Leitartikel zum Welt-Polio-Tag

Ohne Pauken und Trompeten zur Polio-Ausrottung

Seit 1988 ist die Zahl der Poliofälle weltweit um 99 Prozent gesunken - die Krankheit ganz auszurotten, gelingt aber noch nicht. Jetzt fordern Forscher ein Umdenken: Der Kampf gegen die Kinderlähmung sollte besser leise verlaufen.

Dr. Robert BublakVon Dr. Robert Bublak Veröffentlicht:
Polio-Impfung für ein Mädchen aus Jemen.

Polio-Impfung für ein Mädchen aus Jemen.

© Yahya Arhab / epa / dpa

"Autoritätsdusel ist der größte Feind der Wahrheit", hat Albert Einstein geschrieben. Wahr ist zum Beispiel, dass sich die Poliomyelitis, ähnlich wie die Pocken, mithilfe der Impfung ausrotten ließe.

Doch nicht alle Autoritäten dieser Welt wollen sich dieser Wahrheit beugen, selbst wenn sie es besser wissen sollten. Und weil sie Autoritäten sind, folgen ihnen darin viele, die es nicht besser wissen können.

Beobachten lässt sich das zum Beispiel in Nigeria. Dort haben muslimische Gelehrte, darunter Mediziner und Pharmazeuten, Berichten zufolge die Ansicht vertreten, das Impfprogramm gegen Polio sei ein Versuch des Westens, nicht das Poliovirus, sondern die Bevölkerung muslimischer Länder auszurotten.

Die Vakzine enthalte humanes Choriongonadotropin und beeinträchtige die Fruchtbarkeit, so einer der Vorwürfe.

Der auf diese Weise angefachte Widerstand gipfelte in tödlichen Terroranschlägen auf Impfhelfer. Im Februar dieses Jahres wurden in der nordnigerianischen Stadt Kano neun Frauen erschossen, die Kinder gegen Polio geimpft hatten.

Viele andere Probleme erscheinen drückender

Es sind aber nicht nur Ignoranz und Theorien über eine westliche Verschwörung, aus der sich die Aversion gegen das Polioprogramm speist.

Oft können die Menschen nicht verstehen, warum die Regierungen sich auf Polio konzentrieren, wo so viele andere Probleme drückender erscheinen und mehr Kinder das Leben kosten als die Poliomyelitis: Malaria, Pneumonie und Diarrhö etwa. Das macht das Programm verdächtig und führt zur Impfverweigerung.

Einige Forscher plädieren nun für einen Kurswechsel. Seye Abimbola aus Nigeria, Asmat Malik aus Pakistan und Ghulam Mansoor aus Afghanistan fordern in der Oktoberausgabe des Fachmagazins "PLoS Medicine", die Aufmerksamkeit für die Polioeradikation nicht zu erhöhen, sondern im Gegenteil zu senken (Abimbola S et al. PLoS Med 2013; 10: e1001529).

Die drei Länder, die sie vertreten, sind die letzten weltweit, in denen die Poliomyelitis endemisch ist. Die Ziele der GPEI (Global Polio Eradication Initiative) seien zwar zu teilen, schreiben die drei Wissenschaftler. Doch die jeweilige Strategie und Taktik müsse sich den Gegebenheiten anpassen.

Gesundheitssysteme stärken: Bessere Alternative?

"Die Fehlinformationen und Mythen, mit denen die Immunisierung umgeben ist, sind weder spezifisch für die Poliovakzine noch für die Länder Nigeria, Pakistan und Afghanistan", betonen Abimbola und seine Kollegen.

Folgt man ihren Argumenten, handelt es sich beim derzeitigen Vorgehen der GPEI in gewissem Sinne ebenfalls um eine Form der Autoritätsbesoffenheit - unter der Fahne der WHO unterwegs zum hehren Ziel.

"Mit der Immunisierung fortfahren, aber ohne all die Fanfarenstöße", lautet deshalb die Losung der drei Gesundheitsforscher.

Sie halten es für falsch, Polio als derart prominentes Problem zu präsentieren. Besser sei es, die Gesundheitssysteme und deren Routinemaßnahmen zu stärken, in welche die Polioimpfung zu integrieren wäre.

Zum Verzicht auf die Fanfare gehört, besser keine neuen Terminvorgaben für das Erreichen der Eradikation zu machen oder sie wenigstens nicht auffällig zu propagieren.

Das ließe auch den Westbezug in den Hintergrund treten, meinen Abimbola und seine Mitstreiter. Ein solches Vorgehen könne Terrorgruppen dazu bringen, die Maßnahmen zur Polioausrottung nicht länger als lohnendes Ziel für Anschläge zu betrachten.

Ziel der Polioeradikation soll bis 2018 erreicht sein

In Afghanistan unterstützen die Taliban sogar Kampagnen wie die GPEI, weil sie Vertrauen in der Bevölkerung herzustellen versuchen. Dies könnte auch andernorts funktionieren. Es müsste dafür freilich gelingen, die Betroffenen dazu zu bringen, in der Polioeradikation ein soziales Problem zu sehen.

"Das böte einen Anreiz für Gruppen wie Boko Haram in Nordnigeria und die Taliban, den Zugang zur Impfung sichern zu helfen - als ein Mittel, die Unterstützung der Menschen zu gewinnen", so Abimbola, Malik und Mansoor.

Laut aktuellem Strategieplan der GPEI soll das Ziel der Polioeradikation bis 2018 erreicht sein. Tatsächlich scheint zum Erfolg nicht mehr viel zu fehlen: 1988 war Polio in 125 Ländern endemisch, rund 350.000 Menschen wurden jährlich von lähmender Poliomyelitis befallen.

Für das vergangene Jahr führt die GPEI-Statistik 223 nachgewiesene Fälle.

Doch auf die Eradikation sollte man sich nicht zu früh freuen. In Somalia beispielsweise sind 2013 bereits 174-mal Polioviren nachgewiesen worden, im Vergleich zu null Fällen im vergangenen Jahr.

Und derzeit blicken die Polioexperten sorgenvoll nach Syrien. Dort besteht der Verdacht auf einen Polioausbruch - 14 Jahre nach den letzten Meldungen über Polioinfektionen.

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