnostisch noch den STOP-BANG-Fragebogen einsetzen von Chung et al. Das bei begründetem Verdacht. Und dann kann man natürlich diagnostisch noch weitergehen. Eine Polysomnographie im Schlaflabor und so weiter. Und natürlich auch immer dann differenzialdiagnostisch an die anderen Ursachen denken, auf die kommen wir wahrscheinlich noch.

Nößler: Sie hatten ja schon Substanzabusus auch erwähnt.

Scherer: Ganz genau. Also das ist etwas, wonach man fragt: Werden Hypnotika benutzt? Wir hatten den Alkohol schon – wird Alkohol regelmäßig als Schlafmittel eingesetzt, wird ansonsten Alkohol konsumiert? Werden Stimulanzien und/oder Beruhigungsmittel eingenommen? Dann aber auch andere Dinge, also Medikamentennebenwirkungen von augenscheinlich erst mal unproblematischen Substanzen, dass man wirklich erst mal so eine Art Brown Bag Review macht, dann die Konfliktsituation privat oder am Arbeitsplatz, wird in Schichten gearbeitet. Und seit wann treten die Schlafstörungen überhaupt auf? Handelt es sich um eine wirkliche Schlafstörung.

Nößler: Was ich in diesem Zusammenhang ganz interessant fand – wir können ja gleich noch mal so ein bisschen diagnostischen Pfad skizzieren, wie Sie zum Beispiel da vorgehen würden –, das werden wir wahrscheinlich auch in den Shownotes verlinken, es gibt ja von der DEGAM eine Leitlinie Müdigkeit. Da nähert man sich ganz klassisch allgemeinmedizinisch erst mal diesem Symptom. Und da steht an einer Stelle auch drin, dass man die Diagnostik am Ende auch nicht zu weit treiben soll. Stichwort, wir hatten es bei der Fatigue, mit der Tumordiagnostik, weil man dadurch den Leidensdruck erhöhen könnte.

Scherer: Ganz genau. Das ist eine Spezialität des nicht selektierten Patientenklientels, wie es in der Allgemeinmedizin vorkommt. Wenn jetzt zum Beispiel ein 55-jähriger Mann kommt, Denis Nößler zum Beispiel.

Nößler: Na, so alt ist er noch nicht.

Scherer: Ohne Vorerkrankungen und sagt: Ich habe irgendwie Mangel an Energie, ich bin erschöpft und schnell ermüdbar, ich fühle mich müde und schlapp. Aber ansonsten hat er keine Vorerkrankungen. Dann eröffnet sich erst mal eine breite Palette von Diagnosen, zu denen Schlafapnoe gehören, Tumorerkrankung, Depression, Anämien, Niereninsuffizienz, alles Mögliche. Und dann grenzt man das eben ein, indem man eine sorgfältige Anamnese und eine körperliche Untersuchung macht. Wir haben jetzt schon bei der Schlafapnoe gesagt, dass die unwahrscheinlich dadurch wird, dass kein Schnarchen da ist, keine beobachteten Erstickungsanfälle, kein Einschlafen am Steuer. Und genauso ist es auch mit der Depression. Da bieten wir in der Leitlinie Müdigkeit auch zwei Screeningfragen an, bezogen auf die letzten zwei Wochen: Haben Sie sich oft niedergeschlagen, schwermütig, hoffnungslos gefühlt? Und die Frage 2: Haben Sie wenig Interesse und Freude an Tätigkeiten gehabt, die Ihnen normalerweise Spaß machen müssten?

Nößler: Wenn ich das bejahen würde mit Blick auf weniger Freude, dann nähern wir uns auch in Richtung Psychosomatik, depressive Formen.

Scherer: Ganz genau. Aber das ist auch beispielhaft für das Vorgehen, wie das viele Kolleginnen und Kollegen jeden Tag in der Praxis machen, dass man sich eben rantastet, dass man eine strukturierte Anamnese macht, einen körperlichen Befund, vielleicht noch Basislabor, bei Müdigkeit Glukose-Blutbild, BSG, die Transaminasen, vielleicht noch ein TSH dazu. Und dass man dann erst mal einen Cut macht, eine Bestandsaufnahme und sagt: Haben wir jetzt da einen harten Befund, haben wir zusätzlich zu der Müdigkeit, der Erschöpfung, der Adynamie von den letzten eins, zwei Wochen harten Befund gefunden? Oder irgendwas, was eben nicht als Normalbefund in der Anamnese und körperlicher Untersuchung zu klassifizieren wäre. Wenn nicht, wenn alles erst mal okay ist bis zu diesem Punkt, dann zieht man einen Strich und sagt: Jetzt begrenzen wir hier an dieser Stelle die Diagnostik und gehen dann weiter, wenn sich ein neuer Aspekt ergibt. Das dazu, weil Sie mich eben nach der Leitlinie Müdigkeit gefragt haben. Sie wissen, da drücken Sie einen Knopf bei mir.

