Organspende-Debatte

Spahn: „Über Jahre war ich selbst für die Zustimmungslösung“

Die Abgeordneten des Bundestags haben über die künftige Organspende-Regelung ausführlich diskutiert – und am Ende die von Gesundheitsminister Spahn angestrebte Widerspruchslösung abgelehnt. Wir zeichnen die Debatte nach.

Anno FrickeVon Anno Fricke und Thomas HommelThomas Hommel Veröffentlicht: | aktualisiert:
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn räumte in seiner Rede ein: „Es gibt nicht die eine Lösung.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn räumte in seiner Rede ein: „Es gibt nicht die eine Lösung.“

© Kay Nietfeld/dpa

Berlin. Die Bundesbürger sollen künftig stärker zu einer konkreten Entscheidung über Organspenden bewegt werden. Der Bundestag beschloss am Donnerstag einen fraktionsübergreifenden Entwurf einer Abgeordnetengruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock, der dafür etwa regelmäßige Hinweise auf das Thema beim Ausweisabholen vorsieht.

Monatelang war zuvor über eine Neuausrichtung der aktuellen Zustimmungslösung bei der Organspende debattiert worden. Auch die Debatte am Donnerstag im Reichstag wurde hochemotional geführt. 24 Abgeordnete aus allen Fraktionen bekamen je fünf Minuten Redezeit.

Lauterbach warb für Widerspruchslösung

Zum Auftakt warb Professor Karl Lauterbach (SPD) für die Widerspruchslösung. In Deutschland stürben jedes Jahr mehr als 1000 Menschen auf Wartelisten für Organe. Bis zu 10.000 Bundesbürger warteten auf ein Spenderorgan.

„Es gibt Bereitschaft zu spenden und Organe zu nehmen, aber beides kommt nicht zusammen“, sagte Lauterbach. 31 europäische Länder hätten die Widerspruchslösung eingeführt und inzwischen höhere Organspenderraten als Deutschland erzielt.

Das Problem sei nicht die Organisation der Organspende, so Lauterbach, der selbst Arzt ist. „Die ist gut in Deutschland.“ Es fehle eine „einfache“ Regelung zur Organspende. Die Widerspruchslösung stelle dies sicher. Alle ärztlichen Verbände setzten sich für diese Regelung ein, weil sie alle wüssten, „dass es anders nicht gehen wird“.

„Spende muss Spende bleiben“

Hilde Mattheis, ebenfalls SPD, betonte dagegen: „Eine Spende muss eine Spende bleiben. Ein aktiver und selbstbestimmter Akt von Menschen, die etwas für andere geben.“ Die Befürworter der Entscheidungslösung wollten „nicht auf die Trägheit der Menschen setzen“, sich nicht mit dem Thema Organspende zu beschäftigen. Das schädige nur das Vertrauen in die Organspende.“

Die „doppelte Widerspruchslösung“ sei gar keine doppelte, denn die Angehörigen würden zu Zeugen „degradiert“. „Es geht darum, die Strukturen zu verbessern und darum, den Menschen ihre Selbstbestimmung nicht zu nehmen.“

Welchen Entwurf zur Organspende favorisieren Sie?

61 %
Entwurf 1: Ohne Widerspruch ist jeder Organspender.
6 %
Entwurf 2: Organspende-Beratung im Bürgeramt.
16 %
Entwurf 3: Mehr Vertrauen in die Organspende schaffen.
17 %
Keinen. Es soll bleiben wie bisher.

Detlev Spangenberg von der AfD kritisierte, die Widerspruchslösung gefährde das Ziel, eine höhere Spenderrate zu erreichen. Viele Bürger, die einen Organspenderausweis besäßen, hätten signalisiert, sie wollten den Ausweis wieder abgeben, wenn die Widerspruchslösung komme. „Vertrauen, immer wieder Vertrauen“ sei die bessere Lösung. „Wir haben kein Recht, über Ängstliche und Zaudernde die moralische Keule zu schwingen“, so Spangenberg.

Herzchirurgin Professor Claudia Schmidtke (CDU) widersprach: Die Widerspruchslösung tauge dazu, mit einer tatsächlichen Veränderung Menschen, die auf ein Organ warten, Hoffnung zu machen. „Die Patienten hoffen inständig.“ Die Widerspruchslösung respektiere das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Bürgers – „so, wie das alle Anträge tun“.

Beratung im Bürgeramt?

Die Grünen-Abgeordnete Annalena Baerbock sagte: „Wir sind hier, um Leben zu retten. Das eint beide Gruppenanträge.“ Die Widerspruchslösung verkenne, dass man nicht einfach Regelungen aus anderen Ländern auf „Deutschland zu kopieren könne. In anderen Ländern (in Spanien z. B., Anmerk. d. Red.) gelte zudem der Herztod als Voraussetzung für die Organentnahme, in Deutschland der Hirntod.

