Tarifeinheitsgesetz

Nicht mehr als ein notdürftiges Flickwerk

Die Verfassungsrichter haben versucht, das Gesetz zur Tarifeinheit irgendwie zu retten. Allerdings wirkt die Entscheidung wie notdürftiges Flickwerk. Es wäre besser gewesen, der Gesetzgeber hätte noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Ein Leitartikel.

Christiane BadenbergVon Christiane Badenberg Veröffentlicht:
Nicht mehr als ein notdürftiges Flickwerk

© Daniel Karmann / dpa / picture-a

Als müssten sie sich selbst tapfer Mut zusprechen. So klangen manche Stellungnahmen von Chefs der Berufsgewerkschaften nach dem Karlsruher Urteil zum Tarifeinheitsgesetz. "Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat das Gesetz heute auf die Intensivstation gelegt und selbst schon mit der Intensivbehandlung begonnen", kommentierte zum Beispiel der Vorsitzende des Marburger Bundes Rudolf Henke das Urteil.

"Die Einschränkung der Koalitionsfreiheit wird nicht zugelassen, das Arbeitskampfrecht von Berufsgewerkschaften wird nicht eingeschränkt", sagte der Chef der Lokführergewerkschaft GdL Claus Weselsky.

Fakt ist allerdings: Keiner weiß wirklich, was jetzt kommt. Denn die Verfassungsrichter haben dem Gesetzgeber aufgetragen, bei den Rechten der Berufsgewerkschaften nachzubessern. Dafür hat er aber bis Ende nächsten Jahres Zeit. Über viele andere Fragen werden die Arbeitsgerichte entscheiden müssen.

Öffnet sich der Marburger Bund?

Der MB will nun über organisationspolitische Konsequenzen nachdenken. Das könnte heißen, dass sich die Ärztegewerkschaft für andere Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen wie Pflegekräfte oder Physiotherapeuten öffnen will, um die Mehrheitsverhältnisse bei der gewerkschaftlichen Vertretung in den Krankenhäusern zu ihren Gunsten zu verändern. Zwar hat der MB unter Ärzten einen enorm hohen Organisationsgrad (in manchen Landesverbänden bis zu 85 Prozent). Da die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aber bislang alle anderen Berufsgruppen vertritt, dürfte sie bei Tarifkollisionen fast immer in der stärkeren Position sein.

Klar ist aber, dass der Marburger Bund sich eigentlich nicht öffnen möchte. "Wenn der Marburger Bund gezwungen würde, eine Gesundheitsgewerkschaft zu werden, wäre er nicht mehr derselbe", hatte der Prozessbevollmächtigte des MB Professor Frank Schorkopf bei der zweitägigen Anhörung zum Tarifeinheitsgesetz im Januar gesagt. Fakt ist: Aus dem MB ist erst vor zwölf Jahren eine richtige Gewerkschaft geworden, nachdem die Ärzte sahen, dass ihre spezifischen Interessen in der Tarifgemeinschaft mit Verdi zugunsten anderer Berufsgruppen als Verhandlungsmasse verkauft wurden.

Nach dem Urteil herrscht vor allem Ratlosigkeit. Denn wie der Gesetzgeber nachbessern soll, dazu haben sich die Richter nicht geäußert. Hätte schon jemand eine zündende Idee gehabt, wie die Rechte kleiner Gewerkschaften verfassungskonform in ein Tarifeinheitsgesetz eingebunden werden können, Andrea Nahles als zuständige Ministerin wäre dankbar gewesen. Auch ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen kündigte schon ein Gesetz an, ließ dann aber lieber die Finger davon. Sie wusste wohl warum.

Aufgaben gehen an Arbeitsgerichte

Unbefriedigend ist auch, dass die Karlsruher Richter viele Aufgaben, die das Gesetz nicht eindeutig regelt, den Arbeitsgerichten zuweisen. Wann wird der Tarifvertrag einer kleineren Gewerkschaft verdrängt, wann darf gestreikt und wann was nachgezeichnet werden? Das sollen die Arbeitsgerichte entscheiden. Vielleicht können sich gelernte Juristen nur schwer vorstellen, dass sich die meisten Menschen nur äußerst ungern mit ihrem Arbeitgeber vor Gericht treffen. Und auch Gewerkschaften verfügen im allgemeinen nicht über prall gefüllte Geldsäcke, die sie mit Vorliebe für juristische Auseinandersetzungen plündern. Prozesse kosten Nerven, Geld und Zeit.

Setzen Gesetzgeber und Richter hier auf Abschreckung? Man will die Gewerkschafter offenbar lieber gleich auf Kompromiss trimmen, bevor sie sich gegenseitig auf Krawall bürsten.

Die Schwächen des Gesetzes und auch die des Urteilsspruchs offenbart deutlich die abweichende Meinung der beiden Verfassungsrichter Susanne Baer und Andreas L. Paulus. Beide plädierten dafür, das Gesetz für nichtigzu erklären. "Wie das durchaus komplexe System zu lösen ist, spezifische Schutzrechte in einem Tarifvertragssystem zu wahren, das mehrfach unter erheblichem Druck steht, hat nicht der Senat zu entscheiden, sondern ist vom Gesetzgeber zu gestalten und zu verantworten", formulieren die beiden. Zudem könnten die weiteren grundrechtlichen Probleme des Tarifeinheitsgesetzes, die das Urteil aufzeige, nicht einfach den Fachgerichten überlassen werden. Zwar könne der Gesetzgeber auf Erosionen der Tarifbindung reagieren, aber er dürfe sich nicht dazu hergeben, "Arbeitgeber vor einer Vielzahl der Forderungen konkurrierender Gewerkschaften zu schützen".

Zwei Richter halten das Gesetz für unnötig

Baer und Paulus stellen ohnehin die Notwendigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in Frage. Seitdem das Bundesarbeitsgericht 2010 den Grundsatz "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" gekippt habe, seien nur wenige neue Berufsgruppengewerkschaften entstanden und selbst Befürworter eines Tarifeinheitsgesetzes hätten zugegeben, "das ganz große Chaos" sei ausgeblieben. Auch die Zahl der Streiks habe seither kaum zugenommen. Nicht zu übersehen sei, dass die Gewerkschaften, die sich jetzt gegen eine erzwungene Kooperation wehrten, frühere Kooperationen aus nachvollziehbaren Gründen beendet haben. "Die Interessen der jeweiligen Berufsgruppe gingen in Branchengewerkschaften unter, Kompromisse gingen über längere Zeiträume auf Kosten einer numerischen Minderheit oder die berufliche Identität wurde nicht gewahrt", so das Minderheitenvotum.

Konflikte zwischen mehreren Gewerkschaften und Arbeitgebern seien unter anderem im Zusammenhang mit der Privatisierung von Staatsunternehmen zu sehen oder auch "durch Kompromisse in den Krisenjahren gewachsene Diskrepanzen der Arbeitsbedingungen bestimmter Berufe im Vergleich mit dem Ausland". Das trifft ganz sicher auch auf viele angestellte Ärzte zu, die wegen schlechter Arbeitsbedingungen jahrelang eine attraktivere Perspektive in Großbritannien oder der Schweiz gesucht haben.

"Die Reparatur eines Gesetzes, das sich als teilweise verfassungswidrig erweist (...) gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts. Wie eine Regelung ausgestaltet werden muss, um damit einhergehenden Einschränkungen der Rechte aus Artikel 9 Absatz 3 GG zumutbar zu gestalten, hat der Gesetzgeber zu entscheiden", sagen Baer und Paulus. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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