Nößler: Der Leitlinienknopf. Sie haben jetzt gesagt, okay, klar, Anamnese, körperliche Untersuchung, Basislabor eventuell. Bleiben wir mal bei dem Musterpatienten, bei dem 41-jährigen Nößler, der ja keine Vorerkrankung hat, nicht wirklich dauerhaft wegen irgendwas in Behandlung ist, der wegen Müdigkeit kommt, würden Sie da auch gleich die EBV-Taste drücken und sagen, und sagen: Ich gucke nach Epstein Barr?

Scherer: Das ist ja genau diese Sache, dass man in der Anamnese dann auch nach Infektsymptomen fragt und nach anderen allgemeinen Symptomen. Und dann wird man weitere Erregernachweise unterlassen, wenn sich weder Lymphknotenschwellungen noch sonstige Infektzeichen ergeben. Wird man nicht machen. Also die Frage ist ja dann auch – ich glaube, Sie wollen jetzt auch ein bisschen auf den diagnostischen Pfad hinaus: Führen Ein- und Durchschlafstörungen zu einem nicht erholsamen Schlaf mit beruflicher und sozialer Beeinträchtigung? Das heißt, funktioniert das überhaupt noch mit unserem Podcast hier oder pennt der mir beim Podcast ein? Muss natürlich nicht am nichterholsamen Schlaf liegen, kann auch an mir liegen. Aber die Frage ist einfach der Beschwerdegrad. Also die Beschwerden müssen mindestens dreimal pro Woche und mindestens einen Monat auftreten. Und dann ist eben noch so ein Aspekt, ob die Patientin, der Patient lediglich über ein erschwertes Einschlafen berichtet, über nächtliche Wachphasen oder frühes Aufwachen, ohne dass die Schlaferholung beeinträchtigt ist. Also wenn das der Fall ist, ich kann so schwer einschlafen, ich muss nachts öfter mal raus, dann liege ich ein bisschen wach – das ist definitorisch kein Problem, solange der folgende Tag völlig unbeeinträchtigt ist. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Ist der Schlaf erholsam oder nicht, sind Sie tagsüber müde? Und wenn das bejaht wird, also nichterholsamer Schlaf, tagsüber müde, dann ist eine weitere diagnostische Abklärung nötig. Wenn der Schlaf erholsam ist, dann klärt man eben die Patientin oder den Patienten darüber auf, dass keine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt.

Nößler: Da haben wir es wieder. Es gibt doch dieses schöne Viereck, hätte ich fast gesagt, das ist eine Matrix, diese vier Kacheln: Primär-, Sekundär-, Tertiär- und Quartärprävention. Und da geht es ja auch um diesen Begriff: Sehe ich als Behandelnder eine Krankheitslast und was sagt der Patient darüber? Und das ist ja so der Aspekt. Wenn ich eigentlich keine Probleme damit habe, dann ist es in Anführungszeichen egal.

Scherer: Ganz genau. Was bedeutet das, wie ist die Auswirkung auf die Funktionalität. Und die Diagnose von Ein- und Durchschlafstörungen, die kann man sehr gut anhand anamnestischer Kriterien machen. Wie gesagt, kurze nächtliche Wachphasen, zum Beispiel durch Nykturie, also nächtliches Wasserlassen oder Bewegungsschmerzen, die sind nicht pathologisch, sofern innerhalb weniger Minuten weitergeschlafen wird. Wenn man dann die Erstdiagnose einer Insomnie nicht stellt, dann muss man eben eine ausführliche somatische Anamnese machen und eine psychopathologische Befunderhebung, siehe die zwei Screeningfragen zur Depression. Das ist natürlich nicht alles. Weil neben dem Affekt gehört noch Mnestik dazu, paranoide oder psychotische Erlebnisweisen und so weiter. Also das wissen die Kolleginnen und Kollegen, dass ein psychopathologischer Befund ist. Und dann, anhand dieser Einschätzung eventuell eine somatische Untersuchung. Was auch immer wieder empfohlen wird und sich auch gut bewährt hat, das sind Schlaftagebücher, die werden von der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin bereitgestellt, DGSM. Und erfüllen auch die wissenschaftlichen Voraussetzungen. Und allein durch das Führen des Schlaftagebuchs wird dann vielen auch bewusst: Mensch, so schlimm ist es eigentlich gar nicht mit meiner Schlafstörung. Die ist ja eigentlich gar nicht so stark ausgeprägt wie ich dachte. Man muss natürlich einschränkend dazusagen, dass die Auswertung dieser Tagebücher sehr zeitaufwändig ist. Stellen Sie sich vor, einen Überblick über die letzten zwei bis vier Wochen tabellarisch notiert: Schlafdauer, Schlaflatenz, Einschlafzeitpunkt. Da muss man natürlich auch einschränkend dazu sagen, das kann ich jetzt nicht ständig bei jedem Patienten machen. Ich muss mir die Patientin und den Patienten schon gut aussuchen, wo ich das mache.