„Deshalb können Sie die Zahlen nicht vergleichen“, warnte Baerbock. Die Parteivorsitzende der Grünen verteidigte den Antrag zur Entscheidungslösung: „Wir verteilen nicht einfach nur mehr Info-Broschüren.“

84 Prozent der Menschen ohne Ausweis solle erleichtert werden, sich als Spender registrieren zu lassen, zum Beispiel auf dem Bürgeramt, beim Hausarzt oder an vielen anderen Orten. Baerbock: „Das ist Dreh- und Angelpunkt unseres Antrags.“ Zudem müssten die Strukturen in den Kliniken verbessert werden. Nur 8,2 Prozent aller Hirntoten würden in Deutschland als Spender in den Häusern identifiziert und transplantiert. „Da müssen wir ran.“

Der FDP-Politiker Dr. Herrmann Otto Solms hielt dagegen: „Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Sachbearbeiter auf dem Bürgeramt über ein so persönliches Thema wie die Organspende zu sprechen. Das ist lebensfremd. So ein Gespräch führt man mit seinem Ehepartner, mit nahen Freunden oder einem Arzt.“

Spanisches Modell: der falsche Zeuge

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) erklärte, das immer als Positivbeispiel angeführte Spanien wende die Widerspruchslösung überhaupt nicht an. „Das wissen wir doch alle.“ Spanien als Zeuge für die Widerspruchslösung aufzurufen, sei daher falsch.

Die Widerspruchsregelung ist keine Lösung, bekräftigte die Grünen-Politikerin Dr. Kirsten Kappert-Gonther.

In Spanien, dem Organspende-Weltmeister, habe die Widerspruchsregelung formal seit 1979 gegolten. Erst mit der Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern sie die Zahl der Spenderorgane gestiegen. Kappert-Gonther verwies darauf, dass selbst für das Versenden von Newslettern das Einverständnis der Menschen eingeholt werden müsse.

„Bei etwas so Essenziellem wie der Organspende soll Schweigen als Zustimmung gelten?“, wandte sich Kappert-Gonther an Gesundheitsminister Jens Spahn.

Stimmen aus der Debatte

Wir zeichnen die Debatte nach und geben Auszüge aus den Reden von Bundestagsabgeordneten wieder: (Mitarbeit: ths)

„Wir reden über den letzten Akt der Nächstenliebe und der letzten Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen“, sagte der FDP-Politiker Otto Fricke. Es sei Aufgabe einer solchen Debatte, diese ethische Sichtweise in die Bevölkerung zu tragen.

Er billige allen, die die Widerspruchslösung unterstützen, die besten Absichten zu. Er stimme aber für die Zustimmungslösung, weil Schweigen keine Auseinandersetzung mit dem Thema sei. Es müsse das Recht geben zu schweigen, ohne dass der Staat in die Rechte der Menschen eingreifen, die in der Frage der Organspende nicht endgültig entschlossen seien.

Fricke berief sich auf die von der Verfassung garantierten Abwehrrechte gegenüber Eingriffen des Staates. Die sollten auch an dieser Stelle nicht ausgehebelt werden. Die Entscheidung für die Spende müsse daher aus den Menschen selbst kommen und nicht aus einem Gesetz.

Mehr als 80 Prozent würden Organe spenden, aber nur ein Drittel bekenne sich mit einem Organspendeausweis dazu. Man müsse daher den Schritt wagen, jedem die Entscheidung zuzumuten, sich mit der Spende auseinanderzusetzen, warb der Grünen-Politiker Dieter Janecek für die Widerspruchslösung.

„Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in allen Ländern mit Widerspruchslösung mehr Organe gespendet würden. Einen Zusammenhang zwischen der Zahl der gespendeten Organe und der Widerspruchslösung zu verneinen, dazu gehöre Chuzpe.“

Die Widerspruchsregelung ist keine Lösung, sagte die Grünen-Politikerin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. In Spanien, dem Organspende-Weltmeister, habe die Widerspruchsregelung formal seit 1979 gegolten. Erst mit der Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern sie die Zahl der Spenderorgane gestiegen.

Kappert-Gonther verwies darauf, dass selbst für das Versenden von Newslettern das Einverständnis der Menschen eingeholt werden müsse. „Bei etwas so Essentiellem wie der Organspende soll Schweigen als Zustimmung gelten?“, wandte sich Kappert-Gonther an Gesundheitsminister Jens Spahn.

Ein Hirntoter sei ein Sterbender, aber keine Leiche, sagte der AfD-Politiker Paul Viktor Podolay. Die Organspende sei somit eine Entscheidung über den eigenen Tod. Die Widerspruchslösung sei ein „ethischer Abgrund“, weil sich der Staat anmaße über die Körper seiner Bürger zu entscheiden.

