Digitale Diagnostik
Gefahr durch Fake Medical News
Unklare Symptomkonstellationen können mit spezialisierten Suchmaschinen abgeklärt werden. Von Universalsuchmaschinen wird deutlich abgeraten.
Veröffentlicht:WIESBADEN. "IT ist in der Diagnostik seltener Erkrankungen für uns ein unverzichtbares Hilfsmittel", sagte Dr. Tobias Müller vom Universitätsklinikum Marburg. Doch nicht nur für seltene Krankheiten. Denn: "Unser großes Leck ist der Speicher", so Müller beim Internistenkongress in Wiesbaden.
Das menschliche Gehirn hat ein Kapazitätsproblem: Allein die Anzahl internistischer Krankheitsbilder liegt bei 750, der IMPP-Gegenstandskatalog für das medizinische Staatsexamen umfasst etwa 950 Krankheitsbilder. Und Orphanet listet etwa 8000 seltene Erkrankungen auf.
"Damit wird klar, dass allein das Memorieren von Fakten nicht zum Erfolg führen kann", sagte Müller, der früher am Zentrum für seltene und unerkannte Krankheiten (ZusE) in Marburg gearbeitet hat. Im Zuge der sich entwickelnden Präzisionsmedizin werde die Menge an zu verarbeitenden Fakten weiter deutlich zunehmen. Nachteilig ist außerdem, dass die Verarbeitung anamnestischer, klinischer und technischer Befunde durch den Menschen beeinflusst wird durch die individuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit.
Benötigt werden daher Methoden zur Wissensselektion, um aus der exponentiell wachsenden Menge an Fachwissen das jeweils Richtige herauszufiltern. Die häufig selbst von Ärzten genutzte Suchmaschine Google hilft da nicht weiter. "Fake News gefährden Amerikas Demokratie. Fake Medical News gefährden Leben", warnte der US-Kardiologe Dr. Haider Warraich vor ein paar Monaten in der "New York Times", und: "Dr. Google ist ein Lügner".
Das gilt in besonderem Maße für seltene Krankheiten. Denn der Algorithmus in Googles Universalindex mit aktuell 54 Billionen gespeicherter Webseiten gewichtet diese nach der Anzahl der Verweise von anderen Seiten, ganz abgesehen von kommerziellen Aspekten. Seltene Krankheiten sind in der Trefferliste dementsprechend deutlich unterrepräsentiert.
Spezialisierte Suchmaschinen nutzen!
Müller warb in Wiesbaden für die intensive Nutzung spezialisierter Suchmaschinen wie "FindZebra", "Phenomizer" oder Bild-Analyse-Systemen wie "Face2Gene". "FindZebra" umfasst mehr als 33.000 Artikel zu etwa 7000 seltenen Krankheiten. Basierend auf im Freitext einzugebenden Phänotypen und Symptomen werden Übereinstimmungen und ähnliche Erkrankungen gelistet.
"Phenomizer" unterstützt besonders das Finden genetisch determinierter, syndromaler Erkrankungen und verweist auf Literaturquellen mit entsprechenden Kasuistiken.
Faziale Auffälligkeiten, besonders in der Pädiatrie, lassen sich mit der "Face2Gene"-App abklären: Per Smartphone wird ein Foto gemacht und hochgeladen. Automatisch werden mögliche Differenzialdiagnosen und zugehörige Wissensquellen angegeben. Die relativ vage, womöglich subjektiv gefärbte Beschreibung von Symptomen wird auf diese Weise umgangen und die "Ur-Information", so Müller, genutzt. In einer kürzlich publizierten Validierungsstudie war eine 91-prozentige Genauigkeit in einer Top-10-Liste möglicher Krankheiten ermittelt worden (Nature Medicine 2019; 25: 60-64).
Müller: "Diese Werkzeuge stehen jedem in der Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung zur Verfügung. Jeder kann auf die Spurensuche gehen bei Patienten mit unklarer Symptomatik und bei Verdacht auf eine seltene Erkrankung." Es klang fast wie ein Hilferuf: Auf seltene Krankheiten spezialisierte Zentren wie das ZusE können sich offenbar vor Anfragen kaum retten.
"Allerdings müssen wir uns auch einer ethischen Diskussion stellen", forderte Müller in Wiesbaden. Unternehmen könnten zum Beispiel Bilder auf Facebook nutzen, um ihre Angestellten auf genetisch bedingte Krankheiten zu screenen. Die technischen Möglichkeiten seien bereits vorhanden. Zu dieser Debatte müsse die Ärzteschaft baldmöglichst einen Beitrag leisten.