Nößler: Wobei es dennoch – wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe – helfen könnte, auch wenn man jetzt nicht die Zeit hat bei, ich sage mal 1.500 Scheine in der Praxis und dann regelmäßig bei allen, die über diese Problematik berichten, das auszuwerten, aber denen das an die Hand geben und sagen: Nimm das mal mit und guck es dir mal selbst an. Das kann ja auch schon hilfreich sein, wenn ich Sie richtig verstanden habe.

Scherer: Ganz genau. Das Schöne ist ja auch – und hier haben wir wieder das Kernprinzip der Allgemeinmedizin, die erlebte Anamnese, die Langzeitbeziehung – dass ich meine Patientinnen und Patienten kenne. Depressive Erkrankungen gehen nahezu immer mit Schlafstörungen einher. Ich kenne in der Regel meine Patienten, die unter einer Depression leiden. Die Verdachtsdiagnose ergibt sich dann oft beim ersten Gespräch. Oder nächtliche Schmerzen im Bewegungsapparat, zum Beispiel bei degenerativen Skelettveränderungen und bei rheumatischen Erkrankungen, nächtliche Kopfschmerzen können zu Schlafstörungen führen oder Luftnot, Hustenattacken bei Asthma, chronischer Bronchitis, Sinusitiden oder auch Herzinsuffizienz oder Reflux. Also das sind ja alles Komorbiditäten, die mir bekannt sind. Es empfiehlt sich auch immer natürlich einen Blick auf die Diagnosenliste. Und da wird man dann auch nicht selten fündig. Juckreiz zum Beispiel bei dermatologischen Erkrankungen. Oder auch Schilddrüsenfunktionsstörungen.

Nößler: Also die Insomnie als ätiologisches Füllhorn, wenn man so will.

Scherer: Oder als differenzialdiagnostisches Sammelbecken für alles Mögliche, unter anderem Polyneuropathie oder Restless-Legs-Syndrom. Also man könnte es hier auch weitermachen an der Stelle. Aber es ist schon eine breite Palette an differenzialdiagnostischen Optionen, die wir eben dann nicht alle operative abklären, sondern anamnestisch. Das sind ja Dinge – das ist ja oft auch das schwer Vermittelbare an der Allgemeinmedizin – die passieren ja innerhalb von Sekunden und Minuten. Das sind ja assoziative Feuerwerke, die allgemeinmedizinischen Gehören stattfinden. Und deshalb sage ich den Studierenden immer: Unter anderem deshalb ist die Allgemeinmedizin die Königsdisziplin. Weil aus der Breite der Möglichkeiten Filterprozess stattfinden müssen, die en passant laufen. Ohne dass die Patienten das merken und ohne dass man sie damit belastet.

Nößler: Insofern muss Herr Dr. House eindeutig Facharzt für Allgemeinmedizin gewesen sein.

Scherer: Auf jeden Fall.

Nößler: Vielleicht noch mal an dieser Stelle, bevor wir jetzt in die idiopathische Insomnie hineingehen und da in den therapeutischen Goldstandard oder die Möglichkeiten, vielleicht noch mal der Merksatz, den Sie jetzt schon genannt haben. Sie haben gesagt: Einerseits differenzialdiagnostisches Sammelbecken, das eröffnet natürlich Tür und Tor für Überdiagnostik. Sie haben aber eben am Anfang auch gesagt: Erst mal den Leidensdruck in Erfahrung bringen, die Auswirkungen auf den Alltag und dann zunächst einmal mit Fragen nähern und an das Tagebuch denken und dann weitermachen. Das wäre jetzt so der Pfad.

Scherer: Ganz genau. Und wenn Sie wirklich so einen Merksatz haben wollen in grün gehighlightet oder in gelb, dann ist die entscheidende Frage bei Ein- und Durchschlafstörungen, ob der Schlaf erholsam ist oder nicht. Und eine weitere diagnostische Abklärung ist nur bei Symptomen eines nichterholsamen Schlafs erforderlich.

Nößler: Dann haben wir hier noch mal einen Punkt gemacht. Vielen Dank dafür. Und jetzt gehen wir tatsächlich mal zur richtigen Schlafstörung, die einen Krankheitswert auch hat. Und wo man dann auch sagt, ich muss tatsächlich auch an dieser Schlafproblematik jetzt was ändern. Ich kann es nicht ausschließlich durch eine Therapie an der Ursache machen. Mal ganz klar, was ist der Goldstandard? Womit geht man denn therapeutisch als Erstes rein, was sagt da die Evidenz?

