Psychotherapie
Seelenstress von Kindern löst Reaktion der Politik aus
Depressionen und Zukunftsängste nehmen zu: Die Pandemie kann Spuren in den Seelen von Kindern und Jugendlichen hinterlassen. Fachleute warnen vor Chronifizierung. Gesundheitsminister Jens Spahn will auf Expertenrunden und digitale Hilfsangebote setzen.
Veröffentlicht:Berlin. Die mentale und körperliche Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie rückt nun auch in das Blickfeld der Politik. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat am Freitag angekündigt, dazu Expertenrunden aus Ärzten und Psychotherapeuten einzuberufen. Ein sechsjähriges Kind habe inzwischen mehr als ein Sechstel seines Lebens unter den erschwerten Bedingungen verbracht. Es gebe Kinder, die zwar eingeschult seien, aber noch keine Schule von innen gesehen hätten.
Dringend gesprochen werden müsse auch über Wartezeiten auf psychiatrische Behandlungen sowie ausgefallene Vorsorgeuntersuchungen, U-Untersuchungen und Impfungen bei Kindern und Jugendlichen. Spahn kündigte zudem an, niedrigschwellige digitale Angebote wie „krisenchat.de“ für unter 25-jährige Menschen ergänzend zum Angebot in den Praxen unterstützen zu wollen.
Depressionen und Ängste nehmen zu
Keine Lehrstellen, keine Praktika während des Studiums, keine Ferienjobs, Sorgen um die Zukunft und die eigene Gesundheit. Die Pandemie wird Spuren auf den Seelen vieler junger Menschen hinterlassen. Darauf haben vor dem Wochenende nationale und internationale Organisationen verwiesen.
Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) spricht im diese Woche erschienenen „Report Psychotherapie 2021“ von durch die Pandemie und Lockdown ausgelösten depressiven Gefühlen und Ängsten in der Allgemeinbevölkerung. Besonders betroffen seien Menschen zwischen 18 und 29 Jahren und Menschen mit unterdurchschnittlichen Haushaltseinkommen. Das DAK-Präventionsradar meldet, dass die Lebenszufriedenheit der Schulkinder im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie um 21 Prozent gesunken sei. Befragt wurden dafür 14.000 Schülerinnen und Schüler in 13 Bundesländern.
18 Monate Wartezeit auf Therapie?
Der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) hat über den Winter Daten von 400 Psychotherapeuten und rund 10.000 Patienten ausgewertet. „Wir sehen in allen Bereichen einen Anstieg an psychopathologischer Belastung, bei Depression, Essstörung und Suchterkrankungen“, kommentierte die Psychotherapeutin Professor Julia Asbrand von der Berliner Humboldt-Universität diese Arbeit bei einer virtuellen Diskussionsrunde der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) am Freitag.
Gleichzeitig gebe es Hilferufe von niedergelassenen Psychotherapeuten und den Psychiatrien. Es habe gerade bei Kindern und Jugendlichen schon immer lange Wartezeiten auf psychotherapeutische Behandlungen gegeben. Vor der Pandemie hätten sie für Erwachsene bei vier Monaten gelegen, für Kinder bei zwischen sechs und zwölf Monaten, so Asbrand. Inzwischen müsse man grob geschätzt von einem Anstieg der durchschnittlichen Wartezeiten auf zwischen zwölf und 18 Monate ausgehen. Das schaffe ein Versorgungsproblem: „Was bedeutet ein Jahr im Leben von Kindern und Jugendlichen?“ fragte Asbrand. Es gebe die Gefahr der Chronifizierung und des Auftretens von Komorbiditäten. Wirtschaftliche und soziale Folgen seien immer schwerer aufzufangen, wenn Schule oder Lehre abgebrochen würden.
Elternbefindlichkeit liegt am Boden
Rund um die psychischen und gesundheitlichen Belastungen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in der Pandemie gibt es zahlreiche Untersuchungen. In der ersten Corona-Welle hätten psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen noch keine Rolle gespielt, sagte Katharina Spieß vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bei der OECD-Runde. Inzwischen könne das DIW aus seinem „Familien-Monitor“ ablesen, dass die Zufriedenheit in den Familien „massiv abgenommen“ habe, so Spieß. Das Wohlbefinden der Eltern sei am niedrigsten Punkt seit Beginn der Pandemie angekommen. Dies gelte insbesondere für Eltern mit niedrigerem Bildungsniveau.
Sie machten sich verstärkt Sorgen um die Bildung ihrer Kinder und um ihre Gesundheit. Um ihre eigene wirtschaftliche Situation sorgten sie sich aber deutlich weniger. Bei Eltern mit höherem Bildungsniveau gebe es dagegen keinesfalls solch starke Einbrüche beim Wohlbefinden.
Einige Schüler werden psychisch krank
Gerade Schüler machten sich in hohem Maße Sorgen über ihre berufliche Zukunft, bestätigte Alexander Patzina vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In der ersten Welle hätten die Schulschließungen noch eine Art „Ferienstimmung“ ausgelöst.
Der langfristige Trend zeige nun aber einen „starken Abfall des subjektiven Wohlbefindens“ bei Schülern, vor allem bei denen, die noch in der Schule sind. Im Abiturjahrgang 2020, der „noch rechtzeitig aus der Schule rausgekommen“ (Patzina) sei, habe sich am Gesundheitszustand wenig verändert. Beim Jahrgang 2021 sei jedoch zu beobachten, wie sich die psychische Gesundheit verschlechtert habe.