Schleswig-Holstein
Studie: Psychopharmaka im Norden ohne Einwilligung verabreicht
Eine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt, dass in psychiatrischen Einrichtungen in Schleswig-Holstein bis in die siebziger Jahre Psychopharmaka verabreicht wurden, ohne die Patienten aufzuklären oder um ihre Einwilligung zu bitten. Sozialminister Garg zeigt sich erschüttert.
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Zwischen 1949 und 1975 wurden in Schleswig-Holstein vielen Psychiatriepatienten Psychopharmaka ohne Einwilligung oder Aufklärung verabreicht.
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Kiel. Psychopharmaka wurden in Psychiatrien und Einrichtungen der Behindertenhilfe bis Mitte der siebziger Jahre ohne Einwilligung und Aufklärung der Betroffenen verabreicht – eine kaum hinterfragte Praxis, die damals weder bei Herstellern, noch bei Trägern der Einrichtungen ethische oder rechtliche Bedenken hervorrief. Dies bestätigt eine wissenschaftliche Untersuchung durch das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Uni Lübeck, die das Land Schleswig-Holstein im Zuge der Aufarbeitung der Geschehnisse in diesen Einrichtungen in Auftrag gegeben hatte.
Die Untersuchung findet keine Hinweise auf Einwilligungen oder Aufklärungen, die die Wissenschaftler aber als ethisch und rechtlich erforderlich einstufen, auch wenn die Prüfung von Medikamenten bis zur Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes von 1976 keinen genaueren Rechtsregelungen unterworfen war.
Hersteller sollen sich an Aufklärung beteiligen
Schleswig-Holsteins Sozialminister Dr. Heiner Garg (FDP) sieht in den Ergebnissen der Studie einen „erschütternden Beleg für das große Leid und Unrecht, das Betroffene erfahren haben.“ Im Sozialausschuss des Landtages sagte Garg: „Auch wenn das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden kann, sollten alle Beteiligten oder deren Nachfolger Verantwortung übernehmen, um Betroffene zu unterstützen.“
Garg fordert in diesem Zusammenhang von Pharmaherstellern, „sich ihrer moralisch ethischen Verantwortung zu stellen und sich an der gemeinsamen Aufarbeitung zu beteiligen“. Der Minister sieht die Pharmahersteller genauso in der Pflicht wie das Land, Ärzte- und Richterschaft, Psychiatrien und die Kirche. Er hat den Abschlussbericht deshalb an vier Pharmahersteller gesendet, die laut Landesregierung nachweislich an Medikamentenversuchen vor der Markteinführung beteiligt waren.
Vergleichbare Geschehnisse auch in anderen Bundesländern
Einer breiten Öffentlichkeit waren die Geschehnisse in den Einrichtungen zwischen 1949 und 1975 bekannt geworden, nachdem Betroffene im Kieler Landtag im Rahmen eines Symposiums über die Medikamentenversuche gegen ihren Willen, aber auch über körperliche, seelische und sexualisierte Gewalterfahrungen in diesen Einrichtungen berichtet hatten. Vergleichbare Geschehnisse hat es auch in anderen Bundesländern gegeben, weshalb Bund, Bundesländer und Kirchen 2017 die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ gegründet haben, über die Betroffene noch bis 30. Juni 2021 Unterstützungsleistungen erhalten können.
In Schleswig-Holstein wurden bislang 10,7 Millionen Euro an fast 1000 Betroffene ausgezahlt – bis zu 14 .000 Euro pro Person. Das Land hat weitere 6,2 Millionen Euro über einen Hilfsfonds bereitgestellt, um Betroffenen auch über die Frist hinaus Unterstützung gewähren zu können. Diese Unterstützung ist nach Angaben des Sozialministeriums bundesweit bisher einmalig.