Kommentar
Impfstrategie ist besser als Impfpflicht
Unter dem Eindruck besorgniserregender Ereignisse wie der anhaltenden Masern-Epidemie in Berlin entstehen nicht selten scheinbar einfache Rezepte, solchen Entwicklungen künftig vorbeugen zu können.
Aus der scharfen Kritik von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe an Impfkritikern und Impfverweigerern wurde so beispielsweise am Wochenende vorschnell der Schluss gezogen, das Bundesgesundheitsministerium erwäge die Einführung einer Impfpflicht.
Davon hat Gröhe freilich nicht gesprochen - und insoweit ist er von Medien überinterpretiert worden. Tatsächlich ist es außerordentlich schwierig, eine Impfpflicht gesetzlich durchzusetzen. Tatsächlich hat es dies in der Geschichte des westdeutschen Gesundheitswesens nur einmal gegeben: bei der Pockenimpfung, die im Deutschen Reich 1874 gesetzlich verpflichtend wurde. Erst 1976 wurde die Impfpflicht aufgehoben.
Charakteristisch für die Durchsetzung der Impfpflicht bei Pocken war die Art der Organisation: Zuständig war der öffentliche Gesundheitsdienst, der flächendeckend alle Schulkinder eines bestimmten Alters durchimpfte. Hier gab es für Kinder und deren Eltern kein Entrinnen.
Mit der Aufhebung der Impfpflicht hat sich auch die dahinter stehende Organisationsstruktur sukzessive verflüchtigt: Kindergärten und Schulen sind heute keine Orte der medizinischen Primärprävention mehr, die Länder haben den öffentlichen Gesundheitsdienst als Leistungsträger der Prävention verkommen lassen. Die libertinäre Organisation des deutschen Gesundheitssystems macht Prävention und vorbeugenden (öffentlichen) Gesundheitsschutz zur Privatsache.
Anders als der Reichsgesetzgeber wäre heute der Bundesgesetzgeber wahrscheinlich gar nicht befugt, eine Impfpflicht zu kodifizieren. Und selbst wenn: Welche durchsetzbaren Konsequenzen sollten Verstöße haben?
Was wirklich gebraucht wird, ist eine Impfstrategie. Und die müsste zuallererst bei Ärzten und anderen Gesundheitsberufen ansetzen. Solange innerhalb der medizinischen Professionen das eigene Verhalten der wissenschaftlichen Evidenz zum Impfen widerspricht, verkleistert der Ruf nach staatlichen Reglements auch tatsächliche Verantwortlichkeiten.
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