Scherer: Also erst mal die Schlafhygiene. Die Schlafhygiene ist so der erste therapeutische Ansatz, zum Beispiel, dass man eine Pufferzone schafft zwischen dem Alltag und dem Zubettgehen. Also dass Sie nicht nach dem Podcast, den wir vielleicht um 23:30 Uhr aufgenommen haben, direkt ins Bett hüpfen. Sondern dass man sich noch mal die Möglichkeit gibt, dass man die Sorgen und Grübeleien des Tages so ein bisschen austrudeln lässt. Dass man vielleicht an ein regelmäßiges Zubettgeh-Ritual gewöhnt, das aber auch nicht länger als 30 Minuten dauern sollte. Dass man das ritualisiert. Wenn man nachts aufwacht, nichts essen. Denn regelmäßiges Essen in der Nacht, das führt innerhalb kürzester Zeit dazu, dass der Körper nachts von selbst wach wird, weil er gefüttert werden will, gib mir was, hast du doch sonst auch gemacht, ich will heute auch was haben. Kein helles Licht, das ist bekannt. Diese Wachmacher, auch mit blauhaltigen Lichtanteilen, also dass man das Display vom PC, Tablet, Smartphone auf Nachtmodus schaltet. Und wenn man spätabends am Gameboy sitzt oder auf den Monitor guckt, dann kann es eben auch den Nachtschlaf stören. Vermeiden, nachts auf die Uhr zu gucken. Der Blick zur Uhr macht meistens Stress, Anspannung und Erregung. Ist, muss ich ganz ehrlich sagen, ein wohlfeiler Rat, das macht jeder, das mache ich auch. Also es könnte ja auch sein, dass man verschlafen hat. Aber was damit gemeint ist, ist, dass man sich eben nicht durch das ständige Auf-die-Uhr-gucken in Rage gucken soll oder in Rage bringen soll. Und dass man sich nach dem Aufstehen am Morgen etwa so eine halbe Stunde lang wirklich auch dem Tageslicht aussetzt. Das Tageslicht ist heller und besser als die künstliche Raumbeleuchtung. Und das hilft, den Schlaf-Wach-Rhythmus zu stabilisieren und hat gleichzeitig eine stimmungsaufhellende Wirkung. Was man nicht machen soll, auf keinen Fall, das ist, dass man irgendwie auf Sparflamme lebt, sondern auch in den Abendstunden angenehmen Aktivitäten nachgeht, und dass man tagsüber einfach sich auf irgendeiner Art und Weise auspowert. Nur so kann man Schlafdruck erzeugen und ohne Schlafdruck kann man nicht schlafen. Also der Tag bestimmt die Nacht. Und nur wenn man tagsüber aktiv ist, seiner Arbeit, seinem Hobby, seinen Interessen nachgeht, dann kann man auch nachts einen erholsamen Schlaf haben. Also ein Beispiel: Urlaub. Wenn ich tagsüber nur rumhänge und einen langen Mittagsschlaf mache, ist es kein Wunder, dass ich nachts nicht schlafen kann. Selbst eine Banalität jetzt, aber so banal ist es eben manchmal.

Nößler: Es ist am Ende wieder so die klassische Lebensstilberatung, die offenkundig sehr oft nötig ist.

Scherer: Ganz genau.

Nößler: Geben Sie Ihren Patientinnen und Patienten hin und wieder auch den Tipp, statt im Bett Buch zu lesen, lieber außerhalb des Betts Buch zu lesen?

Scherer: Das gehört mit zu dieser Abstinenzregel. Also dass man das Bett wirklich nur zum Schlafen benutzen soll, nicht zum Lesen, Trinken, Rauchen, Fernsehen und was man sonst noch alles macht, Kartoffeln schälen. Im Bett soll man nur schlafen, sonst nichts. Sexuelle Aktivitäten sind natürlich davon ausgenommen.

Nößler: Gut. Also Lebensstil, Schlafhygiene ist das entscheidende Stichwort. Lasst das Bett in Ruhe und benutzt es nur zum Schlafen. Das ist dann offenbar notwendig. Wenn jetzt nach diesem Tipp das nicht hilft, wenn trotz der Empfehlung die Schlafhygiene einzuhalten, das Ganze therapierefraktär ist, was machen wir dann?