Selbst die ehemals konservative CDU präsentiere diesen „Sozialismusgedanken“, sagte Podolay. Es drohe eine Kommerzialisierung des Körpers.

Die Ansprache der Angehörigen durch die Ärzte, ob ein Sterbender einer Organspende widersprochen habe, falle leichter, wenn die Organspende der gesetzliche Regelfall sei, sagte Dr. Matthias Bartke (SPD). Er verteidigte damit die Widerspruchslösung.

Heike Hänsel (Linke) warnte, in dieser Frage auf moralische Überlegenheit zu pochen. Wiewohl sie einen Organspenderausweis bei sich trage, halte sie die Widerspruchslösung als „rechtswirksame Verpflichtung“ für nicht angemessen.

Man laufe Gefahr, sich nicht mit den Defiziten im Gesundheitssystem und dem Personalmangel auseinanderzusetzen, die mit ursächlich für den Rückgang der Organentnahmen in den Krankenhäusern seien. Würden die Verfahren in den Krankenhäusern ordnungsgemäß ablaufen, könnte die Zahl der Organspender doppelt so hoch sein wie derzeit.

Sie warb für die Aussprache zwischen Hausärzten und Patienten über die Organspende, wie sie der Antrag zur Entscheidungslösung vorsieht.

Eine Entscheidung für oder gegen Organspende habe eine riesige Tragweite“, sagte Katja Suding (FDP). Sie sei überzeugt, dass die Zustimmungslösung an der jetzigen Praxis nichts ändern. Werbung für die Spende und für die Ansprache der Menschen verpuffe seit Jahren wirkungslos.

„Wir müssen jetzt einen mutigen Schrittgehen. Aus meiner Sicht ist das die Widerspruchslösung.“ Es gebe nämlich auch die Verantwortung der Politik, nicht nur über die Spender, sondern auch über die Empfänger nachzudenken.

Mit der Diskussion ist gelungen, dass das Thema Organspende in der Gesellschaft wieder diskutiert werde. Gleichgültig, welcher Antrag zum Zuge komme, „unser Ziel ist, dass es mehr Spender gibt, damit mehr Menschen überleben können“, sagte die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Wenn mit der Widerspruchslösung die Organspende zur Norm werde, berge der Widerspruch an sich die Gefahr, als von der Norm abweichend angesehen zu werden. Das werde den Menschen nicht gerecht. Kern des Problems seien die Strukturen in den Krankenhäusern.

Schmidt verwies darauf, dass die Widerspruchslösung in den Ländern, die als positive Beispiele herangezogen würden, wie Österreich oder Spanien, de facto nicht exekutiert werde.

Die Wahrscheinlichkeit, ohne Widerspruch Organspender zu werden, sei sehr gering, rechnete Matthias Birkwald (Linke) vor. 954.000 Menschen seien 2019 gestorben. Lediglich in einem Bruchteil, nämlich 1400 Fällen, sei der Hirntod diagnostiziert worden.

Geschätzt zwischen 300 und 800 Menschen mehr hätten mit der Widerspruchslösung als Organspender identifiziert werden können.

Bei ethischen Entscheidungen müssten sich die ethischen Grundprinzipien als Leitplanken bewähren, sagte der ehemalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Es gehe nicht darum zu sagen: Entscheidet Euch.

Es gehe darum, dass der Staat das Selbstbestimmungsrecht unter eine Bedingung stellt. Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit besitze der Mensch bedingungslos. Deshalb sei die Widerspruchslösung ein nicht taugliches Mittel.

„In keinem Versorgungsbereich ist die Versorgungslage schlechter als bei der Organspende“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Nirgendwo anders würde man eine so defizitäre Versorgung akzeptieren.

Die Widerspruchslösung sei kein Allheilmittel, die Strukturverbesserungen in Krankenhäusern dito, auch nicht die in beiden Gesetzentwürfen geplanten Organspender-Register. Es gibt nicht die eine Lösung, sagte Spahn.

Kern der Abstimmung sei: Ist der Widerspruch zumutbar? Es sei viel von Selbstbestimmung die Rede gewesen im Verlauf der Debatte. Er werbe aber dafür, bitte auch den Blick auf die Betroffenen zu richten, zum Beispiel Kinder, die manchmal über Jahre von Maschinen abhängig seien. Auch für sie gelte das Recht auf Selbstbestimmung.

„Über Jahre war ich selbst für die Zustimmungslösung“, sagte Spahn. Die Wahrheit sei aber, dass der andere Gesetzentwurf an der jetzigen Lage nichts ändere. Deswegen werde er bei einer Ablehnung seines eigenen Vorschlages auch nicht für den anderen stimmen.

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