Bundesverfassungsgericht

Urteil: Zwangsbehandlung muss in Einzelfällen auch außerhalb von der Klinik möglich sein

Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen – gegen den Willen der Betroffenen. Das geht bisher ausschließlich im Krankenhaus. Das muss sich ändern, sagt das Bundesverfassungsgericht.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht: | aktualisiert:
Bundesverfassungsrichter stehen nebeneinander

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht verkündet das Urteil zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Laut dem Urteil ist ein Krankenhausvorbehalt bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen teilweise verfassungswidrig.

© Uli Deck/dpa

Karlsruhe. Die Beschränkung medizinischer Zwangsmaßnahmen auf stationäre Klinikaufenthalte ist im Grundsatz gerechtfertigt und rechtmäßig. In Einzelfällen muss es davon aber Ausnahmen geben, wie das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag in Karlsruhe verkündeten Urteil entschied.

Hintergrund ist das Ziel, unter Betreuung stehende Menschen vor Zwangsbehandlungen zu schützen, die nicht medizinisch indiziert sind, sondern beispielsweise nur der Ruhigstellung in Einrichtungen oder auch im privaten häuslichen Umfeld dienen. Gleichzeitig sollen sie aber natürlich die Behandlungen bekommen, die sie medizinisch benötigen, auch wenn sie sich wegen fehlender Einsichtsfähigkeit dagegen wehren.

In diesem Spannungsfeld zwischen Grundrechtseingriff und verfassungsrechtlich gebotenem Schutz ist das Bundesverfassungsgericht nun quasi bei der Feinjustierung angekommen.

Zwangsbehandlung ausnahmslos auf die Klinik zu beschränken sei unverhältnismäßig

In Reaktion auf ein früheres Karlsruher Urteil aus 2016 hatte der Gesetzgeber Zwangsbehandlungen auf stationäre Klinikaufenthalte beschränkt. Dagegen klagte eine psychisch schwer erkrankte Frau, die beziehungsweise deren Betreuer meint, die Behandlung könne besser in ihrem Wohnverbund durchgeführt werden. Der Bundesgerichtshof legte den Streit dem Bundesverfassungsgericht vor.

Dies würdigte nun ausführlich das Dilemma und die richtigen Ziele des Gesetzgebers. „Mit der beanstandeten gesetzlichen Regelung verfolgt der Gesetzgeber verfassungsrechtlich legitime Zwecke, zu deren Erreichung die Regelung im verfassungsrechtlichen Sinne auch geeignet und erforderlich ist“, heißt es in dem Urteil. Mit der Prüfung der Behandlung „durch multiprofessionelle Teams“ im Krankenhaus könne die Regelung den Schutz vor nicht indizierten Zwangshandlungen sicherstellen und gleichzeitig „eine angemessene fachliche Versorgung der Betroffenen sicherstellen“.

Dies ausnahmslos zu verlangen sei aber unverhältnismäßig, heißt es weiter in dem Karlsruher Urteil. „Das Gewicht des mit der beanstandeten Regelung verbundenen Eingriffs in das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Integrität ist hoch, in Einzelfällen sogar sehr hoch.“ Dies dürfe nicht außer Verhältnis zum Schutzzweck der Regelung geraten.

Richter setzen Frist für Neuregelung bis Ende 2026

Daher forderten die Karlsruher Verfassungsrichter nun Ausnahmen, wenn den Betroffenen durch die Verlegung in ein Krankenhaus gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen. Dies könne etwa bei Demenzkranken der Fall sein, die mit einem Ortswechsel schwer zurechtkommen oder bei Menschen, die einen besonderen Schutz vor Krankenhauskeimen benötigen. Auch könne sich bei wiederholten Zwangsbehandlungen zeigen, dass den Betroffenen die Verlegung in die Klinik nicht guttut.

„Der Verfassungsverstoß betrifft folglich nicht den gesamten Anwendungsbereich der vorgelegten Norm, sondern lediglich einzelne von ihr erfasste Anwendungsfälle“, betonte bei der Urteilsverkündung der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth. Dem Gesetzgeber gaben die Karlsruher Richter bis Ende 2026 Zeit, eine Neuregelung zu schaffen. Bis dahin gilt die bisherige Regelung fort.

Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Az.: 1 BvL 1/24

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