Welt-Frühchen-Tag

500 Gramm leicht, aber schon ein ganzer Mensch

Japans Neonatologen zählen weltweit zu den erfolgreichsten bei der Behandlung von Extremfrühchen. In Nippon werden noch Kinder gerettet, die andernorts nicht behandelt würden. Die Stärke der Ärzte: Technik und Ethik.

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:
Kurz nach der Geburt in der 23. Schwangerschaftswoche brachte Kenta - hier in den Armen seiner Mutter - nur 500 Gramm auf die Waage.

Kurz nach der Geburt in der 23. Schwangerschaftswoche brachte Kenta - hier in den Armen seiner Mutter - nur 500 Gramm auf die Waage.

© privat

TOKIO. Gerade eine Handvoll, leicht wie ein kleines Päckchen Mehl. "Das ist kein Baby, das ist noch ein Fötus", dachte die Japanerin Ayako Ishii, als sie ihren Sohn mit dem auffallend schmalen Gesicht im Brutkasten liegen sah. Kenta brachte bei der Geburt mit 23 Wochen nur 500 Gramm auf die Waage. Das ist nur ein Sechstel des durchschnittlichen Geburtsgewichts in Japan. Das kleinste Baby, das in Japan je überlebt hat, wog keine 300 Gramm.

Viele der Extremfrühchen haben körperliche und geistige Behinderungen. Kenta hat eine leichte zerebrale Lähmung, durch eine Netzhautablösung ist er fast blind und seine Entwicklung verzögert. Aber er überlebte.

Es dauerte ein paar Wochen, bis seine Mutter ihren Schock überwand, als ihr ein Psychologe den Überlebenswillen des Kleinen aufzeigte. "Wenn Kenta sich so anstrengt, um zu leben, dann müssen wir das auch und ihn mit ganzer Kraft unterstützen", beschlossen Ishii und ihr Mann.

Frühgeburten nehmen weltweit zu

Durch eine Netzhautablösung fast blind, genießt Kenta dennoch lachend das Leben gemeinsam mit seiner Mutter.

Durch eine Netzhautablösung fast blind, genießt Kenta dennoch lachend das Leben gemeinsam mit seiner Mutter.

© Sonja Blaschke

Die Geschichte der Ishiis ist kein Einzelfall. Weltweit nehmen Frühgeburten zu. Über das "Warum" gibt es viele Vermutungen, aber keine gesicherten Gründe. Während die einen das gestiegene Alter der Erstgebärenden als Grund sehen, ist es für andere der gestiegene Stress. Auch Infektionen des Geburtskanals können der Auslöser sein.

Im globalen Vergleich rettet keine andere Nation so viele Extremfrühchen wie Japan. Schon mit Geburt in der 23. Woche stiegen die Chancen, dass das Kind ohne oder mit mäßigen Schädigungen durchkommt, stark an, sagt Professor Satoshi Kusuda von der Tokyo Women's Medical University (TWMU). Der Neonatologe betreute Kenta damals auf der Intensivpflegestation für Säuglinge (NICU).

"Bei Kindern, die mit 22 Wochen zur Welt kommen, wird die Hälfte gerettet. Und davon trägt etwa die Hälfte körperliche Beschwerden davon, wie neurologische Krankheiten oder Verzögerung bei der neurologischen Entwicklung. Mit 23 Wochen werden 80 Prozent gerettet, und davon haben 80 Prozent keine Schäden", resümiert Kusuda.

Wo andernorts die Ärzte noch gar nicht eingreifen, sind japanische Ärzte per Gesetz seit 1990 verpflichtet, Frühchen, die mit 22 Wochen auf die Welt kommen, zu retten. 22 Wochen gelten für viele Ärzte als am oder sogar unter dem untersten Limit der Lebensfähigkeit.

Dass ausgerechnet Japan die weltweit kleinsten Frühchen rettet, ist durchaus paradox. Denn in der Nation, die vor einem halben Jahrhundert noch als "Abtreibungsparadies" international bekannt war, ist der Schwangerschaftsabbruch mit 21 Wochen noch erlaubt.