Scherer: Dann gibt es einen sehr effektives, nicht-medikamentöses Therapieverfahren bei Erwachsenen, das ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnien, abgekürzt KVT-I, also kognitive Verhaltenstherapie für Insomnien. Dafür steht dann das I bei KVT. Das ist eine auf Schlaf fokussierte psychotherapeutische Behandlung. Die kann man machen im Rahmen von Einzelgesprächen oder auch im Rahmen einer Gruppentherapie. Und die kann man wirklich bei Erwachsenen als erste, in Anführungszeichen, richtige Behandlungsoption nutzen, wenn das eben mit der Schlafhygiene nicht klappt. Die Effektstärke ist mittel bis hoch. Die Erfolge sind langfristig doch so, dass sie sich einstellen. Und was ist da drin? Körperliche Entspannung, progressive Muskelrelaxation, Ruhebilder, Fantasiereisen, Achtsamkeitsübungen, Regeln zu einem gesunden Schlaf, Rhythmus für eine neue Strukturierung, alle möglichen Informationen. Aber noch mal das mit der Schlafhygiene. Da sollte man die Flinte nicht zu schnell ins Korn werfen, denn Sie wissen, bei allem, was eine Eigenaktivität erfordert, sagen dann die Patientinnen und Patienten schnell: Es hat nicht geholfen. Und dann muss man dann auch erst mal am Ball bleiben, Folgetermine machen, noch mal nachfragen, wie genau, was haben Sie jetzt gemacht mit Schlafhygiene. Also da einfach sorgfältig hinterhergehen und nicht zu schnell nachlassen. Natürlich die Patienten auch nicht zu sehr nerven damit. Das muss man austarieren. Das weiß jemand, der von morgens bis abends Patienten sieht, dass man da nicht zu lästig sein darf damit. Aber jetzt auch nicht einfach sofort als Erstes eine KVT aufschreibt, sondern erst mal versuchen mit der Schlafhygiene.

Nößler: Schon wieder so ein Merksatz ist: Greift nicht zu schnell zur Heilmittelverordnung.

Scherer: Genau. Wobei es sich hier gar nicht um eine klassische Heilmittelverordnung handelt. Aber wir wissen, was Sie meinen.

Nößler: Es gibt ja seit Ende letzten Jahres die DiGA, die Digitale Gesundheitsanwendung, die Apps auf Rezept, wenn man so will. Das weiß mittlerweile jeder, die kann man verordnen, sobald sie in dem DiGA-Verzeichnis beim BfArM gelistet sind. Ich glaube, es ist einfach DiGA.BfArM.de. Und da sind jetzt schon einige Apps drin. Unter anderem gibt es da auch so Schlafhelferlein. Und die Apps, damit sie dort gelistet werden, müssen entweder einen Wirkungsnachweis bringen, klassisch über eine RCT oder sie haben zumindest ein Jahr Zeit, wenn sie über so ein FastTrack reinkommen. Und da gibt es mittlerweile auch Schlaf-Apps, die so ein bisschen eine KVT digital quasi simulieren/unterstützen sollen. Weiß man denn dazu schon etwas, ob das helfen kann?

Scherer: Da muss ich offen zugeben, dass ich mir die jetzt im Vorfeld nicht angeschaut habe. Aber es leuchtet mir ein, und vielen anderen auch, dass vieles von dem, was ich erzählt habe, natürlich sehr gut in so einer App unterzubringen ist. Also mir wäre es am liebsten, wenn ich mir vorstelle, so ein Schlaftagebuch über vier Wochen, wenn das durch eine App so ein bisschen vorstrukturiert wird, wenn das über die App strukturiert eingegeben wird. Oder so ritualisierte Dinge, die lassen sich auch sehr gut in der App abbilden. Also klingt jetzt erst mal vielversprechend, müsste man sich mal genauer anschauen. RCTs sind mir dazu jetzt nicht bekannt. Müsste ich noch mal nachgucken als Hausaufgabe.

Nößler: Okay. Das Thema Insomnie kann man auch noch mal in einer anderen Episode, in einer weiteren aufgreifen. Ich würde mal sagen, Herr Scherer, ich mache mal Folgendes: Wir packen einfach mal aus dem DiGA-Verzeichnis die dort gelisteten Apps – das sind nicht viele, also eine ist es ganz sicher – die für die Diagnose oder bei der Indikation Insomnie dort zugelassen sind, in die Shownotes. Dann kann da jeder auch mal draufklicken, wenn es interessiert und sich selbst mal anschauen, was ist das für eine App. Und dann kann man ja auch selbst mal überlegen, käme das für mich in der Praxis infrage? Will ich das mal probieren?

Scherer: Genau.

Nößler: Gut. Also wir haben gesagt Schlafhygiene. Das ist mal der allererste therapeutische Versuch. Da auch nicht zu früh aufgeben. Der Zweite wäre dann die KVT. Wir wissen, es gibt Apps, da können wir jetzt an dieser Stelle noch nicht viel sagen über die Evidenz, das können wir dann mal nachholen vielleicht. Jetzt kann es natürlich so sein, das ist ja auch der Klassiker, vor allem auch in der hausärztlichen Praxis, nein, ich glaube in jeder ärztlichen Praxis: Patient kommt hin, empfindet einen gewissen Leidensdruck und manchmal gibt es dann die Erwartung, schreib mir was bitte auf, auf Muster 16, ich will jetzt irgendein Drops, der mir das Problem löst. Das kennen wir ja alle. Weil auch vielleicht die Vorstellung Schlafhygiene, Verhaltenstherapie vielleicht aus Patientensicht mit Aufwand verbunden ist und nicht die schnelle Heilung verspricht. Wie nimmt man denn die Betroffenen dann mit? Da müssen Sie ja erst mal vermitteln, dass das jetzt sehr gut wäre für dich. Wie würden Sie mich überzeugen, dass ich da mitmache?

