Notfall & Co.
Warum sich Internisten nach echten Strukturreformen sehnen
Corona-Brille absetzen und den Blick auf große Reformbaustellen richten: So lautet eine Forderung der Internistinnen und Internisten an Gesundheitsminister Lauterbach. Zur Notfallreform etwa gebe es bereits gute Vorschläge.
Veröffentlicht:Berlin. Die Probleme sind seit Jahren bekannt: Patienten mit Bagatellerkrankungen verstopfen die Notaufnahmen, Rettungswagen werden bei Kleinigkeiten gerufen, fast jeder sieht sich als „Notfall“. Und Ärztinnen, Ärzte wie auch Pflegepersonal müssen die Folgen der falschen Inanspruchnahme eines ohnehin angeschlagenen Systems ausbaden.
„Wir haben kein Erkenntnisproblem“, stellt denn auch die Präsidentin des Bundesverbands Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI), die Hamburger Hausärztin Christine Neumann-Grutzeck, fest. Für eine „bedarfsgerechte und ressourcenschonende Notfallversorgung“ in Deutschland brauche es endlich eine „tiefgreifende Reform“. Auf die warteten die Internisten seit 2017 – „schon damals haben wir Vorschläge für eine Notfallreform vorgelegt“.
Ungeduldiges Warten auf die Reform
„Passiert ist seither nichts“, ergänzt BDI-Vize Dr. Kevin Schulte. Stattdessen verzettele sich Deutschland beim Thema Notfall immer wieder in der Diskussion, wer wo und wie den „Hut“ aufhat. „Man muss aber zuerst die Strukturfrage klären, bevor man über Zuständigkeiten spricht“, sagt Schulte, der auch stellvertretender Klinikdirektor am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein ist.
Am vergangenen Freitag, zum Auftakt des 15. Deutschen Internistentages in Berlin, hat der BDI seine Forderung nach einer Notfallreform wiederholt und Gesundheitsminister Karl Lauterbach in die Pflicht genommen. „Das Bundesgesundheitsministerium muss die Voraussetzungen schaffen“, adressiert Neumann-Grutzeck an den SPD-Politiker.
Lauterbach, setzt die BDI-Präsidentin hinzu, beschäftige sich seit seinem Amtsantritt im Dezember 2021 nahezu ausschließlich mit der Pandemiebekämpfung – versorgungspolitische Themen blieben liegen. „Es braucht jetzt politischen Mut, keine Expertenrunden“, spielt Neumann-Grutzeck auf die von der Ampel einberufene Expertenkommission zur Krankenhausreform an.
Politischer Mut statt Kommissionen
Freilich: Ideen, wie es beim Notfall weitergehen könnte, hatte der Bund schon in der vergangenen Legislaturperiode entwickelt. Einen Referentenentwurf dazu hatte das Bundesgesundheitsministerium unter dem damaligen Ressortchef Jens Spahn (CDU) erarbeitet – in den Bundestag schaffte es das Papier aber nicht. Es verschwand wieder in der Schublade – auch weil sich Vertragsärzte und Krankenhäuser in der Sache nicht zusammenraufen konnten und die Länder ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollten.
Die Partner in der Selbstverwaltung müssten jetzt „aufeinander zugehen“, sagt BDI-Vize Dr. Norbert Smetak. „Im Kleinen funktioniert es ja schon sehr gut“, sagt der Kirchheimer Kardiologe und meint damit jene Regionen, in denen Niedergelassene und Kliniken beim Thema Notfall an einem Strick ziehen.
Verbindliche Ersteinschätzung – am Telefon oder digital
„Das Thema brennt – und ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Minister daran vorbeischauen kann“, betont Neumann-Grutzeck. Als Lektüre empfiehlt sie Lauterbach auch das aktuelle Positionspapier des BDI zur Notfallversorgung.
Grundsätzlich gehe es darum, „Patientenströme intelligent zu steuern“, heißt es darin. Damit Notfälle auf die richtige Behandlungsebene gesteuert würden, seien die Rufnummern 116117 für den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst und die 112 für den Rettungswagen in einer „gemeinsamen Notfallleitstelle“ zusammenzuführen. Telefonisch oder digital habe dann eine Ersteinschätzung zu erfolgen, ob der betreffende Patient die Notaufnahme aufsuchen soll oder ob sein Anliegen auch von einem niedergelassenen Arzt abgeklärt werden kann. Die Ersteinschätzung müsse für alle Patienten verbindlich sein.
Bitte keinen Illusionen aufsitzen
Dasselbe habe für „Fußgänger“ – Patienten, die selbstständig die Notaufnahme aufsuchen – zu gelten. Zu Hilfe genommen werden sollten bei der Ersteinschätzung „einheitliche, standardisierte und validierte Algorithmen“, die auch bei digitaler Steuerung nutzbar seien.
In den Fällen, in denen eine Zuweisung auf die richtige Versorgungsebene nicht eindeutig möglich sei, sollten die Patienten zur weiteren Abklärung an ein Integriertes Notfallzentrum (INZ) verwiesen oder transportiert werden. An einem gemeinsamen Tresen, der von der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und dem Krankenhaus betrieben werde, erfolge eine weitere Triage nach Dringlichkeit der Behandlung.
BDI-Präsidentin Neumann-Grutzeck warnt die Politik aber davor, Illusionen aufzusitzen. Bundesweit nähmen von den 1700 Akutkrankenhäusern etwa 1200 am System der gestuften Notfallversorgung laut G-BA-Richtlinie teil. An all diesen 1200 Häusern ein INZ vorhalten zu wollen, „wird nicht funktionieren“ – schon deshalb nicht, weil ärztliches und fachpflegerisches Personal dafür fehlt, so Neumann-Grutzeck. „Verschlankung und Neustrukturierung“ müssten Leitmotive sein, wenn es um die Vergabe von INZ-Standorten geht, heißt es auch im BDI-Papier.
„Die Knappheit möglichst gut managen“
Zudem verweisen die Internisten darauf, dass es bereits an jedem zweiten Krankenhaus mit Notfallstufe „funktionierende Kooperationen“ zwischen KVen und Krankenhäusern gebe. „Das, was gut läuft, sollte erhalten bleiben“, formuliert Neumann-Grutzeck die Erwartung des BDI.
Im Übrigen habe ein Umbau der Notfallversorgung die ambulanten Strukturen zu stärken und Patienten, die nicht lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt seien, dorthin statt ins Krankenhaus zu steuern. Studien, rechnet die BDI-Spitze vor, gingen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent aller Patienten, die eine Notaufnahme aufsuchen, auch von Haus- und Fachärzten angemessen versorgt werden könnten.
Wann auch immer Minister Lauterbach mit seinen Notfall-Plänen um die Ecke kommt: Am Ende, zeigt sich BDI-Vize Schulte überzeugt, führe an echten Strukturreformen kein Weg dran vorbei. Auch weil es dem System immer mehr an Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal fehle. Daher müsse es jetzt gelingen, „die Knappheit möglichst gut zu managen“.