Zeitgeist
Bröckelt der Hippokratische Eid?
Kein tödliches Gift verabreichen, keinen Blasenstein schneiden: Der Eid des Hippokrates war über Jahrhunderte Basis für das ethische Handeln von Ärzten. Doch ist der Wortlaut für junge Ärzte wirklich noch zeitgemäß? Die Diskussion gewinnt zunehmend an Fahrt.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Brauchen wir einen neuen Eid nach Art des Hippokratischen Eides? "Ja", meint der Tübinger Medizinethiker Professor Urban Wiesing. "Nein", meint sein Freiburger Kollege Professor Giovanni Maio. Einig sind sich die beiden in ihrer Ansicht, eine gemeinsam formulierte moralische Grundkonstante diene der Ärzteschaft.
Mancher Berufspolitiker denkt da aber ganz anders. "Es ist kaum möglich, sich unter den gegebenen Umständen als Arzt noch ethisch zu verhalten", sagt etwa Dr. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin (siehe Interview rechts).
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Stolz und traditionsbewusst verweist mancher Arzt auf den Eid des Hippokrates, wenn es um die ärztliche Haltung auf ethisch schwierigem Terrain geht. Um Sterbehilfe oder um Schwangerschaftsabbrüche oder die Präimplantationsdiagnostik, aber auch um Chefarztgehälter oder die Priorisierung ärztlicher Behandlungen. Allerdings ist umstritten, wie konkret ein Eid sein müsste oder wie sehr an die moderne Medizin angepasst.
Ein ethisch schwieriges Terrain
Bei "Apollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia" schwor man in der Ärzteschule des Hippokrates, seine Lehrer und Kollegen zu achten, das Wohlergehen des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen ("...zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil"), ohne Ansehen der Person alle gleich zu behandeln, kein tödliches Gift zu verabreichen, an Abtreibungen nicht mitzuwirken oder keinen Blasenstein zu schneiden.
Stattdessen werde der Arzt heilig und fromm sein Leben bewahren und seine Kunst. So lautet der Schwur.
Der Arzt Hippokrates von Kos (460 bis 370 vor Christus) ist Namensgeber dieses Textes, dessen früheste heute bekannte Quelle eine latinisierte Fassung aus dem ersten Jahrhundert ist. Dieser Quellenlage ungeachtet spielte der Text aber auch schon in der vorchristlichen Antike eine Rolle, erklärt Maio. "Der Eid ist schon damals eine Reaktion auf die Marktplatzmedizin gewesen. Das ist eine Parallelität zu heute."
Im alten Griechenland behandelten Ärzte ihre Patienten auf dem Marktplatz zwischen Obstständen und Geflügelhändlern. Um nicht als Quacksalber oder Profiteure zu gelten, mussten sie öffentlich kundgeben, wer sie sind und wofür sie stehen. Denn auch im alten Griechenland wurde schon der Vorwurf erhoben, Ärzte würden Todkranke allein aus finanziellem Interesse weiterbehandeln, erklärt Maio. "Das war ein Grund dafür, dass Ärzte öffentlich bekundeten: Wir machen so etwas nicht!"
Anfangs wenig verbreitet
"Allerdings war der Eid in der Antike so gut wie unbekannt", erklärt Wiesing. Da stimmt Maio zu. Aber er verweist auf die Wirkungsgeschichte des Textes - vor allem ab dem ausgehenden Mittelalter. "Tatsächlich hatte der Eid in der Antike wenig Verbreitung und Reputation", räumt Maio ein. Aber eben dies erhielt er im ausgehenden Mittelalter und der Renaissance. Der Eid war schon über die Jahrhunderte hinweg kompatibel mit den Überzeugungen der Ärzteschaft.
Er wurde aber erst im Mittelalter im christlichen Sinne umgedeutet und so wiederbelebt. Dadurch wurde er richtig bekannt und schließlich sogar als Promotionseid eingesetzt.
Er wurde zum Beispiel als Ausdruck der Hochschätzung des Lebens genutzt, obwohl er ursprünglich dazu nicht gedacht gewesen sei. Dass der Eid die Abtreibung verbietet und die Sterbehilfe, weil ihm das Leben heilig sei, "steht da gar nicht drin", sagt Maio. "Sondern gemeint ist: Mache keine Abtreibungen und beteilige dich nicht an Sterbehilfe, denn das ist nicht klug. Du könntest zum Beispiel des Giftmordes bezichtigt werden."
Auch das Steinschnittverbot sei christlich adaptiert worden und steht nun für die Demut der ärztlichen Profession, rät der Eid doch, man möge den Steinschnitt "den Männern überlassen, die dies Gewerbe versehen". Seit dem Spätmittelalter wirkte der Eid also als "vertrauensbildende Maßnahme": Seht her, hier sind Christenmenschen am Werk, die euch wohl wollen. Als solcher enthalte der Eid "alles, was wir heute für die moderne Medizin brauchen", sagt Maio. "In seinen Grundfesten ist er nicht ergänzungs- oder revisionsbedürftig."
"Ein historisches Dokument"
Für den Tübinger Medizinethiker Professor Urban Wiesing kann der Hippokratische Eid in seiner historischen Form nicht geschworen werden. "Er ist ein historisches Dokument. Ihn als zeitloses Dokument der Ärzteschaft zu stilisieren, ist unhistorisch", sagt er. Wenn schon einen Eid - und Wiesing ist ganz dafür - dann einen, der die gegenwärtigen Bedürfnisse der Ärzteschaft besser abdecke als jener antike Text. "Denn wer unter den jungen Ärztinnen und Ärzten würde heute bei Apollon, Asklepios, Hygeiea und Panakeia schwören, nicht zu schneiden?", fragt Wiesing.
Aus seiner Sicht ist das Genfer Gelöbnis von 1948 das Mittel der Wahl, und zwar für einen internationalen Eid. Immerhin steht es hierzulande schon als Präambel der Berufsordnung als Ausweis ärztlicher Ethik und Haltung. Das Genfer Gelöbnis sei zwar ergänzungsbedürftig, komme der Sache aber am nächsten, so Wiesing.
Er arbeitet in einer internationalen Arbeitsgruppe mit Teilnehmern aus Indien, der Türkei, Dänemark, den USA, Israel und Deutschland unter der Koordination der Bundesärztekammer derzeit daran, das Genfer Gelöbnis "moderat zu verändern", wie er sagt, und damit Gegenwarts-tauglich zu machen. So fehle im Genfer Gelöbnis - wie auch im Hippokratischen Eid - etwa der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten. "Auch den Respekt vor den Lehrern könnte man übernehmen und um den nötigen Respekt der Lehrer für die Studenten ergänzen."
Ärztliches Standesdenken
Zwar wurde die ärztliche Haltung und Ethik immer schon weitergegeben, etwa durch Lehrerpersönlichkeiten, die allein durch ihre Integrität tradierend wirkten. Aber wie in jeder Tradition schwimmen auch in der medizinischen überkommene Aspekte mit, wie überzogenes Standesdenken.
Ein Eid, auf den sich die angehenden Mediziner verständigen, würde eine positive Auswahl aus dem Strom der Tradition treffen und sie den Ärzten (und ihren Patienten) bewusst machen. "Nicht stumm weitervererben, sondern gemeinsam aussprechen", nennt Wiesing das.
Beide, Maio und Wiesing, sehen die Sache allerdings mit einem Eid nicht erledigt, sei es mit einem alten oder neuen. Denn was "lauter und redlich" sei und was ärztliche "Kunst", müsse auf jeden Fall stets neu reflektiert werden.
Der Eid selber bleibe wie das Grundgesetz ein "Text auf hohem Abstraktionsniveau", wie Wiesing sagt. Maio spricht von einem "Reflexionstext", der zeigt, "auf welche Tugenden es ankommt, um ein guter Arzt zu sein." Der Eid könne also keine Fragen lösen, wie mit Chefarztgehältern umgegangen werden soll."
Das Genfer Gelöbnis
Wiesing möchte einen Text, der prägnant genug ist, um darauf zu schwören. "In Deutschland wird man leider sozusagen als Arzt in Unwissenheit geschworen", kritisiert er. "Wir werden auf das Genfer Gelöbnis verpflichtet, obwohl wir es nicht wissen und obwohl wir es wissen müssten. Diese Situation sollte sich ändern." Immerhin fordere die Berufsordnung, jeder Arzt möge sie lesen und damit auch den Eid.
Maio indessen fürchtet eine "Sakralisierung des Eides", wenn man ihn schwören würde. "Aber der Eid könnte zum Beispiel in die Einstellungsformalitäten für Ärzte aufgenommen werden. So wissen auch die Krankenhausmanager, mit welchem Ethos die Ärzte in ihr Haus kommen und arbeiten." Denn davon, sagt Maio, "haben die Manager meistens gar keine Vorstellung."
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