Pflege-TÜV

Streit versperrt die Sicht auf die eigentliche Reformbaustelle

Pflegebedürftig sind Menschen im Laufe ihres Lebens mehrfach: nach der Geburt, nach Operationen und eventuell im Alter. Das macht die Pflege so wichtig. Das Pflege-TÜV-Desaster darf den Blick auf strukturelle Qualitätsmängel nicht verstellen.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Zuwendung und Lebensqualität sind Bewertungsfaktoren für Pflegeheime. Die Gesamtnoten allein sind wenig aussagekräftig.

Zuwendung und Lebensqualität sind Bewertungsfaktoren für Pflegeheime. Die Gesamtnoten allein sind wenig aussagekräftig.

© Rainer Jensen / dpa

BERLIN. Die Debatte um die Aussetzung oder Abschaffung des "Pflege-TÜV" ist ein Surrogat für einen Diskurs zu den eigentlichen Herausforderungen in der Pflege.

Gesprochen werden müsste über die aufkommende Krise des Pflegearbeitsmarktes und über eine Vorstellung davon, welchen Nutzen sich die Gesellschaft von einem qualitativ hochwertigen Pflegesystem erwartet.

Qualität in der Pflege lässt sich sowohl im Krankenhaus als auch in den stationären Altenpflegeeinrichtungen nicht ohne Personal herstellen.

Echte Reformen werden verhindert

Die inhomogene Pflegelandschaft verhindert zudem echte Reformen, zum Beispiel in Richtung sektorübergreifender Qualitätssicherung.

Die mit dem Thema befassten Politiker sollten nicht der Versuchung erliegen, die Pflegenoten zum Popanz aufzubauen, der für alles, was in der Pflege im Argen liegt, verantwortlich gemacht werden kann.

Erstens: Es gibt keine einheitliche Vorstellung von der Qualität, die Pflege leisten sollte. Die Aufteilung des Pflegekomplexes auf mehrere Sozialgesetzbücher verhindert Pflegepolitik aus einem Guss.

Der Gemeinsame Bundesausschuss kann Qualitätssicherungsvorgaben zum Beispiel für die Dekubitusprophylaxe in Krankenhäusern beschließen, in die Altenpflege- oder Rehabilitationseinrichtungen hinein reicht sein Einfluss nicht.

An der Schnittstelle zwischen Medizin und Pflege können so rein strukturell bedingte Qualitätsdefizite entstehen.

Zweitens: Um Qualität herzustellen, bedarf es Personal, Arbeitszeit und Material. Die ersten beiden Güter sind äußerst knapp. In den Krankenhäusern verändern sich die Personalschlüssel kontinuierlich zuungunsten der Pflege.

Das Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln sieht die Personalausstattung auf dem Niveau von vor zehn Jahren. Die Zahlen der zu versorgenden Patienten und der Pflegekräfte ins Verhältnis gesetzt, zeichnen ein klares Bild.

1995 versorgte eine Pflegekraft rechnerisch 48,5 Patienten. 2012 waren es bereits 65,3. Unwuchten haben sich auch im Verhältnis zwischen Ärzten und Pflegekräften aufgetan. 1995 kamen auf einen Arzt 3,3 Pflegende, heute sind es 2,1.

Dem Pflegearbeitsmarkt geht 2018 die Luft aus

Die Situation in den Heimen ist nicht so gut dokumentiert. Wohl aber gibt es Aussagen zum rechnerischen Bedarf an Personal insgesamt.

Das Statistische Bundesamt und das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) haben bereits 2010 vorhergesagt, dass in den Pflegeberufen insgesamt bis 2025 mehr als 150.000 Beschäftigte fehlen werden.

Spätestens 2018, so die Berechnungen, werde dem Pflegearbeitsmarkt die Luft ausgehen. Mit mehr Vollzeit- statt Teilzeitkräften ließe sich ein Teil des erwarteten Arbeitskräftedefizits wieder ausgleichen, so die Statistiker.

Das Gegenteil ist der Fall: Eine im Januar vom Pflegebeauftragten der Bundesregierung Karl-Josef Laumann (CDU) vorgestellte Studie hat ergeben, dass Vollzeitbeschäftigung in der Altenpflege eher die Ausnahme als die Regel ist.

Drittens: Den Pflege-TÜV zu streichen bringt nicht über Nacht ein neues Bewertungssystem hervor. Es ist richtig, die Gesamtnoten in Frage zu stellen.

Sie helfen Interessenten nicht weiter und haben eine falsche Steuerungswirkung in Richtung Dokumentation entfaltet. Pflegewissenschaftler halten es aber dringend für geboten, die Beratung des Personals in den Heimen durch die Medizinischen Dienste aufrecht zu erhalten.

Im Gespräch ist nun, eine Gruppe von Pflegewissenschaftlern ein neues Notenschema ausarbeiten zu lassen. Mit dem nach dem Bielefelder Wissenschaftler Dr. Klaus Wingenfeld benannten Modell liegt allerdings schon eine im Feldversuch erprobte Alternative vor.

Es stützt sich auf eine Reihe von Indikatoren zur Messung von Ergebnis- und Lebensqualität. Gleichgültig, für was die Politik sich entscheidet, die Pflegeberufe sollten eng in diesen Prozess eingebunden werden.

Qualität zu bestimmen ist wie in der Medizin auch eine berufsgruppenspezifische Aufgabe. Aber: Das neue Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen soll, so wird bereits kolportiert, ärztlich dominiert sein, die Pflege werde "untergerührt".

Finanzielle Anreize schaden der Qualität nicht

Viertens: Kosten und Nutzen von Qualität in der Pflege sind höchst unterschiedlich verteilt. Um die Zahl der Dekubiti auf null zu drücken, muss ein Heim Aufwand betreiben. Das Personal muss dementsprechend qualifiziert und motiviert sein.

Von der Steigerung der Qualität hat der Anbieter jedoch nicht direkt etwas. Den Nutzen heimsen die Gepflegten und die Krankenkassen ein, die weniger Geld für Krankenhauseinweisungen und Arztbehandlungen aufwenden müssen.

Hier liegt Potenzial für Wettbewerb über leistungsorientierte Vergütungen für Einrichtungen mit ausgewiesen hoher Qualität brach.

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