Diagnostik und Therapie

Weniger ist manchmal mehr

Den Patienten vor zu viel und falscher Medizin zu schützen, ist Ziel der sogenannten Quartärprävention. Für den Gesundheitsweisen Professor Ferdinand Gerlach ist das dringend notwendig.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:
Professor Ferdinand Gerlach

Professor Ferdinand Gerlach

© Stephanie Pilick

FRANKFURT. "Wer noch gesund ist, wurde nur noch nicht genügend untersucht." Es ist eine flapsige Redewendung, die im Hörsaal für Schmunzeln sorgt - doch es ist womöglich auch ein Funken Wahrheit über das deutsche Gesundheitssystem.

Denn wer außer einem Patientengespräch nichts abrechnen kann, kommt schnell in Versuchung, weitere Untersuchungen anzuordnen oder Arzneien zu verschreiben - auch wenn er sich der Diagnose möglicherweise nicht sicher ist.

Es ist ein drastisches Bild, das Professor Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats und Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt, in der Ringvorlesung "Was hilft heilen?" zeichnet.

Es ist das Bild eines Systems, in dem Morbidität und Machen belohnt werden und in dem Ärzte deswegen jedes Quartal erneut in das "Hamsterrad" steigen.

Ein System, das sagt Gerlach deutlich, in dem Über-, Unter und Fehlversorgung nebeneinander existieren.

20 Arzt-Patienten-Kontakte

Gemeinsam mit Professor Tobias Esch von der Uni Witten/Herdecke und Dr. Eckart von Hirschhausen hat er das Konzept von "Was hilft heilen?" entwickelt.

Fünf ausgewählte Vorlesungen sollen den Studenten außergewöhnliche Perspektiven und einen kritischen Blick auf das Gesundheitssystem ermöglichen. Themen sind Glück, Wohlbefinden, aber auch - wie an diesem Abend - der Umgang zwischen Arzt und Patient.

Gerlach spricht über die Quartärprävention, den Schutz des Patienten vor einem "zu viel" an Medizin. Dass das nötig ist, zeigen Gerlachs Zahlen. Etwa 20 Arzt-Patienten-Kontakte finden im Schnitt pro Jahr statt - mehr als in jedem anderen Land.

An einem beliebigen Montag sitzen acht Prozent aller Deutschen im Wartezimmer einer Arztpraxis. Dabei sind nicht ausreichend Grundversorger vorhanden: 89 Prozent aller Facharztanerkennungen fallen aktuell auf die Spezialisten. "Dabei ist kein Land bekannt, in dem das finanzierbar wäre", sagt Gerlach.

Fakt ist für ihn: Es gibt keinen Ärztemangel, sondern eine Fehlverteilung. Deutlich wird diese auch bei einem Blick auf verschiedene Operationsraten - und deren Abhängigkeit vom Wohnort.

So variieren Raten bei Tonsillektomie, Appendektomie und Wirbelsäuleneingriffen oft um ein Vielfaches, je nach Versorgungsstruktur des Wohnortes.

Tendenz zur "Defensivmedizin"

Gerlach attestiert dem Gesundheitssystem eine "organisierte Verantwortungslosigkeit". Arztleistungen werden unkoordiniert in Anspruch genommen - nicht nur zu beobachten in überfüllten Notfallambulanzen -, und vor allem multimorbiden Patienten fehlt eine koordinierte Versorgung.Oft werde außerdem veraltetes Wissen unreflektiert an den medizinischen Nachwuchs weitergegeben.

Aus Angst vor juristischen Konsequenzen beobachtet Gerlach vielerorts eine "Defensivmedizin", und aus Zeitmangel hetzen alle Akteure durchs Gesundheitssystem.

Um dieses Nebeneinander von Unter-, Über- und Fehlversorgung anzugehen, sei es wichtig, die Ursachen zu verstehen: Da sind laut Gerlach zum einen Fehlanreize in Form von Fallpauschalen oder fallzahlabhängigen Boni in Chefarztverträgen.

"Der Qualitätswettbewerb fristet im Vergleich zum Preiswettbewerb ein Schattendasein", kritisiert er. Eine weitere Ursache seien regionale und fachgruppenspezifische Fehlverteilungen von Ärzten sowie strengen Sektorengrenzen.

An vielen Stellschrauben kann der Arzt alleine nicht drehen, der Gesetzgeber ist hier gefragt. Doch angesichts der Fälle von Überversorgung appelliert Gerlach an seine Kollegen, jeder Einzelne solle regelmäßig die eigene Diagnostik und Therapie überdenken.

"Jeder Euro, der nicht bedarfsgerecht eingesetzt wird, fehlt an anderer Stelle", gibt er zu bedenken. "Ein effektiver ökonomischer Ressourceneinsatz gehört daher zu den ärztlichen Pflichten."

Und dazu zählt im Sinne der Quartärprävention eben auch, einen Patienten allein mit guten Worten zu entlassen, wenn keine Diagnose vorliegt.

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