Interview

Eine Chance, Medizin neu zu denken

Rasante Fortschritte in der Medizin führen dazu, die Dinge neu zu bewerten. Das gilt nicht nur für die Präzisionsmedizin. Chancen ergeben sich auch für das frühzeitige Detektieren von Erkrankungen. „Hier stehen wir vor einem echten Paradigmenwechsel“, sagt Andreas Gerber, neuer Deutschlandchef von Janssen, im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“.

Von Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Auf der Suche nach den Fragen und den Antworten: Wann ist der Zeitpunkt gekommen, Krankheiten zu behandeln, schon bevor sie ausgebrochen sind? Andreas Gerber (re.) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

Auf der Suche nach den Fragen und den Antworten: Wann ist der Zeitpunkt gekommen, Krankheiten zu behandeln, schon bevor sie ausgebrochen sind? Andreas Gerber (re.) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

© Peter Frank

Ärzte Zeitung: Wir erleben derzeit einen großen Wandel in der Medizin. Was sind die drei größten Herausforderungen, vor denen wir stehen?

Andreas Gerber: Ich sehe primär große Chancen in der Medizin. Nehmen Sie die Entwicklungen in der Onkologie, etwa in der Immunonkologie, der Zell- und Gentherapie – das sind entscheidende Felder, in denen sich heute schon sehr viel tut und in den nächsten fünf bis acht Jahren noch mehr bewegen wird.

Hinzu kommen die vielen Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung, in der Präzisionsmedizin und bei Disease Interception ergeben. Das bedeutet auch, dass Patienten künftig viel stärker in die Entscheidungsprozesse über die geeignete Therapie eingebunden werden wollen.

In welchen der von Ihnen angesprochenen Bereiche ist Janssen besonders gut aufgestellt?

Ich sehe uns in all diesen Bereichen gut aufgestellt. Wir sind ja heute schon mit hoch innovativen Therapien gut im Markt vertreten. Im Bereich der Digitalisierung werden wir schon bald den Nutzen unter anderem in der Forschung und Entwicklung sehen. Dabei geht es um Kosten, es geht um Geschwindigkeit, und es geht auch um die Auswahl der richtigen Patientengruppen.

In der Diagnostik und bei der Therapieentscheidung wird die Arzt-Patienten-Beziehung eine große Rolle spielen. Hier geht es uns darum, wie wir den Arzt und den Patienten bestmöglich datenbasiert unterstützen können.

Lassen Sie uns über die Präzisionsmedizin reden. Welche Bedeutung hat sie für Ihr Unternehmen?

Die Präzisionsmedizin ist wichtig und wird ein noch wichtigeres Standbein sein. Beispiel Blasenkarzinom: Hier haben wir im April von der US-amerikanischen FDA die beschleunigte Zulassung von Erdafitinib bekommen. Es geht um eine zielgerichtete Therapie für Patienten mit einem rezidivierenden Blasenkarzinom, die eine spezielle genetische Mutation aufweisen.

Unter Hinzuziehung eines Companion Diagnostic Tools können wir herausfinden, welche Patienten auf diese Therapie am besten ansprechen. Wir hoffen, dass wir auch bald in Europa die Zulassung dafür erhalten.

Sie sprechen ein Thema an, das aktuell viel diskutiert wird – der immer kleineren Subgruppen, auf die Therapien zugeschnitten sind. Wenn uns die großen Kohorten fehlen, auf welche Daten greifen wir dann zurück?

Wir sehen die Problematik natürlich auch. Einerseits haben wir die Chance, Ärzten und ihren Patienten diese neuen Therapien möglichst schnell anzubieten, gleichzeitig sind wir davon überzeugt, dass wir nach wie vor die klassische Evidenz brauchen. Was wir benötigen, sind neue Ansätze, um den neuen Anforderungen, sprich kleineren Populationen gerecht zu werden.

