Exklusiv-Interview

"Eid ist kein Gegengift für schlechte Politik"

Wie viel Eid und Ethik gehen im ärztlichen Alltag? Die "Ärzte Zeitung" sprach mit dem Präsidenten der Berliner Ärztekammer Dr. Günther Jonitz. Er meint: Der medizinische Alltag zwingt dazu, die Grundfesten des Eides zu verletzen.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Jonitz, welche Bedeutung hat der Hippokratische Eid für Sie als Berufspolitiker?

Dr. Günther Jonitz

'Eid ist kein Gegengift für schlechte Politik'

© Stephanie Pilick

Aktuelle Position: Präsident der Ärztekammer Berlin; Chirurg im Unfallkrankenhaus Berlin.

Aus- und Weiterbildung: Studium der Medizin in Bochum und Berlin; Approbation 1984, Facharzt für Chirurgie 1994; Promotion 1996.

Karriere: 1995 bis 1999 Vizepräsident der Ärztekammer Berlin, seit 1999 Präsident; Mitglied im Vorstand der Bundesärztekammer; Vorsitzender der Qualitätssicherungsgremien der Bundesärztekammer; Gründungsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.

Günther Jonitz: Der Hippokratische Eid wird nicht mehr geschworen. Aber trotzdem wirkt seine Kernbotschaft in jeder Ärztin und in jedem Arzt, wenn er oder sie morgens ins Krankenhaus oder in die Praxis gehen. Es sollte ein Prozess der Neuformulierung eines Eides auf den Weg gebracht werden, ein Gelöbnis für alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Dafür ist die Bundesärztekammer zuständig. Übrigens wird sich der nächste Ärztetag auch mit dem Thema "Ethik und Monetik" befassen.

In manchen ethisch-politischen Auseinandersetzungen berufen und beriefen sich die Kontrahenten auf dieselben Kriterien einer ärztlichen Ethik, zum Beispiel in den Debatten um Suizidbeihilfe, um Reproduktionsmedizin, Patientenautonomie oder Palliativmedizin. Was nützt da noch ein Eid, wenn er doch keine Einigkeit bringt?

Jonitz: Es geht darum, als Arzt sein Leben in den Dienst der Patienten zu stellen. Die Medizin definiert immer neu, was damit gemeint ist. Sie lernt und stellt sich dauernd in Frage. Das ist ein Qualitätsmerkmal. Mit den konkreten ethischen Haltungen ist es ebenso: Die Entscheidungen am Krankenbett orientieren sich auch an der gesellschaftlichen Diskussion und wandeln sich, sie dürfen aber nie die ethische Grundlinie verlassen.

Viele Ärzte sagen, sie könnten ihre Patienten nicht so behandeln, wie sie es gerne würden. Ist ein Eid angesichts der Zwänge, denen Ärzte im Berufsalltag ausgesetzt sind, nicht eine vollständige Überforderung der Ärztinnen und Ärzte?

Jonitz: Die Ärztinnen und Ärzte haben kein Problem mit einem Eid, sondern mit den Vorgaben der Gesundheitspolitik, der Vermarktung, der Kommerzialisierung der Medizin. Ärztliche Ethik und ein ärztlicher Eid sind eben kein Gegengift für schlechte Politik. Die Frage ist, wie wir medizinisch-ethisches Verhalten im Alltag operationalisieren. Es dient niemandem, wenn wir einen Eid wie eine Monstranz vor uns her tragen. Je konkreter ein Eid gefasst wird, um so hilfreicher. Wir müssen schließlich über Leib und Leben entscheiden. Ich finde deshalb die Charta zur ärztlichen Berufsethik aus dem Jahr 2002 sinnvoll. Allerdings müsste sie erweitert werden - zum Beispiel um den Aspekt der Interprofessionalität.

Kann man sich als Arzt überhaupt noch ethisch verhalten?

Jonitz: Viele Ärzte ertragen den Spagat zwischen dem eigenen Ethos und den ökonomischen Zwängen nicht mehr. Viele verlassen deshalb Deutschland oder die Krankenversorgung. Oder sie bleiben und arbeiten in einer Grauzone zwischen wollen und müssen. Wo ein Krankenhaus kaltschnäuzig geführt wird, kann man keine ethische, an einem Eid orientierte Medizin erwarten. Dass die Geschäftsführungen in Kliniken die gleichen ethischen Ansprüche vertreten wie die Ärzteschaft finden sie in Deutschland bei sehr vielen Krankenhäusern nicht.

Das würde bedeuten, den Ärzten sind in ethischen Dingen die Hände gebunden, im Zweifel könnte ein Arzt sich nicht mehr nach dem Eid richten?

Jonitz: Die Frage ist nicht, ob eine Ethik funktioniert oder nicht. Sondern die Frage ist: Welche politischen Rahmenbedingungen brauchen wir, damit Ethik funktionieren kann? Unter der jetzigen, von der Politik gewollten Kommerzialisierung des Gesundheitswesens kann es keine funktionierende ärztliche Ethik geben. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral - so einfach ist das. Die Fehlanreize durch die DGRs sind katastrophal. Ein mir bekannter Oberarzt schaffte es, die klinikbedingten Entzündungen bei den Patienten seiner Intensivstationen deutlich runterzufahren. Und das Ergebnis? Der Controller rechnete ihm vor, dass sein Casemix-Index nun gesunken sei mit der Folge, dass er 90.000 Euro seines Budgets hergeben musste. Das bedeutete, zwei Schwesternstellen zu streichen. Er hat selbst gekündigt. Wo bleibt da die Möglichkeit, sich ethisch zu verhalten?

Trotzdem kann ein Eid die Ärzteschaft zu einem Chor-Geist im besten Sinne zusammenführen. Ich habe seinerzeit meine Approbationsurkunde mit der Post erhalten. Aufschrift: "Gebühr DM 100 bezahlt". Von einem gemeinsamen Ethos keine Spur. Das könnte sich wohl durch einen gemeinsamen, erneuerten Eid ändern.

Die Charta zur ärztlichen Berufsethik wurde von vier amerikanischen und europäischen Gesellschaften verfasst. Das Original finden Sie unter tinyurl.com/glfl77m; eine Übersetzung etwa unter tinyurl.com/zx9t9wc.

Lesen Sie dazu auch: Zeitgeist: Bröckelt der Hippokratische Eid?

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