Ärztekammer Westfalen-Lippe
Pandemie: „Die Datenbasis ist eine Katastrophe“
Tragfähige Konzepte zur Bekämpfung der Pandemie gesucht – auch bei der ÄKWL. Mangelhaftes Datenmanagement und fehlende Dialogbereitschaft der Politik werden bei der Kammerversammlung kritisiert.
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„Wir müssen weg davon, dass wir nur ein Mittel gegen die Pandemie haben: den Lockdown.“ – ÄKWL-Chef Dr. Hans-Albert Gehle (r.), hier zusammen mit seinem Vize und BÄK-Chef Dr. Klaus Reinhardt (l.) im Bild. (Archivbild)
© AEKWL
Münster. In der Pandemie-Bekämpfung in Deutschland rächt sich das Fehlen einer Strategie für den Umgang mit Daten. Das machte Professor Thorsten Lehr auf der virtuellen Kammerversammlung der Ärztekammer der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) deutlich. Lehr sieht Defizite im Bereich der Erhebung, der Auswertung und der Verfügbarmachung von Daten.
„Die Datenbasis ist eine Katastrophe“, sagte Lehr, der Professor für Klinische Pharmakologie an der Universität des Saarlandes ist. Er hat gemeinsam mit anderen Forschern den COVID-19-Simulator entwickelt. Dabei handelt es sich um ein mathematisches Modell zur Prognose des Verlaufs der Infektionen in den einzelnen Bundesländern. Jeden Mittwoch wird die Simulation auf covid-simulator.com aktualisiert. „Wir müssen uns die Daten aus verschiedenen Ecken zusammenklauben“, berichtete er.
Für notwendig hält er ein zentrales Datenregister. „Die schnelle Verfügbarkeit von Daten in anonymisierter Form muss da sein, die Daten müssen ausgewertet werden können.“ Vorbild könnte die Schweiz sein. „Ich habe in einer Stunde einen Datensatz für die gesamte Schweiz gebaut. In Deutschland brauche ich zwei Stunden, um die Daten zusammenzubekommen“, sagte Lehr.
Schnelltests als Negativ-Paradebeispiel
Die Schnelltests zeigen für ihn die Mängel in der Datenerfassung. Man wisse nicht, wo die Schnelltests eingesetzt werden, wer sie einsetzt und wie viele Fälle durch sie entdeckt werden.
„Wir haben auch keine Ursprungsdaten, wo die Infektionen stattgefunden haben.“ Das Wissen liege zwar bei den einzelnen Gesundheitsämtern, werde aber nicht zusammengeführt. „Wir wissen nichts über die sozialen Zusammenhänge, über Cluster.“
Zudem fehlten Informationen über Kontaktwege. „Ich kann die Isolation besser durchführen und Hygienepläne besser ausarbeiten, wenn ich weiß, wo Kontakte stattfinden“, sagte er.
Lehr: Zu wenig Mut, neue Konzepte auszuprobieren
Nicht nur beim Umgang mit Daten sieht Lehr Defizite. Die Folgen der einzelnen Lockerungsmaßnahmen sind seiner Ansicht nach zu wenig evaluiert worden. Auch mangele es häufig an Mut, neue Konzepte auszuprobieren. „Es fehlt eine Fehlerkultur, man muss aus Fehlern lernen können“, forderte er.
Der ehemalige Gesundheitsweise Professor Martin Schrappe warf der Politik vor, kein Konzept zur Bekämpfung der Pandemie zu haben. Ein Grund: „Es fehlt die Stimme von Ärzten, Pflegern und anderen Berufsgruppen, die praktisch vor Ort wissen, was Infektionsbekämpfung ist.“ Der Internist hat in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Autoren aus unterschiedlichen Bereichen Thesenpapiere zur Bewältigung der Pandemie veröffentlicht.
„Ich bin der Meinung, man sollte den politischen Druck erhöhen, dass Fachleute mit Kenntnis aus der Infektionsbekämpfung in die Strategieplanung einbezogen werden“, sagte Schrappe. Das richte sich nicht gegen die Menschen, die bereits die Politik beraten, betonte er. „Wir brauchen Virologen.“
Schrappe sieht die Ärzteschaft in der richtigen Position, um die notwendige gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit der Pandemie zu moderieren.
Gehle: „Man vertraut der Ärzteschaft nicht mehr“
„Wir haben von Anfang an versucht, uns in die Diskussion einzumischen, das ist nicht nur positiv aufgenommen worden“, sagte ÄKWL-Präsident Dr. Hans-Albert Gehle. Auch er forderte tragfähige Konzepte für die Pandemie-Bekämpfung. „Wir müssen weg davon, dass wir nur ein Mittel haben: den Lockdown.“
Nach Einschätzung von Gehle muss die Ärzteschaft einen Plan entwickeln und sich damit bei der Politik Gehör verschaffen. Aber dabei gebe es ein Problem: „Man vertraut der Ärzteschaft nicht mehr, man ist zu einem sturen Durchverwalten übergegangen“, bedauerte er.
„Was uns alle einigt, ist der Versuch, zwischen dem Gesundheitsschutz und den ausgelösten Kollateralschäden eine Balance herzustellen“, glaubt Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Vizepräsident der ÄKWL.
Er habe Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits im April 2020 die Installation eines Pandemierates zur kritischen Beleuchtung der Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene vorgeschlagen, berichtete Reinhardt. Die Bereitschaft der Politik, sich mit einer strukturierten kritischen Organisation auseinanderzusetzen, sei aber relativ gering.