Wir werden in Zukunft auch sehr intensiv mit Phase-II-Daten arbeiten und zugleich anwendungsbegleitende Studien auflegen. Es gibt auf Ihre Frage nicht wirklich nur eine Antwort. Am Ende benötigen wir sichere und wirksame Medizin, die möglichst schnell zum Patienten kommt.

Was halten Sie von Registerdaten als zusätzliche Evidenzquelle?

Die werden ja heute schon eingesetzt und sind daher nicht wirklich neu, aber ja: Darüber muss auf jeden Fall weiter diskutiert werden.

Welche Rolle könnten in diesem Kontext Big Data, die Künstliche Intelligenz und die Bildung von Algorithmen spielen?

Eine wichtige. Aber zunächst muss man sich mit der Frage beschäftigen, welche Daten gibt es, und wie können diese intelligent zusammengeführt werden. Es gibt heute schon Konsortien im Bereich der Immunologie und der Onkologie, die im Besitz guter Datenquellen sind.

Unter Einhaltung aller datenschutzrechtlichen Regelungen sollten diese Daten denen, die sie benötigen, auch zugänglich gemacht werden. Damit eröffnen wir neue Möglichkeiten, um herauszufinden, welche Patienten auf welche Therapien ansprechen.

Inwiefern wirken sich diese Prozesse auf ihre aktuelle Forschungs-Pipeline aus? Können Sie uns konkrete Beispiele nennen?

Unsere Pipeline ist in all unseren Therapiegebieten gut gefüllt. Wir haben auf der einen Seite wichtige Zulassungserweiterungen unserer im Markt befindlichen Produkte und neue Wirkmechanismen in der Pipeline, die das Potenzial haben, die Behandlung der entsprechenden Krankheiten zu transformieren. Ich denke dabei zum Beispiel an die Weiterentwicklung von Kombinationstherapien bestehender Medikamente wie Daratumumab und neue Ansätze wie Erdafitinib und CAR-T.

Darüber hinaus haben wir in den Indikationen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Psoriasis-Arthritis und Depression vielversprechende Produkte in der fortgeschrittenen Pipeline.

„Wir stehen vor einem echten Paradigmenwechsel“, so Andreas Gerber.

„Wir stehen vor einem echten Paradigmenwechsel“, so Andreas Gerber.

© Peter Frank

  • Aktuelle Position: Seit März 2019 Vorsitzender der Geschäftsführung Janssen Deutschland.
  • Ausbildung: Master in Business Management der WHU Otto Beisheim School of Management in Koblenz.
  • Karriere: Seit August 2016 bei Janssen als Managing Director für den Nahen Osten, Maghreb und Subsahara-Afrika. In die Pharmasparte von Johnson & Johnson wechselte Gerber 2012, nachdem er zuvor drei Jahre bei J & J Consumer in Österreich als Geschäftsführer tätig war. Seine Laufbahn begann bei Procter & Gamble, Deutschland.
  • Privates: Andreas Gerber ist verheiratet und hat drei Kinder.

Das ist der Alltag. Die Zukunft hat bereits begonnen. Wir wissen heute schon, ob wir eine genetische Disposition für eine bestimmte Erkrankung haben oder nicht. Ihr Unternehmen hat die Diskussion um Disease Interception maßgeblich angestoßen – immerhin schon vor einem Jahr. Wo stehen Sie heute?

Gestatten Sie einen kurzen Blick auf diesen Alltag. Unser System ist heute so ausgelegt, dass wir uns dann um die Patienten kümmern, wenn ihre Erkrankung bereits mehr oder weniger fortgeschritten ist. Denken Sie an neurodegenerative Erkrankungen, an Alzheimer, Krebs oder auch Diabetes. Es wäre extrem sinnvoll, wenn wir bei diesen Erkrankungen viel früher intervenierten.

Das bedeutet in der Phase zwischen dem Detektieren der Erkrankung anhand verlässlicher Biomarker und dem Auftreten erster klinischer Symptome. Das würde einiges verändern und wirft eine Menge Fragen auf – nicht nur medizinische.

