Streit um Pandemie-Marker

RKI-Chef Wieler: Corona-Inzidenz bleibt frühester Indikator

Die vierte Corona-Welle ist da, sagt RKI-Chef Lothar Wieler. Eine Regierungssprecherin nennt die Lage besorgniserregend. Bei der Bund-Länder-Runde soll es auch um neue Indikatoren zur Bewertung des Pandemieverlaufs gehen.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
RKI-Chef Professor Lothar Wieler: „Hohe Impfquoten alleine sind nicht ausreichend, die vierte Welle flach zu halten.“

RKI-Chef Professor Lothar Wieler: „Hohe Impfquoten alleine sind nicht ausreichend, die vierte Welle flach zu halten.“

© Michael Kappeler/dpa

Berlin. Die Zahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 ist binnen eines Tages um 2768 Fälle gestiegen. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland klettert seit drei Wochen und liegt aktuell bei 15. Der Chef des Robert Koch Instituts (RKI) Professor Lothar Wieler sieht die vierte Corona-Welle angekommen.

Um die Indikatoren zur Bewertung des Pandemieverlaufs sind unterdessen heftige Diskussionen entbrannt. Hintergrund ist das Maß von Alltagseinschränkungen, das trotz fortschreitender Impfkampagne aufrecht erhalten werden soll, um die Pandemie mit Blick auf Urlaubsrückkehrer, Schulbeginn sowie kühlere Temperaturen in Herbst und Winter im Griff zu behalten und das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen.

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Der Streit reicht bis in die Ministerpräsidentenriege hinein. So wirft Bayerns Regierungs-Chef Markus Söder (CSU) seinem nordrhein-westfälischen Kollegen Armin Laschet, zudem Kanzlerkandidat der Union, einen allzu laxen Umgang mit der Pandemie vor. Anders als Laschet will Söder zügig wieder Verschärfungen der Corona-Maßnahmen durchsetzen, zum Beispiel bei den Einreiseregeln.

Bund und Länder wollen reagieren

Am 10. August kommen die Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu einer außerplanmäßigen Konferenz zusammen. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat bereits angekündigt, dass Fragen rund um die künftigen Pandemiemarker auf der Tagesordnung stehen sollen.

RKI-Präsident Wieler hat im Vorfeld bereits die Staats- und Senatskanzlei-Chefs der Länder über die Lage informiert. In seiner Folien-Präsentation, die der „Ärzte Zeitung“ vorliegt, stellt er fest: „Die vierte Welle hat begonnen“. Unter anderem sei die Zahl der Hospitalisierungen seit zwei Wochen wieder im Steigflug. Der R-Wert liege seit Anfang Juli kontinuierlich über eins.

Wieler: Leitindikator Inzidenz

Wieler betonte bei seinem Vortrag, dass die Inzidenz „Leitindikator für die Infektionsdynamik“ sei. „Eine steigende Sieben-Tage-Inzidenz (…) bleibt der früheste aller Indikatoren“, heißt es in seinem Fazit. Sie gehe den Entwicklungen voraus und weise auf eine Zunahme von schweren Verläufen, Krankenhauseinweisungen mit Intensivbehandlung und Todesfälle hin. Sie bleibe daher wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und „frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle“ einzuleiten.

„Hohe Impfquoten alleine sind nicht ausreichend, die vierte Welle flach zu halten“, formuliert Wieler. Und: „Mehr als 40 Millionen Menschen unserer Bevölkerung haben aktuell keinen vollständigen Impfschutz“. Je höher die Inzidenz klettere, desto schlechter gelinge der „Schutz der Individualgesundheit und der offenen Gesellschaft“. Prävention, also eine niedrige Inzidenz, genieße daher weiterhin die höchste Priorität.

Wieler strich zudem die Bedeutung des Impfens heraus. Für die 12- bis 59-Jährigen seien mindestens 85 Prozent anzupeilen, für die Über-60-Jährigen gar 90 Prozent. Die Gesundheitsämter sollten in die Impfkampagne eingebunden werden. Zielgruppenspezifisches und aufsuchendes Impfen seien jetzt wichtig.

RKI: Setzen nicht nur auf einen Wert

Nach Vorwürfen gegen Wieler, er hebe trotz des Impffortschritts zu stark auf die Inzidenz ab, hat das Robert-Koch-Institut auf Anfrage der „Ärzte Zeitung“ darauf verwiesen, dass in seinen ausführlichen Lage- und Strategieberichten die Sieben-Tage-Inzidenz nie als alleiniger Marker aufgeführt werde.

Regierungssprecherin Ulrike Demmer schloss am Mittwoch für die Regierung aus, alleine auf die Inzidenz zu setzen. Kanzlerin Merkel habe bei verschiedenen Gelegenheiten in der vergangenen Woche gesagt, dass sich das Impfen auf die Inzidenz auswirke, die daher nicht der einzige zu berücksichtigende Wert sei. Gleichwohl werde die Entwicklung in der Regierung als „besorgniserregend“ empfunden.

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Inzidenz nicht einziger Gradmesser

Die Inzidenzwerte seien nicht mehr alleiniger Gradmesser dafür, wie viele Menschen wirklich schwer erkrankten, sagte derweil der Präsident der Deutschen Gesellschaft für internistische Intensiv- und Notfallmedizin, Professor Christian Karagiannidis, der ARD. Inzidenz, Hospitalisierung und Aufnahmen auf Intensivstationen müssten allerdings immer zusammen betrachtet werden.

Experten halten zudem die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19, die Zahlen der Krankenhauseinweisungen aufgrund anderer Indikationen als COVID, die Laborbefunde und die Zahl der AU-Bescheinigungen wegen Corona-Infektionen als Marker für Gegenmaßnahmen für aussagefähig.

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