NS-Zeit: Clever will Rolle von Ärzten neu beleuchten
Baden-Württembergs Kammer-Chef wirbt dafür, die Lehren aus der NS-Zeit für medizinethische Themen fruchtbar zu machen.
Veröffentlicht:STUTTGART. Die Rolle von Ärzten in der Zeit des Nationalsozialismus will Baden-Württembergs Ärztekammer-Präsident Dr. Ulrich Clever in den Blick rücken.
Es gebe bis heute keine offizielle Stellungnahme der Landesärztekammer Baden-Württemberg zu diesem Thema, erläutert Clever im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".
"Das hat sicher auch mit der starken Stellung der Bezirksärztekammern hier im Lande zu tun", sagt Clever, der 2011 sein Amt angetreten hat.
Aber eben auch mit der Kontinuität von Amtsträgern in der Selbstverwaltung, die bislang eine Aufarbeitung vor Ort schwierig gemacht hat.
Hier will Clever ansetzen und betont den Wert auch von Gesten: "Es wäre ein Zeichen, wenn eine Delegation der Landesärztekammer die heutige Gedenkstätte Grafeneck besuchen würde."
In dem ehemaligen Samariterstift Grafeneck im Landkreis Reutlingen wurden 1940 im Rahmen der sogenannten Aktion "T4" 10654 Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen ermordet.
Organisiert wurde die Aktion, der landesweit mehr als 70.000 Menschen zum Opfer fielen, zentral von einer Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin - daher die Namensgebung.
Dort wurde auch angeordnet, dass die Tötung der Insassen durch Gas ausschließlich von Ärzten vorgenommen werden durfte. Clever würde den Besuch der Gedenkstätte durch eine Delegation "sehr begrüßen".
"Giftschrank" in der BÄK
Es gehe darum, die Erinnerung an die NS-Zeit "fruchtbar zu machen für medizinethische Fragen, die sich uns Ärzten gegenwärtig stellen", begründet Clever sein Engagement.
Die Debatten über Präimplantationsdiagnostik und Sterbehilfe seien dafür nur Stichworte. An diesem Wochenende haben die Vertreter der baden-württembergischen Kammerversammlung Gelegenheit, sich alte ethische Fragen neu zu stellen.
Auf der Tagesordnung steht die Novelle der Berufsordnung - und damit auch der Paragraf 16, in dem die Sterbebegleitung geregelt ist.
"Beim Deutschen Ärztetag in Kiel haben wir 2011 beschlossen, dass ein Arzt keine Beihilfe zur Selbsttötung leisten darf. Das wird sicher auch ein Thema in den Debatten der Vertreter sein", prognostiziert Clever.
Gleichwohl kann der Kammer-Präsident heute kein "ausgeprägtes Defizit bei der Erforschung der Rolle von Ärzten in der NS-Zeit mehr erkennen".
Allerdings ist die regionale Forschung in Baden-Württemberg schwierig, weil dort die Unterlagen der Reichsärztekammer großteils im Krieg verbrannt sind.
Dies bewahrte Clever und seine Amtsvorgänger auch von einem Erlebnis, von dem Bundesärztekammer-Präsident Dr. Frank Ulrich Montgomery jüngst beim Ärztetag in Nürnberg berichtete.
Als Montgomery sein Amt als Kammer-Chef in Hamburg antrat, wurde ihm der Schlüssel zu einem "Giftschrank" übergeben: Dieser enthielt, wie sich herausstellte, Listen mit den Namen jüdischer Ärzte, denen die Approbation entzogen worden war. Das war im Jahr 1994.