Scherer: Mit Zeit, mit Empathie, mit einer strukturierten Gesprächsführung. Und vor allem auch – das ist vielleicht das Wichtigste –, dass man dem Thema Schlaf den nötigen Raum gibt. Denn die wenigsten Patientinnen und Patienten kommen wegen Schlafstörungen als primären Beratungsanlass in die Praxis. Die Frage: Können Sie mir nicht mal etwas zum Schlafen aufschreiben? – so fängt ja in der Regel die Konsultation zum Thema Schlaf an – die kommt meistens am Ende einer Konsultation, nachdem man fünf andere Themen bearbeitet hat. Dann redet man über unterschiedliche Beratungsanlässe. Und im Rausgehen wird dann noch gesagt: Hey, und zum Schlafen bräuchte ich auch noch was. Und ab dem Punkt fängt es eigentlich schon an, dass man sagt: Moment ... Also man guckt auf die Uhr, es kommt darauf an, wie voll das Wartezimmer ist. Also entweder: Jetzt setzen Sie sich noch mal hin, jetzt nehmen wir uns noch mal die zehn Minuten Zeit. Das ist schon ein Thema. Da machen wir jetzt einen Folgetermin zu. Und widmet dann dem Thema Schlaf noch mal eine eigene Konsultation. Es braucht einfach Zeit. All diese Folgespräche, wie war es denn so im Schlaftagebuch, wie war es mit der Schlafhygiene uns so weiter – dafür braucht man einen eigenen Slot für in der Sprechstunde. Das ist so ein ganz wichtiger Punkt. Man kann das Thema nicht so nebenbei neben fünf anderen behandeln.

Nößler: Da haben wir dann wieder den Aspekt sprechende und hörende Medizin und das Thema, inwieweit das hinreichend vergütet wird. Das ist dann ein anderes Thema, aber betrifft natürlich auch die Berufsausübung ganz essenziell, die Zeit sich nehmen zu können.

Scherer: Ja. Sagen vielleicht viele: Ich habe die Zeit nicht. Aber sie sparen die Zeit dadurch, dass sie sich dann eben nicht mit vorschnellen Verordnungen rumschlagen müssen. Also das ist ja das, was wir wollen. Wir wollen ja die Benzodiazepine auf keinen Fall verschreiben. Und Z-Substanzen nach Möglichkeit auch nicht. Das ist natürlich ein gewisser Effort, den man dann erbringen muss. Weil das augenscheinlich erst mal für beide Seiten bequemer ist, einfach Medikamente aufzuschreiben. Rezept, zack, fertig, Ende, Tschüss. All die Dinge, über die wir gerade gesprochen haben, die sind aufwendig, klar. Aber meine These wäre oder auch meine feste Auffassung, dass dieses zeitliche Investment sich eben doppelt und dreifach auszahlt.

Nößler: Jetzt haben Sie sie genannt, die Benzos, die Z-Drugs, die Z-Substanzen und jetzt eskalieren wir therapeutisch mal: Ab wann sind wir denn an dem Punkt, dass wir sie überhaupt in Erwägung ziehen sollten?

Scherer: Wenn die KVT nicht ausreichend wirkt oder nicht durchführbar ist, dann wäre so ein Punkt erreicht, wo man sagt, okay, das haben wir nicht-medikamentös das Feuerwerk abgebrannt, jetzt können wir mal in die pharmakologische Ecke schauen.

Nößler: So, und dann die klare Frage aus EBM-Sicht: Berta oder Zeppelin? In welches Kästchen greifen Sie zuerst?

Scherer: Also Benzodiazepine vermeide ich tunlichst. Sie sind zwar bei einer Anwendung über drei bis vier Wochen effektiv und auch zur Behandlung der Insomnie zugelassen, aber die neuere Medikamente, die sogenannten Z-Substanzen, die haben kürzere Halbwertszeiten, die haben kaum Hangover-Effekte und auch geringere Auswirkungen auf die morgendliche und auf die psychosoziale Leistungsfähigkeit. Auch das Fahren, das Arbeiten, das wird eigentlich kaum beeinträchtigt. Aber auch die sind eben nicht zur Langzeitbehandlung empfohlen, immer nur kurz.

Nößler: Also die Rede war so bis zu vier Wochen.