Staat trägt Behandlungskosten

Für die Erfolge Japans bei der Frühchenbehandlung gibt es mehrere Gründe, einerseits begründet im japanischen Gesundheitssystem, andererseits im Personal. So werden beispielsweise die Kosten für die Behandlung von Frühchen vom Staat übernommen.

Gerade für Paare, die wenig Geld haben, kann das bei Grenzfällen die Entscheidung für das Kind erleichtern. In anderen Ländern werden bestimmte Medikamente nur verabreicht, wenn die Eltern selbst dafür aufkommen. Manchmal entscheidet dies über Leben und Tod.

Gab es in den 1970ern noch nicht einmal Beatmungsgeräte für Babys, zählt Japan längst zu den Nationen mit der höchsten Qualität an Ausstattung und Ausbildung. In Tokio sind seit über zehn Jahren 25 Kliniken mit Perinatalzentren über ein System verbunden, das über einfache Symbole dem Personal auf einem Bildschirm anzeigt, ob und wo Kinder und Mütter in welchem Zustand aufgenommen werden können. In Kusudas NICU steht neben jedem Brutkasten ein eigener Computer, wo sämtliche Daten registriert werden.

Eine weitere Besonderheit sind "Almighty"-Ärzte, also Fachärzte für Frühchen, die alle benötigten Untersuchungen vor Ort selbst durchführen können. Mindestens ein solcher Arzt sei immer anwesend und bestimme die gesamte Behandlungsstrategie, erklärt Kusuda im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Mit 24 Wochen können 80 Prozent gerettet werden

Dadurch unterscheide sich das japanische System zum Beispiel vom US-amerikanischen, wo Arbeitsteilung und Schichtdienst üblich seien. Dort müsse das Kind für gewisse Untersuchungen in andere Räume gebracht werden, während es in Japan direkt in der NICU behandelt würde.

Für den japanischen Neonatologen Dr. Hiroshi Nishida ist einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg Japans die Einstellung der Ärzte: "Auch ganz am Anfang ihres Lebens sind Frühchen menschliche Wesen. Und deswegen tun wir zunächst alles, was wir können, damit sie durchkommen.

Das Ergebnis ist, dass wir mit 24 Wochen 80 Prozent der Kinder retten können." Wenn die Behandlung nicht anschlägt, könnten Ärzte auf die von ihm entwickelten "Nishida-Kriterien" zurückgreifen. Sie geben ihnen eine ethische Grundlage für die Entscheidung, wie umfänglich sie ein Kind in welchem Zustand behandeln oder ob sie die Behandlung abbrechen sollen.

Alles zu tun, damit die Kinder überlebten, bedeute jedoch nicht, dass die Behandlung besonders invasiv sei, sagt Kusuda, der Nachfolger Nishidas. Man versuche die Kinder nach Möglichkeit nicht zu verletzten, etwa durch Spritzen, sondern führe ihnen Nahrung und Luft zu und wärme sie im Brutkasten. "Wir versuchen ein Umfeld herzustellen, wie es im Bauch der Mutter war. Dann warten wir ihre Entwicklung ab."

Die Betreuung bestehe nicht nur aus Beobachtung; die Ärzte würden regelmäßig Bluttests und Ultraschall durchführen. "Unsere größte Herausforderung ist, Nährstoffe dem Magen zuzuführen. Bisher hat man sie über den Verdauungstrakt zugeführt, anders ging es nicht. Wenn das nicht gelingt, dann kann man das Leben des Kindes aufgrund von Komplikationen nicht mehr retten", erklärt Kusuda.

Künstliches Surfactant ebnete den Weg

Die größten Schwierigkeiten bei Neugeborenen sind neben Hirnschädigungen und Herzproblemen die noch zu wenig ausgereifte Lunge. Noch vor 30 Jahren erstickte etwa die Hälfte aller zu früh Geborenen. Die amerikanische Ärztin Dr. Mary Ellen Avery fand schließlich heraus, dass es den betroffenen Kindern an einer Art Beschichtung der Lunge namens Surfactant fehlt.

