BSG-Urteil

Bedarf ist konkret zu ermitteln

Das Bundessozialgericht fordert die KVen auf, psychotherapeutischen Sonderbedarf durch konkrete Abfrage nach Therapieformen zu ermitteln.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:

KASSEL. Die KVen müssen sich einen Überblick über das tatsächliche Angebot in der Psychotherapie verschaffen. Das ergibt sich aus einem aktuellen Urteil des Bundessozialgerichts. Danach forderte der Vertragsarztsenat in seiner jüngsten Sitzung die KV Berlin auf, das tatsächliche Angebot für Verhaltenstherapie in Friedrichshain-Kreuzberg zu ermitteln. Auch die Kassen sollen Auskunft über den Erstattungs-Umfang geben.

Der Fall: Der Kläger, ein Psychotherapeut, bietet Verhaltenstherapie an und hat sich auf sexualtherapeutische Behandlungen und psychische Störungen infolge onkologischer Erkrankungen spezialisiert. Seinen Antrag auf Sonderbedarfszulassung begründete er damit, dass der Bedarf in diesen Feldern nicht gedeckt sei. Die Zulassungsgremien lehnten die Sonderbedarfszulassung ab. Berlin sei zu fast 200 Prozent, Friedrichshain-Kreuzberg zu immerhin 158 Prozent mit Psychotherapeuten überversorgt.

Eine nähere Begründung bezogen auf die Verhaltenstherapie bekam der Therapeut nicht. Denn: Die KV Berlin ist dazu übergegangen, Anträge auf Sonderbedarfszulassung bei einer Überversorgung von mehr als 140 Prozent nicht mehr näher zu prüfen.

Das BSG ließ eine derart pauschale Verneinung des Sonderbedarfs aber nicht zu. Die angebliche Überversorgung sage nichts über das tatsächliche verhaltenstherapeutische Angebot aus. Nach bisheriger BSG-Rechtsprechung kann auch bei Fachärzten eine Schwerpunktbezeichnung zu einer Sonderbedarfszulassung führen. Die Unterspezialisierung auf sexuelle Störungen und psychische Krebs-Folgen spielte für die Kasseler Richter dagegen keine Rolle.

Letztlich kam es dem BSG aber nicht nur auf die Aufteilung zwischen Verhaltenstherapie und Analytik an. Sie stellten auch infrage, dass ein Therapeut tatsächlich 36 Stunden pro Woche anbietet. Tatsächlich könnten es für Kassenpatienten auch nur 30 oder nur 20 Stunden sein – entweder, weil die Therapeuten gar nicht voll arbeiten, oder weil sie einen hohen Anteil Privatpatienten haben. Dies soll nun die KV Berlin – und in der Konsequenz wohl alle KVen mit deutlich überversorgten Gebieten – durch eine Erhebung der Wartezeiten ermitteln.

Zudem sollen auch die Kassen Auskunft geben, inwieweit sie Psychotherapie im Wege der Kostenerstattung genehmigen. Geschieht dies in erheblichem Umfang, wäre das faktisch ein Eingeständnis, dass der Bedarf nicht gedeckt ist, so das BSG.Und es wäre dann widersprüchlich, wenn die Kassen in den Zulassungsgremien dann dennoch an ablehnenden Entscheidungen mitwirken.

Bundessozialgericht Az.: B 6 KA 28/16 R

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Kommentare
Holger Barth 14.07.201717:21 Uhr

BSG ZUM SONDERBEDARF PSYCHOTHERAPIE - FOLGEN NICHT ZU UNTERSCHÄTZEN!

Die Folgen der BSG-Entscheidung sind nicht zu unterschätzen. Sie werden je nach angebotenem Richtlinien-Verfahren eine beträchtliche Ausweitung von ggf. auch aussichtsreichen Anträgen auf Sonderbedarfszulassung Psychotherapie gerade in numerisch (real jedoch nur vermeintlich) überversorgten Planungsbereichen mit sich bringen. Niedergelassene Psychotherapeuten dürften (an 43 Wochen jährlich) durchschnittlich nur mit etwa 25 (statt 36) Therapiestunden wöchentlich ausgelastet sein, weshalb allein das anhand der Abrechnungsdaten feststellbare geringere Angebot in der betroffenen Richtlinien-Therapie am Maßstab der vom BSG (ursprünglich übrigens zur Vergütungsrechtsprechung) entwickelten Richtschnur der Vollauslastung der psychotherapeutischen Praxis einen spezifischen Sonderbedarf begründen kann. Die Angaben bereits zugelassener Psychotherapeuten im Rahmen einer Bedarfsanfrage zu bei Ihnen angeblich fehlenden Wartezeiten werden höchst kritisch zu überprüfen sein. Ein steigender Konkurrenzdruck durch Sonderbedarfszulassungen dürfte die vom BSG offensichtlich in Kauf genommene Folge sein. Als Kehrseite der gebotenen Neuzulassungen im Wege Sonderbedarfs könnten voll zugelassene Psychotherapeuten, die erheblich hinter einer Auslastung von 20 Therapiestunden wöchentlich zurückbleiben, wegen des Mindesterfordernisses von 20 „Sprechstunden“ im Sinne von § 17 Abs. 1a Bundesmantelvertrag-Ärzte für die Erfüllung eines vollen Versorgungsauftrags vermehrt mit Verfahren wegen Entziehung ihres ggf. nicht ausgeschöpften hälftigen Versorgungsauftrags konfrontiert sein. Wenn schließlich die Krankenkassen die Zahlen zur eigentlich nur für den Fall des Systemversagens ausnahmsweise vorgesehenen, jedoch häufig praeter legem praktizierten „Erstattungs-Psychotherapie“ offenlegen müssen, die sodann wiederum einen Sonderbedarf innerhalb des vertragspsychotherapeutischen Systems indizieren, dürfte die strikte Einschränkung dieser problematischen Praxis seitens der Krankenkassen zur Vermeidung (gefühlt) doppelter Kosten die Folge sein. Dies wiederum würde den Druck auf das vertragspsychotherapeutische System durch vermehrte Anträge der um ihre Existenz bangenden „Erstattungs-Psychotherapeuten“ auf Sonderbedarfszulassung beträchtlich erhöhen. Auch dies scheint dem BSG angesichts seiner erheblich ausgeweiteten Vorgaben für die Sonderbedarfsermittlungen nicht ungelegen zu kommen.
Natürlich bleiben die schriftlichen Urteilsgründe ebenso abzuwarten wie die Umsetzung dieser Vorgaben in die Praxis seitens der Zulassungsgremien, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen, deren uneinheitlichen Interessen einem stringenten Rechtsgehorsam gegenüber den Erwartungen der BSG-Rechtsprechung nicht selten entgegenstehen. Weitere sozialgerichtliche Auseinandersetzungen hierzu sind abzusehen. Der eigentliche Skandal und damit auch das dringlich zu lösende Problem scheinen im Übrigen darin zu bestehen, dass die numerischen Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Bedarfsplanung Psychotherapie angesichts des tatsächlich vorhandenen Versorgungsbedarfs gänzlich unzureichend sind.

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