Corona-Pandemie
Corona-Thesenpapier: Experten geißeln RKI-Methode als sozial unausgewogen
Man komme leichter in die Krise hinein als wieder heraus, stellt eine Gruppe von Wissenschaftlern fest. Sie haben die soziale Dimension der Corona-Pandemie im Blick und fordern einen festeren Daten-Untergrund für gezieltere Prävention.
Veröffentlicht:Berlin. Eine Wissenschaftlergruppe um den ehemaligen Gesundheitsweisen Professor Matthias Schrappe und den Kassenverbandsvorstand Franz Knieps geht davon aus, dass sich das Ausbruchsgeschehen rund um das Coronavirus derzeit beherrschen lässt. „Es droht keine unkontrollierbare zweite Welle“, heißt es im dritten Thesenpapier der Gruppe seit letztem April.
Scharfe Kritik üben die acht Wissenschaftler am Umgang mit den Zahlen zur Pandemie. Das Robert Koch-Institut (RKI) unterscheide nicht zwischen Infizierten und Erkrankten, lautet ein Vorwurf. Bei einem hohen Anteil asymptomatisch Infizierter führe diese Betrachtung zu einer „irrelevanten Zahlenbasis“, da für Deutschland keine repräsentativen Untersuchungen vorlägen. Es stehe zu befürchten, dass auf dieser Basis ohne Not eine zweite Welle ausgerufen und Corona-bedingte soziale Verwerfungen vertieft werden könnten.
Differenziertere Darstellung
Ganz so einfach ist es aber nicht: Tatsächlich stellt das RKI der Zahl der positiv auf das Virus getesteten Menschen eine geschätzte Zahl bereits Genesener gegenüber. Ziehe man diese von der Zahl der labordiagnostisch bestätigten Fällen ab und subtrahiere zudem die Zahl der Verstorbenen, erhalte man die Zahl der „aktiv Infizierten“. Dies wiederum lasse Rückschlüsse auf Versorgungsrisiken zu, zum Beispiel die Inanspruchnahme der Krankenhäuser und der Intensivstationen, hieß es dazu bereits bei verschiedenen öffentlichen Äußerungen von RKI-Vertretern.
Die angenommene Ausrichtung der Berichterstattung alleine auf das Gesundheitswesen reicht den Autoren des Thesenpapiers aber nicht. Sie haben gleichwohl eine alternative Darstellung der Zahlen zu Corona entwickelt. Dabei wird zum Beispiel stärker zwischen einem sporadischen und einem lokalen Ausbruchsgeschehen zuzuordnenden Fällen unterschieden.
Zudem werden die täglichen Neuinfektionen in klinische Schweregrade eingruppiert. Sie reichen von asymptomatisch zum Zeitpunkt der Diagnose über stationär behandlungspflichtig, intensiv, mit Beatmung bis zum Tod. Neuinfektionen sollen demnach in Bezug zum regionalen Testumfang gesetzt werden.
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Ferner sollten Neuinfektionen und Erkrankungen für die Gesundheitsberufe, Pflegebedürftige, Schulkinder und weitere Gruppen getrennt aufgeführt werden. Zudem sollten die Kohorten über alle Phasen der Infektion longitudinal begleitet werden.
Sichere Basis für Prävention
Mit einer solchen Umstellung des öffentlichen Berichtswesens lasse sich die Prävention auf eine sicherere Basis stellen, argumentieren die Autoren. Aber: In eine „Strategie der stabilen Kontrolle“ müssten zusätzlich zu den epidemiologischen Zahlen gewichtete ökonomische Kennzahlen zur Entwicklung der kommunalen Finanzen, der Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungleichheit ebenso einfließen wie solche zur Entwicklung der Grundrechte und der Wissensvermittlung vom Kindergarten bis zur Universität.
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Hintergrund dieses Ansatzes ist die soziale Situation vor allem von Frauen, Kindern und weiterer vulnerabler Gruppen und ihrer psychosozialen Belastungen, die sich unter den Bedingungen der Alltagsbeschränkungen verschärft hätten. Die Experten empfehlen ex ante-Präventionsstrategien, die auch aufsuchende sozialmedizinische Interventionen einschließe. Der Ausbau von Prävention sei auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geboten. Wo zielgerichtete Prävention möglich sei, verböten sich zum Beispiel generelle Kontakt-und Besuchssperren.
Paternalismus besorgt
Die Autoren zeigen sich besorgt, ob des paternalistischen Regierungshandelns und der bereitwilligen Zustimmung einer „hochgradig individualistisch geprägten Gesellschaft“ zum Eingriff in ihre Grundrechte. Mit Blick auf das Arzt-Patientenverhältnis und die Situation Pflegebedürftiger bemerken sie, dass tief verwurzelte kulturelle Gewissheiten wie die Achtung vor dem Tod und die Bedeutung der menschlichen Nähe in existenziellen menschlichen Krisensituationen abgelöst würden von Abgrenzung, Plexiglas und Pandemieplänen. Ihr Fazit: „Man kommt leichter in die Krise hinein als wieder heraus.“
Die Autoren des Corona-Thesenpapiers
Hedwig Francois-Kettner, Ex-Pflegedienstleiterin der Charité und ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit
Dr. Matthias Gruhl, bis Mitte Mai Staatsrat in der Hamburger Gesundheitsbehörde
Professor Dieter Hart vom Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht der Universität Bremen
Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbands
Professor Holger Pfaff, Zentrum für Versorgungsforschung der Universität Köln und ehemaliger Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds
Professor Klaus Püschel, Pathologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Professor Gerd Glaeske, ebenfalls ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit