Bundesverfassungsgericht
Familien klagen gegen zu hohe Sozialbeiträge
376 Familien haben beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingelegt. Sie wehren sich gegen aus ihrer Sicht zu hohe Sozialbeiträge. Alle Klagen vor Sozialgerichten waren zuvor gescheitert. Jetzt hoffen sie auf die Richter in roten Roben.
Veröffentlicht:KARLSRUHE/KASSEL. Der Streit um Beitragsgerechtigkeit für Familien in den Sozialversicherungen landet vor dem Bundesverfassungsgericht.
376 Familien haben in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen zu hohe Sozialversicherungsbeiträge und gegen die Finanzierung des Pflegevorsorgefonds erhoben.
Mit der Mitte Dezember eingereichten Verfassungsbeschwerde reagieren die Familien auf eine gescheiterte Klage vor dem Bundessozialgericht (BSG). Ende September vergangenen Jahres hatten die Kasseler Richter die Klage von Eltern dreier Kinder abgelehnt.
Bereits 2006 hatten die Eltern bei ihrer Krankenkasse die Herabsetzung der Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung beantragt - etwa durch eine Berücksichtigung des steuerlichen Kinderfreibetrags.
Sie klagten sich durch alle Instanzen bis zum BSG -und erlebten dort eine Enttäuschung: Der Gesetzgeber bewege sich innerhalb der Grenzen seines Gestaltungsspielraums, "wenn er den Aufwand für die Betreuung und Erziehung von Kindern in verschiedenen Regelungen des Leistungsrechts berücksichtigt", beschieden die höchsten Sozialrichter und ließen keine Vorlage des Falls beim Bundesverfassungsgericht zu.
Die von Dr. Jürgen Borchert formulierte Verfassungsbeschwerde spart denn auch nicht mit Kritik an den Sozialgerichten.
Die Sozialgerichtsbarkeit habe "zu einer substanziellen Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen mangels Beherrschung der rechtstatsächlichen Fragestellungen offensichtlich" nichts beitragen können, ätzt Borchert, der bis Ende 2014 Vorsitzender Richter im Landessozialgericht Hessen gewesen ist.
Generativer Erziehungsbeitrag
Das Gericht möge feststellen, dass die Regelungen zur Beitragspflicht und -höhe in der Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung nicht mit Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar sind, heißt es in der Beschwerde.
Borcherts Kernargument ist, die Mitglieder in Sozialversicherungen, die Kinder betreuen und erziehen, würden nicht "entsprechend der Gleichwertigkeit ihres (generativen) Erziehungsbeitrags und der Zahl ihrer Kinder bei den Geldbeträgen entlastet".
Bis Ende 2017, wünschen sich die Beschwerdeführer, möge das Gericht dem Gesetzgeber im Zuge einer Neuregelung aufgeben, dass ein Freibetrag für Kinder bei der Beitragsbemessung in den Sozialkassen eingeführt wird, wie er aus dem Einkommensteuerrecht bekannt ist.
Besonders ärgern sich die klagenden Familien, dass sie in den 2015 neu eingeführten Pflegevorsorgefonds in gleicher Höhe einzahlen müssen wie Kinderlose.
Mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz ist der Beitragssatz um 0,3 Prozentpunkte erhöht worden, 0,1 Punkte davon fließen in einen Fonds, mit dem ab dem Jahr 2036 Beitragssatzsteigerungen abgefedert werden sollen.
Dann nämlich, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer ins Pflegealter kommen. Mit dem Vorsorgefonds, so die Kritik der Familien, sollen demografische Probleme abgefedert werden, für die Eltern nicht verantwortlich sind.
Borchert rechnet den Karlsruher Richtern für die Jahre 2014 und 2015 die ungleichen Belastungseffekte der linear-proportionalen Beitragsgestaltung in den Sozialversicherungen vor.
Unterstellt wird dabei ein jährliches Bruttoeinkommen von 35.000 Euro bei einem Single, einem Ehepaar ohne Kinder und einem Ehepaar mit zwei Kindern.
Massive Belastung für Familien
Sein Fazit: Sozialabgaben haben eine "regressive Multiplikatorwirkung": "Bezogen auf das pro Kopf netto zur Verfügung stehende Einkommen, wirkt jede Beitragserhöhung umso belastender, je mehr Personen vom Nettoeinkommen leben müssen".
Jede Beitragserhöhung gehe nicht nur mit einer überproportionalen, sondern zugleich auch einer "massiv regressiv wirkenden Belastung für Familien" einher". Im Juli 1992 hatte das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Trümmerfrauenurteil (BVerfGE 87, 1 - 1 BvL 51/86 u.a.) gefordert, der Gesetzgeber müsse in der Rentenversicherung mit jedem Reformschritt "die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringern".
Aber erst mit dem Pflegebeitragsurteil vom April 2001 (1 BvR 1629/94) haben die Karlsruher Richter dann klargestellt, dass - in ökonomischen Kategorien gesprochen - "Kindererziehung und monetäre Beitragsleistung ein und dasselbe" sind, nämlich Konsumverzicht.
Der Gesetzgeber sei dem Verfassungsauftrag, die Benachteiligung von Familien abzubauen, allerdings wiederholt nicht nachgekommen. Lediglich in der sozialen Pflegeversicherung ist der Beitragssatz für Kinderlose um 0,25 Prozentpunkte höher als für Mitglieder mit Kindern.
Aus Sicht der Beschwerdeführer ist die Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen auf der Beitragsseite insbesondere in der Renten- und Krankenversicherung eine "zentrale und regelmäßig übersehene Ursache für die Armut von Familien".
Für die Beschwerdeführer sei es "unzumutbar", auf die Ausschöpfung des Rechtswegs verwiesen zu werden, so Borchert. Bei früheren Musterprozessen hat es zwölf Jahre gedauert, bis ein letztinstanzliches Urteil fiel.
Im Falle der Familie, die im September 2015 nach neun Jahren mit ihrer Klage vor dem BSG unterlag, war das jüngste Kind bereits 20 Jahre alt.
"Generativen Beitrag von Familien berücksichtigen"
Unabhängig vom Ausgang gerichtlicher Verfahren über die Beitragsbemessung von Familien bewegt sich die Politik: Dies ist zumindest der Eindruck, den die CDU bei ihrem jüngsten Bundesparteitag im Dezember 2015 zu erwecken versuchte.
Im Leitantrag "Zusammenhalt stärken - Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten" findet sich das Bekenntnis: "Als CDU wollen wir den Wert von Familie und Familienarbeit stärker ins Bewusstsein heben und einen gerechten Leistungsausgleich für alle Familien erreichen."
Die Partei erklärt, sie wolle "den generativen Beitrag von Familien in den Sozialversicherungssystemen berücksichtigen und Eltern insbesondere in der Renten- und Pflegeversicherung auf der Beitragsseite entlasten - mit Wirkung zu einem Zeitpunkt, wenn sie auf finanzielle Spielräume am meisten angewiesen sind."
Ob dieses Parteitagsbekenntnis allerdings auch in der politischen Praxis greift, oder ob es Lyrik bleibt, ist ungewiss.
Bisherige Erfahrungen raten zur Skepsis: Ein Vorstoß junger Abgeordneter in der Union für eine Sonderabgabe für Kinderlose wurde 2012 nach kurzer Diskussion einkassiert und verschwand in der Schublade. (fst)