TV Kritik
„Tyrannei der Ungeimpften“: Der Zorn der Vernünftigen
Soll es eine Impfpflicht für medizinisches Personal geben? Auch darüber stritten sich die Talkshow-Gäste bei „Anne Will“. Impfskeptiker werden aber auch nach der Sendung nicht bekehrt worden sein.
Veröffentlicht:„Wir erleben zur Zeit eine Tyrannei der Ungeimpften“ – mit dieser Aussage bei „Anne Will“ am Sonntagabend artikulierte Professor Frank Ulrich Montgomery, der Ratsvorsitzende des Weltärztebundes, den Zorn all jener Vernünftigen, die sich gegen COVID-19 haben impfen lassen. Es ist nach aktuellem Stand eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit der Bevölkerung.
Doch trotz möglichen Impfschutzes steigen die Infektionszahlen exponentiell, die Sieben-Tage-Inzidenz überschritt am Montag den Wert von 200. Dabei dürfte eigentlich in den Nenner des Quotienten nur noch dasjenige Drittel einbezogen werden, das nicht geimpft ist: Dann läge die Sieben-Tages-Inzidenz bei 600 und würde das Risiko zutreffender widerspiegeln.
Montgomery appelliert an besondere moralische Verantwortung
Vor dem Hintergrund des wachsenden Risikos von Impfdurchbrüchen vor allem bei den am Jahresanfang vakzinierten betagten Menschen ist die Forderung Montgomerys – und weiter Teile der Ärzteschaft – folgerichtig, eine gesetzliche Pflicht zur Impfung für alle Gesundheitsberufe zu schaffen. „Wir haben als Ärzte und als Pflegeberufe eine moralische Verantwortung für die uns anvertrauten Patienten.“
Kommentar zur Corona-Lage
Tyrannei des Sittenverfalls
Doch dieses Berufsethos ist offenkundig nicht Standard bei allen Gesundheitsberufen. „Die Pflegeberufe können es nicht auf sich sitzen lassen, dass wir als Pandemietreiber hingestellt werden“, wehrte Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, ab. 90 Prozent der Pflegekräfte in Kliniken seien geimpft – eine Schwachstelle seien die Pflegeheime, und dort vor allem die Hilfskräfte, bei denen die Impfquote mangels Meldesystematik gar nicht bekannt sei. Eine Impfpflicht für Gesundheitsberufe werde noch mehr Pflegende zur Jobaufgabe bewegen. Nur wenn es diese Pflicht für alle gebe, sei mit Akzeptanz zu rechnen. „Wir sind Bürger wie jeder andere.“
Buyx hält spezielle Impfpflicht für begründbar
„Ich bin erstaunt“, so die Reaktion der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx. Es gebe de facto einen Unterschied zwischen dem Durchschnitt der Bevölkerung und dem Infektionsrisiko bei Pflegebedürftigkeit. Die Medizinethikerin leitet daraus eine besondere Verantwortung auch der Pflegeberufe ab und hält hier eine spezielle Impfpflicht für gut begründbar. Und als Zwischenschritt eine klare Auskunftspflicht der Heimbeschäftigten zu ihrem Impfstatus gegenüber dem Arbeitgeber.
Und die Zeit dränge, so Alena Buyx: Zwölf Millionen Menschen, Alte und Pflegebedürftige, die als erste am Jahresanfang geimpft worden waren, benötigen dringend eine Boosterung – mit aktuell 160.000 Impfungen pro Tag sei das Tempo viel zu langsam. Notwendig seien individuelle Ansprache, zielgruppenspezifische Aufklärung, attraktive Anreize („mehr als eine Bratwurst“) und Einladungsverfahren mit vorgegebenen Terminen. „Ich werde unruhig, wenn ich die Praxis sehe“, konstatiert Buyx.
Söder hält sich ganz gegen seine Gewohnheit zurück
So klar die Problembeschreibung an diesem Abend war, so diffus ist die politische Lage in einem Interregnum unter einer geschäftsführenden Bundesregierung und einer noch nicht existierenden Ampelkoalition. Bezeichnend die Bemerkung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), sonst ein Mann der harten Worte: „Eine Impfpflicht für Pflegeberufe kann man erwägen.“ Und das heißt, dass auch in der vierten Welle der Pandemie nicht konsequent entschieden und gehandelt wird. Und eine Minderheit von Querulanten und Gleichgültigen Vernunft und Verantwortung außer Kraft setzt.