Transplantations-Skandal

BÄK-Vorgaben verfassungswidrig

Der Transplantationsskandal an der Uniklinik Göttingen endete im Mai 2015 mit Freispruch für den angeklagten Chirurgen. In ihrer schriftlichen Urteilsbegründung üben die Richter harsche Kritik an der Bundesärztekammer.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Der angeklagte Chirurg (Mitte) nach dem Freispruch im Mai 2015 im Gespräch mit seinen Anwälten.

Der angeklagte Chirurg (Mitte) nach dem Freispruch im Mai 2015 im Gespräch mit seinen Anwälten.

© Swen Pförtner/dpa

GÖTTINGEN. Neun Monate nach dem Ende des Prozesses um den Transplantationsskandal am Göttinger Uni-Klinikum hat das Landgericht Göttingen am Dienstag eine gekürzte und anonymisierte Fassung des Urteils vorgelegt. Das vollständige Urteil ist 1231 Seiten lang (Az. 6 Ks 4/13).

Die jetzt veröffentlichte Fassung wurde um etwa die Hälfte gekürzt und umfasst 598 Seiten. Die Kürzungen seien im Hinblick auf schutzwürdige Interessen des Angeklagten vorgenommen worden, teilte ein Gerichtssprecher mit. Sämtliche Aspekte, die für die Entscheidung der Kammer maßgeblich gewesen seien, seien aber in der gekürzten Fassung enthalten.

Die Schwurgerichtskammer hatte im Mai 2015 den früheren Leiter der Göttinger Transplantationschirurgie freigesprochen. Das Gericht war am Ende des 20 Monate dauernden Prozesses zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte sich in keinem der insgesamt 14 angeklagten Fälle strafbar gemacht habe.

Die Staatsanwaltschaft hatte dagegen acht Jahre Haft und ein lebenslanges Berufsverbot gefordert. Ihrer Ansicht nach hat sich der Chirurg in elf Fällen des versuchten Totschlages sowie in drei Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht.

Er sei dafür verantwortlich, dass an der Göttinger Universitätsmedizin systematisch Patientendaten manipuliert und falsche Angaben gegenüber der Organverteilungsstelle Eurotransplant gemacht wurden.

Richtlinien und Verfahrensabläufe im Blick

Damit habe er billigend in Kauf genommen, dass andere Patienten auf der Warteliste nach hinten rutschten und der Gefahr eines früheren Todes ausgesetzt wurden.

Das Gericht setzt sich in seinem Urteil nicht nur mit den einzelnen Tatvorwürfen, sondern auch mit den allgemeinen Richtlinien und Verfahrensabläufen in der Transplantationsmedizin auseinander.

Einer der Hauptgründe für den Freispruch war, dass die Richter mehrere Richtlinien der Bundesärztekammer, gegen die der Angeklagte verstoßen hatte, für "evident verfassungswidrig" halten.

So ist die in der aktuell gültigen Richtlinie der BÄK geregelte Voraussetzung, dass Patienten mit alkoholinduzierter Leberzirrhose mindestens sechs Monate eine völlige Alkoholabstinenz eingehalten haben müssen, aus Sicht des Gerichts verfassungswidrig und somit rechtlich unverbindlich.

Der ausnahmslose Ausschluss solcher Patienten von der Aufnahme in die Warteliste verstoße gegen Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes ("Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.").

Zwar könne im Einzelfall bei schwerem Alkoholabusus oder schwerer Alkoholabhängigkeit aus medizinischen Gründen eine Lebertransplantation kontraindiziert sein.

"Dies rechtfertigt jedoch nicht einen pauschalen und ausnahmslosen Ausschluss von Patienten mit alkoholinduzierter Leberzirrhose, die keine sechsmonatige Alkoholabstinenz nachweisen können", heißt es.

34-seitige Revisionsbegründung

Die in den Richtlinien festgelegte Karenzzeit sei nur dadurch erklärbar, "dass diese Patienten gegenüber anderen Patienten benachteiligt werden, weil ihre Erkrankung als selbstverschuldet angesehen wird". Eine derartige "auf dem Selbstverschuldungsgedanken basierende Posteriorisierung (sei) verfassungswidrig", so das Gericht.

Die Staatsanwaltschaft hat im Dezember vergangenen Jahres gegen das Urteil Revision eingelegt. Die 34-seitige Revisionsbegründung beschränke sich auf die materiell-rechtlichen Probleme, sagte eine Sprecherin. Die Revision hat zur Folge, dass sich demnächst der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Fall beschäftigen wird.

Da es bislang keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesen Fragen gibt, wird das Votum des zuständigen BGH-Senats in Leipzig auch andernorts mit großer Spannung erwartet.Wie unsicher die Rechtslage ist, zeigt sich auch daran, dass die weiteren Anklagen gegen Transplantationsmediziner anderer Kliniken sehr unterschiedlich ausgefallen sind.

Die BGH-Entscheidung wird allerdings noch längere Zeit auf sich warten lassen. Nach Angaben einer Sprecherin liegt der Fall dort noch gar nicht vor.Auch ein zweites Verfahren gegen den Göttinger Chirurgen, das bei der Staatsanwaltschaft Regensburg anhängig ist, zieht sich in die Länge.

Man warte noch auf ein Sachverständigengutachten, teilte ein Sprecher mit. Der Chirurg war vor dem Wechsel nach Göttingen an der Uniklinik Regensburg tätig gewesen. Auch dort soll es zu Manipulationen gekommen sein.

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