Grüne fordern

Mehr Anstrengungen gegen Zwangsbehandlungen

Zwangsbehandlungen von psychisch Kranken sollten die Ultima ratio sein: Nach Ansicht der Grünen werden immer noch nicht alle Optionen ausgeschöpft, um den Zwang zu vermeiden.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Die Grünen fordern mehr Engagement gegen Zwangsbehandlungen.

Die Grünen fordern mehr Engagement gegen Zwangsbehandlungen.

© Christoph Schmidt / dpa

BERLIN. Der Gesetzgeber hat vor zwei Jahren die Hürden für die Zwangsbehandlung von Patienten höher gelegt. Die Reform hat Fortschritte gebracht, ist aber verbesserungsfähig.

Bei einem Fachgespräch der Bundestagsfraktion der Grünen berichteten Experten und Betroffene von den Erfahrungen mit der im Februar 2013 in Kraft getretenen Novelle des Betreuungsrechts.

"Noch werden längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Zwangsbehandlungen zu vermeiden", sagte Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, der "Ärzte Zeitung".

Souveränität der Patienten stärken

Die Grünen hätten seinerzeit im Gesetzgebungsverfahren darauf gedrungen, dass einer Zwangsmaßnahme ein ernsthafter Versuch vorausgehen muss, den Betroffenen von der Behandlung zu überzeugen, erinnerte sie.

Im Rechtsausschuss des Bundestags plädierte die Fraktion damals in einem Antrag für "weitere Schritte, um die Souveränität von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu stärken".

Der vor zwei Jahren neu gefasste Paragraf 1906 BGB sieht vor, dass Ärzte einen psychisch kranken Patienten nur dann gegen seinen Willen behandeln dürfen, wenn unter anderem der erwartete Nutzen die Beeinträchtigungen "deutlich überwiegt".

Nötig sein muss die Maßnahme auch, um "einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden". Bei der Anordnung dieses Eingriffs darf der Sachverständige nicht der behandelnde Arzt sein.

Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht hatten zuvor 2011 in einem Urteilen schärfere Maßstäbe für eine Zwangsbehandlung gefordert.

Der Sozialrechtler Dr. Rolf Marschner aus München berichtete bei dem Fachgespräch, vor der Novelle sei bei zwei bis acht Prozent der stationär behandelten Patienten Zwang angewendet worden.

Neues Bewusstsein für Anwendung von Zwang

Nach neuen Zahlen sei dies noch bei 0,5 bis 1,5 Prozent der Patienten der Fall. Es gebe zwar ein neues Bewusstsein für die Anwendung von Zwang, aber noch kein Ende der Zwangspsychiatrie.

Marschner sprach sich für eine "menschenrechtsorientierte neue Psychiatrie-Enquete" aus. Die erste Enquete hatte 1975 einen Bericht veröffentlicht, der den Ausgangspunkt für viele Reformen in der psychiatrischen Versorgung bildete.

Die Grünen bezeichneten es als nicht hinnehmbar, dass die Regierung noch heute nicht angeben könne, wie viele Menschen seit Start der Reform gegen ihren Willen behandelt worden sind.

Klein-Schmeink sagte, neben einer landesweiten Dokumentation aller Zwangsbehandlungen sei dafür ein "echtes Monitoring" nötig. Aufgabe der Politik sei es, Strukturen zu schaffen, die Zwangsbehandlungen weitestgehend entbehrlich machten.

"Verbindliche Personalstandards und ein solides Finanzierungssystem versetzen Krankenhäuser erst in die Lage, patientenorientierte Behandlungen anzubieten", erklärte sie.

