Pflegereform

In 100 Tagen endet die Ära der Minutenpflege

Die Pflegereform ist auf der Zielgeraden. Mehr Menschen erhalten Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung. Das schürt Sorgen vor einem Antragsstau.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. Das Gesundheitswesen steht vor einem epochalen Systemwechsel. In genau 100 Tagen, am 1. Januar 2017, soll die Minutenpflege von einer am Grad der Selbstständigkeit orientierten Einstufung abgelöst werden.

Nach dem Jahreswechsel werde die Zahl der Menschen, die Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung beziehen, ansteigen, hat der Vorstand des GKV-Spitzenverbands Gernot Kiefer angekündigt. Zu den bislang etwa 2,8 Millionen Pflegebedürftigen könnten allein im kommenden Jahr etwa 200.000 dazukommen.

Diese Ausweitung ist politisch gewollt. Zum 1. Januar tritt das Pflegestärkungsgesetz II in Kraft. Es enthält den seit mehreren Legislaturperioden vorbereiteten Wechsel zu einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Damit erhalten mehr Menschen einen regulären Zugang zur sozialen Pflegeversicherung – zum Beispiel Menschen, die an einer Demenz leiden und erhöhten Betreuungsbedarf haben. Bislang war diese Gruppe von der Versicherung nur unzureichend erfasst.

Bis zum 1. Januar wird der Hilfebedarf weiterhin vor allem somatisch betrachtet und in Minuten gemessen. Daraus errechnet sich, in welche der drei Pflegestufen ein Antragsteller eingruppiert wird.

Dann komme der scharfe Schnitt, hat der Leiter des Medizinischen Dienstes des GKV-Spitzenverbands Dr. Peter Pick angekündigt. Ab dem 1. Januar werden die von den Medizinischen Diensten gestellten Gutachten die Perspektive wechseln. Die Reform enthält zudem eine Reihe weiterer Elemente:

Begutachtungsverfahren: Die Richtlinien für die Begutachtung nach dem neuen Verfahren liegen vor und sind vom Gesundheitsministerium genehmigt. Erfasst wird, inwieweit die Selbstständigkeit eines Menschen beeinträchtigt ist. Dabei soll keine Rolle spielen, ob die Einschränkung von körperlichen oder geistigen Gebrechen verursacht ist. Bewertet wird, ob die begutachtete Person eine Aktivität praktisch ausführen kann. Dabei spielen auch die kommunikativen Fähigkeiten eine Rolle, zum Beispiel die Fähigkeit, Gespräche zu führen und Bedürfnisse mitzuteilen.

Die Gutachter bewerten die Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, die Möglichkeiten zur Selbstversorgung, den Umgang mit eigenen Krankheiten, die Gestaltung des Alltags und soziale Kontakte. Für jeden Bereich vergeben sie gewichtet Punkte. Die Selbstversorgung fließt zu 40 Prozent in die Rechnung ein, die Mobilität zu zehn. Ab 12,5 Punkten gilt ein Mensch künftig als pflegebedürftig.

Von Stufen zu Graden: Künftig wird es fünf Pflegegrade geben. Wer heute eine Pflegestufe hat, wird automatisch in den nächsthöheren Pflegegrad eingestuft (Pflegestufe 1 wird zu Pflegegrad 2). Eine neue Begutachtung findet zunächst nicht statt. Wird dennoch eine Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt, wird der Pflegebedürftige zwei Grade hochgestuft. Die Regierung betont, dass kein Bezieher von Leistungen aus der Pflegeversicherung durch die Reform schlechter gestellt werde.

Reha vor Pflege: Künftig soll der Grundsatz Rehabilitation vor Pflege gelten. Die Gutachter können Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen empfehlen. Die werden umgesetzt, sofern die begutachtete Person zustimmt. Die Gutachter können auch Hilfsmittel für die Pflege empfehlen. Ein gesonderter Antrag soll dann nicht mehr nötig sein. Die ärztliche Verordnung soll in diesen Fällen entfallen.

Pflegeberatung: Der Gesetzgeber will die Pflegeberatung stärken. Davon sollen auch pflegende Angehörige profitieren, die oft die inzwischen ausgebauten Entlastungsangebote nicht kennen. Mit dem Pflegestärkungsgesetz werden die Kommunen wieder stärker an die Pflege angebunden. Sie sollen dafür Pflegestützpunkte aufbauen können. Das war bislang den Kassen vorbehalten. Das Gesetz wird derzeit noch vom Bundestag erörtert.

Kosten: Zum Januar wird für gesetzlich Versicherte der Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte angehoben. Insgesamt steigt der Beitrag in dieser Wahlperiode um 0,5 Punkte auf 2,55 Prozent (Kinderlose 2,8 Prozent, außer in Sachsen). Damit fließen ab 2017 rund sechs Milliarden Euro mehr in die Pflege als noch 2014. Gut eine Milliarde pro Jahr fließt schon seit 2015 in einen Vorsorgefonds, aus dem in 20 Jahren eine Dämpfung des Anstiegs der Beiträge finanziert werden soll. Der Fonds wird bei der Bundesbank verwaltet. Schon die bereits 2015 in Kraft getretenen Leistungsausweitungen haben die Ausgaben der Pflegeversicherung von 24,2 Milliarden Euro auf 26,4 Milliarden Euro getrieben. 2015 haben nach Angaben des GKV-Spitzenverbands die Einnahmen die Ausgaben um 1,7 Milliarden überschritten. Das Polster der Pflegeversicherung liegt demnach bei rund 8,3 Milliarden Euro.

Kommt es zum Antragsstau?

Die Neuausrichtung der Pflege ist auf breite Zustimmung gestoßen. Kritik an der Umsetzung gibt es gleichwohl. Die Länder monieren zum Beispiel das Fehlen einer Übergangsregelung. Es bestehe die Gefahr, dass der Andrang ab 2017 zu einem Antragsstau führen könne. Tatsächlich gibt es zwei Gruppen, die ab Januar neu begutachtet werden müssen. Das sind zum einen alle, die einen neuen Antrag stellen. Zum anderen wird es Pflegebedürftige geben, die von einer Neubegutachtung eine deutliche Höherstufung mit dementsprechend höherem Pflegegeld erwarten. Beide Gruppen sind schwer zu fassen. MDS-Chef Pick stellt sich dementsprechend auf ein steigendes Aufkommen an Begutachtungen ein. Man sei inhaltlich, aber auch personell vorbereitet, sagte Pick vor kurzem in Berlin.

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