Genom-Entschlüsselung
Auch Wissen allein kann krank machen
Jede Information, die ein Patient erhält, hat Einfluss auf den Verlauf seiner Erkrankung. Dieser Ethik der Diagnosestellung müssen sich Ärzte bewusst sein, meinen Experten. Gefragt ist Fingerspitzengefühl - und eine Einschätzung, wann der Patient ein Recht auf Nicht-Wissen hat.
Veröffentlicht:BERLIN. Magenkrebs! Als der Patient die Diagnose erfährt, sackt er in sich zusammen. Seine Vitalität, sein Schaffensdrang - auf seine Ärzte wirkt er, als habe er jäh mit allem abgeschlossen. Was tun? Ihr Patient ist ein berühmter Dichter, der womöglich noch Großes leisten könnte.
Kurzerhand kehren die Ärzte zu ihm zurück und behaupten, sie hätten sich geirrt. Worauf Theodor Storm wieder aufblüht und in der Folge seine berühmteste Novelle vollendet: "Der Schimmelreiter" erscheint im April 1888 - drei Monate vor seinem Tod.
Mit dieser Anekdote eröffnete Professor Fritz von Weizsäcker, Chefarzt für Innere Medizin der Schlosspark-Klinik in Berlin, seinen Vortrag über die Auswirkungen der personalisierten Medizin, den er in der Vorlesungsreihe "Du, Deine Gene, Deine Therapie" im Frankfurter Universitätsklinikum hielt.
Weizsäckers These: Jede Information, die ein Patient erhält, hat Einfluss auf den Verlauf seiner Erkrankung. Das gelte nicht nur wie im Fall von Theodor Storm für eine Diagnose und die damit verbundene Erwartung eines Therapieverlaufs, sondern auch für jene Prognosen, die wir mit der Entschlüsselung des Genoms erhielten.
Seine These versuchte der Berliner Arzt anhand mehrerer Praxisbeispiele über Placebo- und Nocebo-Phänomene zu belegen.
Je überzeugter der Patient, desto effektiver die Arznei
In einer Studie etwa habe man das Schmerzempfinden von Osteoporose-Patienten untersucht. Nach einer Fraktur sollten die Probanden Knochenzement injiziert bekommen. Tatsächlich jedoch erhielt nur die Hälfte von ihnen eine wirksame Injektion.
Je stärker die Patienten von der knochenfestigenden Wirkung des Zements überzeugt waren, desto weniger Schmerzen empfanden sie - ganz gleich, ob sie das Mittel wirklich erhalten hatten oder nicht.
Dass Glauben auch krank machen kann, erläuterte Weizsäcker anhand eines krassen Nocebo-Effekts: Ein junger Mann geriet beim Kochen mit seiner Hand versehentlich auf die Herdplatte, wobei er Verbrennungen dritten Grades erlitt.
Tatsächlich jedoch war der Herd gar nicht eingeschaltet - allein seine Einbildung verursachte die körperliche Reaktion.
Die Kenntnis vom Einfluss einer Information auf den Verlauf der Krankheit führt notwendigerweise zur Frage nach dem Recht auf Nicht-Wissen. Die Bestimmung des eigenen Genoms, so Weizsäcker, koste heute kaum mehr als 1000 Euro. Damit erhalte man Wahrscheinlichkeiten, mit denen umzugehen eine der großen Herausforderungen unserer Zeit sei.
Mediale Aufmerksamkeit erregte 2013 die US-Schauspielerin Angelina Jolie, die sich einer prophylaktischen Mastektomie unterzog, da sie aufgrund einer genetischen Disposition eigenen Angaben nach ein 87-prozentiges Brustkrebsrisiko besitze.
Bei Chorea Huntington könne man den Ausbruch der Erkrankung sogar "mit erschreckender Präzision vorhersagen", so Weizsäcker.
Umgekehrt gebe es viele Beispiele dafür, dass Patienten Symptome ohne objektive Befunde entwickelten und objektive Befunde nicht zwangsläufig Symptome nach sich zögen. Weizsäckers Fazit: "Wo eine gezielte Beeinflussung aktuell nicht möglich ist, kann die Kenntnis einer Krankheitswahrscheinlichkeit einen erheblich negativen Einfluss auf die Lebensqualität haben."
Kontext-Sensitivität des Arztes ist gefragt
Der Siegener Philosoph Professor Carl Friedrich Gethmann, Mitglied im Deutschen Ethikrat, wies darauf hin, dass nicht erst die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zur humangenetischen Diagnostik führe, sondern dass jene im Rahmen der Familienanamnese längst gängige Praxis sei.
Das Recht auf Nicht-Wissen werde hier jedoch viel seltener problematisiert. Gethmann schilderte den Fall eines Mannes, der sich aufgrund einer Erkrankung seines Vaters genetisch disponiert wähnte. Bei einer Untersuchung fand der Arzt dann heraus, dass beide im biologischen Sinn gar nicht verwandt waren. Er teilte ihnen das Ergebnis mit, doch Sohn und Vater hätten es lieber nicht gewusst.
In der Arzt-Patienten-Kommunikation plädiert der Philosoph für einen genetischen Probabilismus, der sich bei unerreichbarer Gewissheit im Denken und Handeln auf Wahrscheinlichkeiten stützt.
Mit diesen Wahrscheinlichkeiten müssten beide, Arzt und Patient, umzugehen lernen: Eine akute Erkrankung erfordere rasches Handeln, eine prognostische Wahrscheinlichkeit hingegen Kontext-Sensitivität. "Einem 25-jährigen Patienten muss der Arzt nicht mitteilen, dass er mit 55 eine unheilbare Krankheit entwickeln wird."