Robert Bosch Stiftung will Neustart

„Echtes Gesundheitssystem“ statt „Krankensystem“

Mehr Kommune und mehr Bürgerpartizipation, mehr Prävention und Patientenbeteiligung: Die Robert Bosch Stiftung hat gemeinsam mit Gesundheitsspezialisten und Bürgern eine Zukunftsagenda für das Gesundheitssystem entworfen. Die Versorgungsgegenwart bekommt unterdessen saftige Kritik ab.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Personen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedenen Alters bei der Gymnastik mit Gymnastikbällen.  Prävention sollte künftig eine stärkere Rolle spielen, fordern Bürger und Gesundheitsexperten. Aus dem „Krankheitssystem“ solle ein „echtes Gesundheitssystem“ werden.

Prävention sollte künftig eine stärkere Rolle spielen, fordern Bürger und Gesundheitsexperten. Aus dem „Krankheitssystem“ solle ein „echtes Gesundheitssystem“ werden.

© contrastwerkstatt / stock.adobe.com

Berlin. „Eingemauert in Partikularinteressen, immun gegen Weiterentwicklung“. So beschreibt die am Freitag vorgestellte „Zukunftsagenda für Gesundheit Partizipation und Gemeinwohl“ der Robert Bosch Stiftung das Gesundheitswesen in Deutschland. Die Agenda ist in den vergangenen drei Jahren unter Beteiligung von etwa 700 zufällig ausgewählten Bürgern plus 40 Experten aus dem Gesundheits- und Sozialwesen erarbeitet worden. Sie fordert eine radikale Neuausrichtung des Systems auf Gesundheitsförderung und Prävention, einen Neustart. Aus dem „Krankheitssystem“ solle ein „echtes Gesundheitssystem“ werden, fordern die Autoren.

Die Adressaten sind benannt: „Wir hoffen auf Berücksichtigung der Agenda bei den Koalitionsverhandlungen nach den Bundestagswahlen“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Robert Bosch Stiftung, Professor Joachim Rogall, zur Eröffnung eines „Gesundheitsgipfels“, am Freitag, bei dem die „Neustart-Agenda“ präsentiert wurde.

Forderung nach starkem ÖGD

Zentrale Forderungen sind, die Verantwortung für öffentliche Gesundheit stärker bei den Kreisen, Städten und Gemeinden anzusiedeln. Darüber soll das von Horst Seehofer (CSU) einst eingestellte Bundesgesundheitsamt als „Nationales Zentrum für öffentliche Gesundheit“ als Anlaufpunkt für die Vernetzung der kommunalen Aktivitäten wieder auferstehen.

Eine Mehrheit der Teilnehmer an dem Agenda-Prozess hat sich zudem für ein solidarisches Versicherungssystem in Form einer „allgemeinen Krankenversicherung“ für alle mit optionalen Zusatzleistungen ausgesprochen. Zur Prävention gehört nach Auffassung der befragten Bürger auch eine höhere Besteuerung gesundheitsschädlicher Nahrungs- und Genussmittel.

Primärversorgung in Zentren

Der Handlungsbedarf und die spezifischen Bedürfnisse in den Regionen soll gemäß der Agenda auf der Grundlage digital generierter Gesundheitsdaten definiert werden. Großes Potenzial sehen die Experten in Primärversorgungszentren. „In der ländlichen Versorgung gibt es einen Riesenmangel“ sagte die Leiterin des Themenbereichs Gesundheit bei der Stiftung, Dr. Bernadette Klapper.

Solche Zentren sollten multiprofessionell aufgestellt sein, Zugang zu hausärztlicher Versorgung, zu Physiotherapie und Psychotherapie ermöglichen sowie Sozialarbeit anbieten. Zudem könnten sie die Aufgaben kleinerer Krankenhäuser übernehmen, die wirtschaftlich nicht mehr zu betreiben seien. Die Standorte für solche Zentren wiederum könnten in Kommunalen Gesundheitskonferenzen als Dreh- und Angelpunkte der Versorgungsplanung ermittelt werden.

Die technische Umgestaltung des Gesundheitssystems soll begleitet werden durch eine Stärkung der Gesundheitskompetenz der Menschen aller Altersstufen und der daraus resultierenden Befähigung, in Entscheidungsprozesse eingebunden werden zu können.