In den vergangenen zwölf Monaten haben wir genau diesen Diskurs weiter vorangetrieben, nicht zuletzt vor drei Wochen in einer Open House-Veranstaltung hier in Neuss, wo aus den verschiedenen Teilen der Gesellschaft Fragen zum Thema Disease Interception formuliert und besprochen worden sind. Wir sind heute schlauer, kennen aber längst noch nicht alle Antworten.

. . .etwa wann der Zeitpunkt gekommen ist, eine Krankheit zu behandeln, die beim Menschen noch nicht ausgebrochen ist?

Ja, das ist sicherlich eine von vielen wichtigen Fragen. Diese sind ethischer, systemischer und individueller Natur. Denn es spielt auch der Wille der Patientin und des Patienten eine große Rolle.

Sie meinen, es ist nicht zwangsläufig so, dass sich alle Patienten mit einem gewissen Risiko so früh wie möglich behandeln lassen wollen?

Wir haben in unseren Gesprächen sehr interessante Erkenntnisse gesammelt. Unter anderem, dass immer dann, wenn es eine therapeutische Option gibt, Patienten eher zu einer frühen Intervention bereit sind. Interessant ist andererseits auch, dass, wenn nur bedingt eine Behandlungsoption etwa mit schwacher Evidenz verfügbar ist, das Interesse beim Patienten nur gering ist, sich über sein Risiko informieren zu lassen.

Also ein Recht auf Nichtwissen?

Völlig richtig. Das muss man respektieren, genauso, wie klar sein muss, dass solche Interception-Lösungen dann auch allen in Frage kommenden Patienten zur Verfügung stehen.

Hierzu bedarf es eines gesellschaftlichen Diskurses mit den wichtigen Stakeholdern.

Den haben wir mit Vertretern von Zulassungsbehörden, von Krankenkassen, aus der Wissenschaft und der Medizinethik bereits initiiert. Ebenso saßen Patientenvertreter mit am Tisch. Man muss jetzt damit beginnen, weil auch Patienten aufgeklärter sind, als das früher der Fall war. Wir stehen hier wirklich vor einem Paradigmenwechsel zum Nutzen des Patienten und mit Herausforderungen für das System.

Sie sind seit wenigen Monaten neuer Geschäftsführer von Janssen Deutschland. Sie haben international sehr viel Erfahrung gesammelt. Wie ist Ihre persönliche Prognose: Wie weit sind wir mit der Präzisionsmedizin und Disease Interception in zwei Jahren?

Zunächst bin ich sehr froh, dass wir in Deutschland die Möglichkeit haben, über derartige neue Therapieansätze zu diskutieren. Ich sehe auch gute Chancen, dass diese Ansätze realisiert werden können. Und auf dem Weg dorthin nutzen wir die Chancen, die wir aus der Digitalisierung etwa für eine personalisierte Medizin bis hin zu Disease Interception haben. Ich sehe das als sinnvollen Dreiklang und bin überzeugt davon, dass wir das in den nächsten Jahren ganz konkret erleben werden.

Janssen-Cilag GmbH

  • Branche: Forschendes Pharmaunternehmen. Als Pharmasparte des Gesundheitskonzerns Johnson & Johnson entwickelt das Unternehmen im Schulterschluss mit Partnern innovative Medikamente und ganzheitliche therapiebegleitende Behandlungskonzepte. Schwerpunkte der Arbeit sind die Onkologie, Immunologie, Psychiatrie, Infektiologie und pulmonale Hypertonie (Actelion).
  • Internationaler Umsatz 2018: 36,2 Mrd. € weltweit im Pharmabereich von Johnson & Johnson.
  • Investitionen F&E 2018: 9,6 Milliarden Euro weltweit.
  • Mitarbeiter: weltweit 40.000, davon 1000 in Deutschland.
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