Scherer: Ganz genau. Also generell gilt: so kurz wie möglich, so gering dosiert wie möglich, mit einer geringen Dosis beginnen. Die Wirkung über mehrere Tage abwarten, Wirkung kurzfristig überprüfen, zum Beispiel über Gespräch, Folgetermin, Telefonat. Und die Z-Substanzen möglichst nur an maximal drei frei wählbaren Tagen in der Woche nutzen, um eine Gewöhnung und eine Wirkungsabschwächung zu vermeiden. Und bei unzureichender Wirkung der Z-Substanzen kann man auch mal auf niedrig dosierte Antidepressiva wechseln. Da wäre dann die Einnahme täglich. Aber noch mal: Von der medikamentösen Langzeittherapie ist absolut abzuraten. Wird auch anhand der Studienlage überhaupt nicht befürwortet.

Nößler: Und dann haben wir noch Spielereien im Armamentarium, sage ich mal, also Melatonin, wissen wir, Schlaf-Wach-Hormon, dann haben wir das Thema Baldriantinktur, der Klassiker aus der Hausapotheke. Dazu können wir aber gar nicht so viel sagen. Oder wie ist es?

Scherer: Also für Pharmaka wie Baldrian, Hopfen, Melisse, dann gibt es noch die Passionsblume für all diese Dinge, da können wir schon was sagen, nämlich dass die Datenlage unzureichend ist, sodass es eben auch keine Empfehlung dazu gibt. Man kann es probieren, aber so wie man eben auch andere Sachen probiert. Eine Frage wäre zum Beispiel Placebo. Und diese Frage wurde auch in vier Metaanalysen untersucht. Die Ergebnisse sind unterschiedlich. Eine Arbeitsgruppe fand wenig Evidenz, vor allem Placebo-Effekt. Drei andere Gruppen haben schon was gefunden. Und wir sehen, dass es schon Einflüsse hat auf subjektive Parameter wie Schlaflatenz, Schlafdauer, zum Teil auch auf objektive Messwerte.

Nößler: Interessant.

Scherer: Ganz ehrlich, die Hauptbotschaft soll sein, nichtmedikamentöse Behandlungen zu favorisieren und zu den Medikamenten nach Möglichkeit mit sehr strenger Indikationsstellung greifen.

Nößler: Dann haben Sie jetzt aber schon so ein therapeutisches Stufenschema hier skizziert. Wie gehe ich vor? Das fand ich jetzt so im Gespräch relativ stringent. Vielleicht so zum Ende hin noch, was ja auch in dieser Arbeit von 2019 herausgefunden wurde, ist eben dieser Unterschied, den Sie eingangs erklärt haben, dass eben jede zweite Verordnung von Benzos oder eben Z-Drugs auf Privatrezept, die andere auf Muster 16 erfolgt, die andere Hälfte. Und dass die Hausärzte das so ein bisschen auch festgemacht haben: Ja, bei einem Substanzabusus oder unkomplizierten Geschichten nehme ich erst ein Privatrezept. Und sobald ich dann eine manifeste problematische Problematik irgendwie im Hintergrund sehe, dann greifen Sie dann eher doch zur GKV-Verordnung. Was könnte denn diesen Unterschied erklären, warum man da so unterschiedlich vorgeht?

Scherer: Möglicherweise spielen da Regresse eine Rolle beziehungsweise Regressangst. Also Muster 16 ist vorgesehen für die Verordnung von Arznei- und Verbandsmitteln, Hilfsmittel, mit Ausnahme von Seh- und Hörhilfen. Und beim Privatrezept ist es eben so, dass man die Medikamente selbst bezahlen muss. Und da hat sich so ein bisschen eingebürgert, dass das auch dann verwendet wird, wenn es sich um eine Wunschverordnung handelt und ich eigentlich nicht so richtig dahinterstehe, wo ich der Auffassung bin, egal ob privat oder Kassenrezept, ich verordne grundsätzlich nur noch Dinge, hinter denen ich auch dahinterstehe. Da muss ja auch meine Unterschrift da drauf. Ich will ja nicht meine eigene Unterschrift entwerten.

Nößler: Und wenn man dahinterstehen kann, das auch medizinisch gut begründen kann und dann Stichwort Regressdrohung, wir haben ja in fast allen KV-Regionen mittlerweile das System Beratung vor Regress. Dann müsste man bei einer Nachfrage, die über eine Kasse getriggert wird, das eigentlich dann auch relativ begründen können im Zweifel.

Scherer: Ganz genau.

Nößler: Was ja auch interessant war in diesem Zusammenhang, das hatten Sie eingangs auch erzählt, dass so als Begründung in dieser Grounded-Theory-Arbeit herauskam, dass das Privatrezept als Barriere verstanden wird. Auf der einen Seite dem Betroffenen, der Betroffenen doch eine Möglichkeit zu offerieren und sagen, ich kann dir helfen, es gibt etwas. Aber eben über die Privatverordnung, sprich es belastet dann den eigenen Geldbeute – englisch, wissen wir alle, out-of-pocket expenditures – da so ein bisschen eine Barriere herzurichten. Das klingt dann schon so ein bisschen nach Dealer, oder? Ist es zu hoch gegriffen?