Busse: „Wo sind denn die Daten?“

Die Neustart-Agenda der Robert Bosch Stiftung steht in einer Reihe mit der „Berliner Erklärung“, die im September 2020 von der TU-Berlin, dem forschenden Pharmaunternehmen Pfizer und Springer Medizin („Ärzte Zeitung“) veröffentlicht wurde. Dass Thema Gesundheit müsse letztendlich in allen Ministerien verankert werden, sagte der wissenschaftliche Leiter der Berliner Erklärung, Professor Reinhard Busse von der TU Berlin, am Freitag in einer Diskussionsrunde.

Busse warnte davor, die Resilienz des Gesundheitssystems in Deutschland zu überschätzen. „Wo sind denn die Daten, die belegen, dass wir gut sind?“, fragte der Gesundheitsökonom in die Runde. Vor Corona habe man zum Beispiel nicht gewusst, wie viele Intensivbetten es gab.

Neugebauer: „Bananenrepublik!“

Saftige Kritik gab es auch von Professor Edmund Neugebauer, Präsident der Medizinischen Hochschule Brandenburg „Theodor Fontane“. „Was die Kommunikation der Leistungserbringer untereinander angeht, leben wir in einer Bananenrepublik“, sagte Neugebauer. Das System leide unter „interessengeleiteter Verflochtenheit“. Auf der anderen Seite gebe es keine Gesundheitsziele, die ernsthaft verfolgt würden.

Mangelnde Transparenz beklagte der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas. „Datenschutz werde häufig als Argument für Interessenschutz missbraucht. Die Kassen verfügten zum Beispiel über die Medikationsdaten ihrer Mitglieder, dürften diese aber nicht darauf aufmerksam machen, dass ihre Gesamtmedikation zu unerwünschten Ereignissen führen könne.

In die gleiche Kerbe hieb der Vorstandsvorsitzende der Optimedis AG, Dr. Helmut Hildebrandt. „Datenschutz fordert Opfer“, sagte Hildebrandt. Der Operateur im Krankenhaus bekomme aus Datenschutzgründen nur selten Rückmeldungen zur Rekonvaleszenz seines Patienten.

Datenschutz sei vor allem ein Thema der Gesunden, betonte Christina Claußen, Director Patient Relations & Alliance Management, Pfizer Deutschland. Bei Patienten dagegen sei häufiger die Forderung nach einer Lockerung des Schutzes ihrer Behandlungsdaten zu hören.

Lesen sie auch
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Diagnose-Prävalenzen

Wo Autoimmunerkrankungen besonders häufig auftreten

Das könnte Sie auch interessieren
Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

© Janssen-Cilag GmbH

Video

Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Höhen- oder Sturzflug?

© oatawa / stock.adobe.com

Zukunft Gesundheitswesen

Höhen- oder Sturzflug?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

© MQ-Illustrations / stock.adobe.com

Digitalisierung

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Innovationsforum für privatärztliche Medizin

© Tag der privatmedizin

Tag der Privatmedizin 2024

Innovationsforum für privatärztliche Medizin

Kooperation | In Kooperation mit: Tag der Privatmedizin
Kommentare
KI-Einsatz mit Robotern im Krankenhaus oder in der ambulanten Pflege? In Deutschland noch schwer vorstellbar. Aber vielleicht ist das dieZukunft. Ein Feld auch für die Geldanlage.

© sirisakboakaew / stock.adobe.com

Interview zum Thema Geldanlage

KI für Anleger: „Ich sollte verstehen, in was ich investiere“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Deutscher Apotheker- und Ärztebank
Susanne Dubuisson, Product Leader in Health Tech beim E-Health-Unternehmen Doctolib.

© Calado - stock.adobe.com

Tools zur Mitarbeiterentlastung

Online-Termine gegen den Fachkräftemangel

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Doctolib GmbH
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Diagnose-Prävalenzen

Wo Autoimmunerkrankungen besonders häufig auftreten

Lesetipps
Das deutsche Gesundheitswesen im Vergleich mit EU-Ländern – die Bilanz fällt gemischt aus.

© Denys Rudyi / stock.adobe.com

OECD-Vergleich

Deutschland ist bei Lebenserwartung erstmals unter EU-Schnitt

Physician Assistants und NÄPAs können Hausärzte stark entlasten.

© amedeoemaja / stock.adobe.com

NÄPAS und Physician Assistants

Drei Ärzte, 10.000 Patienten: Delegation macht es möglich

CAs9-Protein spaltet einen DNA-Doppelstrang.

© Design Cells / Getty Images / iStock

CRISPR-Cas9-Studie

ATTR-Amyloidose: Einmal spritzen – und gesund?