Krisen überwinden
Digitale Unterstützung für Trauernde – und für Kindesmissbrauchstäter
Forschungsprojekte in der Psychiatrie gelten als schwierig, weil Therapien meist aus vielen Komponenten bestehen. Auf dem Vormarsch sind Web-basierte Therapieansätze in sehr verschiedenen Einsatzgebieten, wie etwa der Trauerbewältigung bei älteren Menschen oder in der forensischen Psychiatrie.
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Ein internetbasiertes Selbstmanagementprogramm für Trauernde zwischen 60 und 77 Jahren hat eine hohe Akzeptanz bei den Nutzern.
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Berlin. Digitale Gesundheitsanwendungen (Apps) sind möglicherweise ein vielversprechender Ansatz in der Psychiatrie, um Krisen zu überwinden oder diese auch zu vermeiden. Projekte dazu wurden beim digitalen Hauptstadtsymposion der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie vorgestellt.
Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung eines internetbasierten Selbstmanagement-Programms für Trauernde über 60 Jahre (trauer@aktiv). Es ist Bestandteil der internationalen Agewell-Studie, die 60- bis 77-jährige Patienten von Hausärzten einschließt, die ein Risiko für psychische und psychiatrische Krankheiten haben.
Dabei wird eine Multikomponentenintervention eingesetzt, die auf Ernährungsberatung, erhöhte körperliche Aktivität, kognitives Training, Förderung sozialer Aktivität und Interventionen bei Trauer und depressiver Symptomatik abzielt. Die Agewell-Studie ist weltweit angelegt, neben großen Teilen aus Europa nehmen Patienten vom gesamten amerikanischen Kontinent, China, Indien und Australien teil.
Speziell für ältere Patienten, die einen Partner oder ein Familienmitglied verloren haben, ist ein internetbasiertes Programm entwickelt worden – ein aus verschiedenen Modulen bestehender Werkzeugkasten zur eigenständigen Trauerbewältigung, berichtete Professorin Steffi Riedel von der Uni Leipzig: die einzelnen Module behandeln die Themen Abschied und Trauer, geben Raum für Erinnerungen, unterstützen die Entwicklung hilfreicher Gedanken, erleichtern das Abschiednehmen und helfen beim Aufbau neuer Beziehungen.
Hohe Akzeptanz
Erste Evaluationen in Pilotstudien – vor Start in eine randomisierte kontrollierte Studie, die die Wirksamkeit des Selbstmanagement-Programms zeigen soll – deuten auf eine hohe Akzeptanz sowohl bei Nutzern wie bei Experten hin. 83 Prozent der Befragten zeigten sich hoch zufrieden und bescheinigten dem Programm eine „exzellente Usability“.Nach Einschätzung von Riedel steigt die Akzeptanz von Digitaltechniken bei älteren Menschen derzeit sprunghaft.
Ein anderes Beispiel für den Einsatz von Digitaltechniken ist die App @mytabu, die von der Universitätsmedizin Göttingen mit den Unis Erlangen-Nürnberg und Hamburg-Eppendorf sowie der Hochschule der Polizei und der Kriminologischen Zentralstelle zur Online-Intervention für Kindesmissbrauchstäter während der Bewährungs- und Führungsaufsicht entwickelt wurde.
Der Hintergrund, so Professor Jürgen L. Müller, forensischer Psychiater an der Uni Göttingen: Die Zahl der Missbrauchstäter in der Führungsaufsicht steigt, die Täter haben ein hohes Rückfallrisiko, es gibt chronische Versorgungsengpässe, weil Versorgungszentren keine verurteilten Kinderpornografie- und Missbrauchstäter aufnehmen, niedergelassene Psychiater oder Psychotherapeuten die Zielgruppe nicht behandeln und generell Unterversorgung in ländlichen Regionen besteht.
Die App ermöglicht eine von Therapeuten begleitete Online-Intervention, eine fortlaufende Online-Risiko-Einschätzung und zielt auf evidenzbasierte Risikofaktoren. Sie entlastet die Bewährungshelfer und ermöglicht eine professionellere Versorgung auch in ländlichen Regionen. Sie ist zugleich ein Beitrag für den Schutz der Öffentlichkeit.
In einer randomisierten klinischen Studie wird die Wirksamkeit dieses Instruments überprüft. Nach Abschluss dieser Studie könnte @mytabu umgehend den sozialen Diensten der Justiz im Rahmen einer Non-Profit-Disseminationsstrategie zur Verfügung gestellt werden.
Therapieoptionen für Straftäter
Virtual Reality als neue digitale Technik verspricht laut Müller etliche Anwendungsmöglichkeiten in der forensischen Psychiatrie: als eine ergänzende Therapieoption für psychisch kranke Straftäter, als Möglichkeit der Risikoprognose und schließlich auch für das Training für Personal und Therapeuten – und zwar ohne eine Gefährdung Dritter. Virtual Reality-basierte Verhaltenstests seien auch auf hochgesicherten Stationen möglich.