Scherer: Sagt das jetzt der Chefredakteur der Ärzte Zeitung oder der Chefredakteur der Bild-Zeitung? Arzt als Dealer.

Nößler: Den müssten wir mal einladen. Ich weiß gar nicht, ob wir das wollen.

Scherer: Na gut. Aber in dieser doch sehr pointierten Ausdrucksweise „Arzt als Dealer“, die ich so übrigens nie verwenden würde, aber Sie dürfen das, schwingt ja so ein bisschen mit, dass es sich hier um keine klassische ärztliche Handlung handelt. Das ist eben genau dieser Konflikt, in dem man sehr oft steht, dass man mit einem Wunsch konfrontiert wird und sich in der Position sieht, als Erfüllungsgehilfe zu fungieren. Und da kann ich die Kolleginnen und Kollegen nur ermutigen, eben diese Erfüllungsgehilfenrolle nicht anzunehmen.

Nößler: Dann wird man auch nicht Dealer.

Scherer: Ganz genau.

Nößler: Vielleicht zum Abschluss, Herr Scherer, Sie hatten ja gesagt: Wenn man denn wirklich dann überhaupt erst an den Punkt kommt, Benzos oder Z-Substanzen einzusetzen, bitte Kurzzeittherapie, bis zu vier Wochen immer wieder auch überprüfen, ob es noch notwendig ist. Da ist vielleicht für alle – die meisten werden es eh wissen – noch mal der Hinweis auf die Arzneimittelrichtlinie vom GBA hilfreich, mit Blick auf die Regressangst, wo dann eben doch erlaubt ist, in einem gewissen Zeitrahmen das zu verordnen.

Scherer: Also zur Kurzzeittherapie bis zu vier Wochen. Und für eine längere Behandlung, die über vier Wochen hinausgeht, nur in medizinisch begründeten Einzelfällen. Aber die müssen dann wirklich sehr gut begründet sein und auch belastbar für Nachfragen.

Nößler: Das ist die Ziffer 45 in der Anlage 3. Ich glaube, die verlinken wir auch. Es macht jedem Freude, wenn er sie nicht ausgedruckt zu liegen hat. Herr Scherer, das war heute wieder einmal eine sehr umfassende Episode, wenn ich auf meine Uhr schaue, die hier läuft. Ich würde sagen, wir sind an dem Punkt, dass wir den Hörerinnen und Hörern danken, dass sie zugehört haben. Dass wir Ihnen sagen, Sie können sich an Evidenz-Update@Springer.com wenden per E-Mail, wenn Sie uns etwas mitteilen möchten. Und wo ich Sie fragen möchte, wie es denn mit einem Cliffhanger aussehe.

Scherer: Also ich werde jetzt erst mal für die nächsten zwei Wochen an einer süditalienischen Klippe hängen. Und danach können Sie mich fragen, wie es war und mit mir vielleicht über so Themen wie Gesundheitskompetenz und Delegation und Substitution sprechen.

Nößler: Hui, das klingt gleich nach zwei Podcast-Cliffhanger, die Sie hier machen.

Scherer: Mal sehen, ob ein oder zwei. Wir haben dann auch einen Überraschungsgast dabei. Aber mehr sagen wir noch nicht.

Nößler: Also Herbstferien für Martin Scherer, an süditalienischen Klippen. Dann bedanke ich mich an dieser Stelle für das feine Gespräch heute. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit im Süden. Bleiben Sie gesund, fröhlich! Und ich würde mich freuen, wenn wir uns wieder hören an gleicher Stelle und auf gleicher Welle.

Scherer: Tschüss und auf Wiedersehen auch von mir. Ahoi!

Quellen

  • Schmalstieg-Bahr K, Müller CA, Hummers E. General practitioners‘ concepts on issuing out-of-pocket prescriptions for hypnotics and sedatives in Germany. Fam Pract 2019;36:785–90. doi: 10.1093/fampra/cmz018
  • Chung F, Yegneswaran B, Liao P, et al. STOP Questionnaire. Anesthesiology 2008;108:812–21. doi: 10.1097/aln.0b013e31816d83e4
  • Stiftung Gesundheitswissen. Mein Schlaftagebuch. www.stiftung-gesundheitswissen.de (letzter Zugriff: 30.9.2021)
  • DiGA-Verzeichnis. somnio (App auf Rezept), indiziert bei F51.0 (Nichtorganische Insomnie). diga.bfarm.de (letzter Zugriff: 30.9.2021)
  • GBA. Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL). Anlage III: Übersicht über Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse. www.g-ba.de (letzter Zugriff: 30.9.2021)

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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

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