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Kommentare
Dr. Peter Lorenz 25.02.201511:43 Uhr

Zwangsbehandlung

Dr. Peter Lorenz: Wenn die Psychiatrie nicht nur „menschenrechtsorientiert“, sondern auch fachlich sinnvoll gestaltet werden soll, könnte die Berücksichtigung des Folgenden weiterhelfen: Notwendig ist ein neues Konzept der psychotherapeutischen Krisenintervention, das auf folgenden Erkenntnis­sen aufbaut: Die „psychotherapeutische Krisenintervention“ (bei schuldunfähigen Täter(Inne)n) sollte von der Erkenntnis ausgehen, dass die Tat eine krankhafte (pathologische) Manifestation der neuronalen Plastizität des zentralen Nervensystems im Sinne einer Anpassungsstörung ist. Dabei funktionierte das Nervensystem des/der Betroffenen in allen Strukturen völlig erwartungsgemäß so wie das einer normal reagierenden Person.

Das Gehirn funktioniert wie ein Kraftwerk, das einerseits Eindrücke in Ströme verwandelt, die Sin­nesorgan-spezifischen Zentren zugeleitet werden. Andererseits erzeugen die Zentren Ströme, die über neuronale Verschaltungen an neurale Strukturen geleitet werden, die für die Speicherung von Eindrücken (Erfahrungsbildung/-auswertung) sowie die Bedürfnis-gemäße Anpassung des Men­schen an seine Umwelt (Gestaltung des Verhaltens und Steuerung der Körperfunktionen) sorgen.

Im Ablauf seiner Entwicklung macht der Mensch Bekanntschaft mit positiven und „schädlichen“ Eindrücken der verschiedensten Art, die insgesamt seinen Erinnerungsschatz prägen. Traumatische Einwirkungen, die unwiderrufliche körperliche/seelische Schäden hervorrufen, können den Erfah­rungsschatz so belasten, dass sie die soziale Anpassungsfähigkeit der/des Betroffenen nachhaltig stören. Gewissermaßen ist die resultierende Anpassungsstörung eine plausible Reaktion auf das er­fahrene Trauma.

Betroffenen kann durch Gewichtung ihrer positiven Erfahrungen (Psycho-Edukation) geholfen wer­den, die sie (wie die meisten Menschen), während ihrer Entwicklung gemacht haben. Mit deren Hil­fe können das Trauma und die resultierende Anpassungsstörung relativiert und überwunden werden. Der therapeutische Rahmen ist eine Geprächstherapie, die gewissermaßen die neuronale Plastizität des Gehirns nutzt um Anpassungsstörungen zu überwinden. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen die Hilfe annehmen und vertraulich mit dem Gesprächspartner zusammenarbeiten.

Zu schaffen wären hierfür „Kriseninterventions-Ambulanzen“, mit denen die Polizei, die sich nach der Tat mit betroffenen Schuldunfähigen befassen muss, direkt zusammenarbeiten kann. Die Ambu­lanzen müssten unvermittelt Verbindung mit der zuständigen Gerichtsbarkeit aufnehmen, die in erster Linie die Einhaltung der Bürgerrechte Betroffener zu sichern hat.

Die bisherigen Methoden des Wegsperrens in Bezirkskrankenhäusern/ Nötigung zur Einnahme von Drogen/ schikanöse „Lockerungs“prozeduren/ Aufhebung der Bürgerrechte sind kontraproduktiv, da sie nachhaltig traumatisch wirken. Die Aufhebung dieser Maßnahmen ist jedoch Voraussetzung für einen Neuanfang der psychotherapeutischen Krisenintervention. Die über Alerts (Justiz; Maßre­gelvollzug) im Internet zugänglichen Informationen lassen jedoch die Schlussfolgerung zu, dass man – angeblich zum „Schutz der Bevölkerung“ - am Prinzip „Wegsperren, und zwar für immer (in Bezirkskrankenhäusern)“ festzuhalten gedenkt. Das bedeutet, dass Grund- und Bürgerrechte Betrof­fener weiterhin der Anwendung eines Nazi-Gesetzes (der § 63 wurde 1933 in das StGB eingefügt) geopfert werden sollen.

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