Fallbericht
Bis(s) auf die Knochen
Ein 66-jähriger Patient, Colonel der US-Air Force a. D. mit diabetischer Neuropathie und Osteomyelitis, muss erst fast alle Finger seiner rechten Hand verlieren, bevor er die eigentliche Ursache für den Knochenschwund aufgibt: das Nägelkauen.
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Seit Kindertagen kaut der Patient an den Fingernägeln (Symbolbild).
© GeorgePeters / Getty Images / iStock
San Antonio. Von einer ungewöhnlichen Kasuistik berichtet ein US-amerikanisches Orthopädenteam (JBJS Case Connect 2021; 11(4):e21.00346): In einer orthopädischen Handklinik der US-Streitkräfte in Texas stellt sich ein 66-jähriger Mann vor: Der rechte Zeigefinger ist stark geschwollen und gerötet, das Erythem zieht sich dorsal über die Hand bis zum Daumen.
Das Labor zeigt deutlich erhöhte Entzündungswerte. Im Röntgenbild dann ein überraschender Befund: eine ausgeprägte Osteomyelitis am distalen Glied des Zeigefingers. Etwa einen Monat vor seinem Besuch in der Sprechstunde hatte sich der Patient den Zeigefinger gequetscht.
Aus der Anamnese ergibt sich eine diabetische Neuropathie, die dazu geführt hat, dass das Empfindungsvermögen an der Hand massiv eingeschränkt ist. Außerdem erfahren die Ärzte des Military Medical Center im Texanischen San Antonio noch ein kleines Geheimnis: Der Mann, ein ehemaliger Colonel der US-Air Force, kaut an den Nägeln, und das schon seit Kindertagen. Seinem Arbeitgeber hatte er das Laster aus Angst vor Stigmatisierung all die Jahre verschwiegen.
Fortschreitende Osteolyse
Den Orthopäden bleibt nach Irrigation und Débridement nur die Amputation des Fingerendglieds. Damit ist der Leidensweg des Colonels jedoch nicht vorbei. Obwohl im Ruhestand, kaut er in den folgenden fünf Jahren unvermindert weiter an den Nägeln. Dabei entwickelt sich eine in Intervallen fortschreitende Osteolyse, die neben dem Zeigefinger nach und nach auch alle anderen Finger der rechten Hand erfasst.
Immer wieder wird er damit in der Klinik vorstellig, und obwohl keine weiteren Amputationen vorgenommen werden, weil der Patient dies ablehnt, zeigen die Röntgenbilder deutlich, wie die Finger immer kürzer werden.
Um die Auflösung der Fingerknochen zu stoppen, verschreibt man dem Patienten Antibiotika. Im Juni 2020 kommt dann noch eine Tenosynovitis des M. flexor digitorum und ein Abszess im Bereich der Handfläche hinzu. Die Behandlung kostet den Patienten den kompletten Ringfinger der rechten Hand. Eine aerobe Kultur zeigt das Wachstum von Staphylococcus epidermidis mit Resistenzen gegen Ciprofloxacin, Levofloxacin, Oxacillin und Tetrazykline. Eine Therapie mit Vancomycin, Cefepim und Metronidazol bringt die Infektion schließlich zum Stillstand.
Hilfreiche Verhaltenstherapie
Endlich stimmt der Colonel a. D. jetzt auch einem psychiatrischen Assessment zu. Dabei erfährt er, dass er unter einer Zwangsstörung leidet und dass das Nägelkauen durch bestimmte Faktoren wie Langeweile, Alleinsein und Stress getriggert wird.
Mit einer Verhaltenstherapie gelingt es ihm, seine Zwangshandlungen besser in den Griff zu bekommen. Auch die Einstellung seines Diabetes mellitus trägt ihren Teil dazu bei, dass der Patient das Nägelkauen, welches ihn fast alle Finger seiner rechten Hand gekostet hätte, letztlich aufgibt.