Diese Flüssigkeit bildet sich etwa mit der 24. Schwangerschaftswoche. Sie erhält die Oberflächenspannung der Alveolen aufrecht und ermöglicht damit die Atmung. Erst nach vielen Irrwegen und Rückschlägen in der Forschung gelang es 1980 dem japanischen Kinderarzt Dr. Tetsuro Fujiwara, Surfactant herzustellen. Er extrahierte dazu Surfactant aus Rinderlungen. Als ihn eine Patientin, die schon sechs Fehlgeburten hinter sich hatte, bat, ihr Kind zu retten, wagte er den Schritt.

Nach Tests an Tieren und sich selbst führte er das leicht modifizierte Surfactant in die Lunge des Kindes ein - es überlebte. Es war eine medizinische Sensation. Noch heute werden dank dieses Stoffs, der inzwischen auch künstlich hergestellt werden kann, rund um die Welt viele Tausende Kinder vor dem Ersticken gerettet.

Der Geburtsort kann entscheidend sein

Manchmal entscheidet der Geburtsort, ob ein Kind überlebt. Wäre Kentas Mutter zum Beispiel in China geboren worden, würde er heute wohl nicht als Dreijähriger mit seinen Eltern spielen und mit Begeisterung Musik hören. Denn dort retten die Ärzte erst Frühchen, die mit 28 Wochen oder mehr auf die Welt kommen. Nicht mangels Wissen und Technik, sondern im Hinblick auf die Kosten.

Die Frühchenpflege ist aufwändig und teuer. Ressourcen, die dort eingesetzt werden, häufig mit ungewissem Ausgang, fehlen anderswo. Auch in Europa und den USA wird zum Teil so argumentiert. Von Land zu Land unterscheidet sich, mit wie viel Wochen Kinder gerettet werden, meist mit zwischen 23 und 26 Wochen.

In Japan hingegen ist die Untergrenze, ab der Ärzte helfen müssen, seit 1990 auf 22 Wochen gesetzlich festgelegt. Damals gab es einige wenige Kinder, die trotz extremer Unterentwicklung überlebten; sie wurden der Standard für das Gesetz, das in Japan noch heute unter den Neonatologen kontrovers diskutiert wird.

"Wir müssen dem Sozialdarwinismus entkommen, wir sind alle eins", sagt Nishida, der an der Vorbereitung des Gesetzes beteiligt war, im Hinblick auf Kinder mit einer Behinderung infolge der Frühgeburt.

Die Medizin hat ihre Grenzen

Sein Nachfolger Kusuda sagt: "Wenn wir die Kinder retten können, ohne dass sie einen Schaden davon tragen, dann empfinde ich es persönlich als Aufgabe des Fortschritts. Aber bei Kindern, die wir einfach nicht retten können oder bei denen eine klare Behinderung auftritt, ist wohl das Limit der Medizin erreicht. Wir hoffen zwar auf den Fortschritt der Medizin, aber wir denken auch an ihre Grenzen."

Andere Ärzte, wie der "Surfactant"-Entdecker Fujiwara sowie sein Nachfolger, Professor Shoichi Chida, Leiter der Abteilung für Kinderheilkunde der Medizinischen Universität Iwate, würden das Limit eher auf 24 Wochen oder höher setzen.

Fujiwara fordert von seiner Zunft, dass Geburtshelfer noch stärker Forschung betreiben und mehr Tierversuche durchführen sollen. Dabei soll der Fokus seiner Meinung nach nicht nur auf den Frühchen liegen, sondern auch auf den Müttern. "Das Wichtigste ist", sagt Fujiwara, "dass es erst gar nicht zu Frühgeburten kommt."

Lesen Sie dazu auch: Extremfrühchen: "Die 22. Woche dürfte die unterste Grenze sein"

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