Muskel oder Gelenk defekt?
Hinter Muskelschmerz steckt meist kein „verklemmter Nerv“
Um Muskelschmerzen systematisch einordnen und differenzieren zu können, bieten sich praxisnahe Fortbildungen und Hilfsmittel an. Die erste Regel am Patienten lautet: Hand anlegen und untersuchen!
Veröffentlicht:Über 30 Prozent der Deutschen im erwerbsfähigen Alter leiden regelmäßig unter starken Muskelverspannungen, so Ergebnisse repräsentativer Umfragen. Betroffen sind außer der Lumbalregion vor allem auch der Nacken-Schulter-Arm-Bereich. Eine verspannte Nackenmuskulatur schmerzt nicht nur lokal, sondern kann nach distal (zervikobrachial) und/oder zentral (zervikozephal) ausstrahlen. Ältere Menschen klagen zudem gehäuft über Wadenschmerzen.
„Berufe, die schweres Heben oder Überkopfarbeiten erfordern, prädestinieren für akute Muskelprobleme“, so die Erfahrung von Dr. Oliver Emrich, Allgemeinarzt, Anästhesiologe und Schmerztherapeut aus Ludwigshafen sowie ehemaliges langjähriges Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS).
Wenn die Muskulatur verhärtet ist
„Zur anderen Gruppe gehören jene, die viel sitzen, untrainiert sind und wenig Kontrolle über die Muskelkoordination haben.“ Patienten denken häufig, das komme aus der Wirbelsäule oder aus Skelettknochen. „Da ist ein Nerv verklemmt“, diesen Satz hört Emrich oft. Doch meist ist verhärtete Muskulatur die Schmerzursache.
Das lässt sich durch gezieltes Befragen und Untersuchen rasch feststellen. Die Beachtung der Head’schen Zonen liefert wichtige differenzialdiagnostische Zusatzinformationen – ein rechtsseitiger Schulterschmerz kann auch einmal von der Gallenblase herrühren, ein Bauch-Bein-Schmerz beim Mann von einer Leistenhernie.
Eine bildgebende Diagnostik soll bei Muskelschmerzen ausdrücklich nicht erfolgen, solange keine Warnhinweise auf internistische, orthopädische, neurologische oder andere Ursachen bestehen – für die Differenzialdiagnostik von Myalgien hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) kürzlich eine S1-Leitlinie veröffentlicht.
Nicht verzichtbar ist dagegen, den entkleideten Patienten klinisch zu untersuchen. Ausziehen lassen, die Bewegungsabläufe dabei beobachten und den Patienten anzufassen – das ist nicht nur für die Diagnostik wichtig, sondern bereits Teil der Therapie. Die Untersuchung des Bewegungsapparates, speziell der Muskulatur, bedarf einiger Erfahrung.
Auch Kolleginnen und Kollegen, die keine Zusatzbezeichnung „Manuelle Medizin“ anstreben, empfiehlt Emrich deshalb, einmal einen Untersuchungskurs zu besuchen, zum Beispiel im Rahmen einer DGS-Fortbildung, Ausbildung zum Neuraltherapeuten oder beim alljährlichen Deutschen Schmerz- und Palliativtag, sobald Präsenzveranstaltungen wieder möglich sein werden. Denn dabei werden praktische Hinweise zur Untersuchung funktioneller Muskelketten, von Muskeldysbalancen, Triggerpunkten sowie die Diagnostik von Tendinopathien und assoziierten Gelenkstörungen vermittelt.
Gezielte Palpation hilfreich
Die DGS stellt außerdem den Praxisfragebogen MyoTect bei Kreuz-/Rücken-, Schulter- und Nackenschmerzen zur Verfügung: 20 Fragen zum Ankreuzen durch den Patienten erlauben mit hoher Sensitivität zwischen Entzündungs- und muskulär bedingten nozizeptiven Schmerzen zu unterscheiden.
„Meine Bibel, die immer griffbereit liegt, ist das ‚Handbuch der Muskel-Triggerpunkte‘ von Travell & Simons“, ergänzt Emrich. Denn außer der allgemeinorthopädischen und neurologischen Funktionsuntersuchung lässt sich mit der gezielten Palpation von Muskelgruppen und Muskelketten herausfinden, wo das individuelle Problem tatsächlich lokalisiert ist: Schmerzhaft palpable myofasziale Triggerpunkte gehen mit einer Verspannung unterschiedlich großer Areale des betroffenen Muskels einher.
Außerdem ermöglichen es die Abbildungen, dem Patienten gut zu erklären, welche Schmerzmechanismen in seinem Fall ursächlich sind. „Dann versteht der Patient auch die Therapie!“ so Emrich.
Manchmal steckt auch eine Depression dahinter
Schließlich müssen psychosoziale Faktoren mit beurteilt werden, um Depressionen und Ängste erkennen zu können. Demografische Analysen haben ergeben, dass das Stress- und Verspannungsempfinden bis zur fünften Lebensdekade zunimmt und danach wieder abfällt.
Eine Forsa-Umfrage unter mehr als 1000 Erwerbstätigen im Jahre 2009 ergab, dass 32 Prozent unter hohem, dauerhaftem Stress leiden. Dies geht deutlich häufiger mit Muskelverspannungen und Rückenschmerzen einher als bei nur gelegentlich oder nie gestressten Personen. „Zufriedenheit am Arbeitsplatz ist ein wichtiger Punkt“, bestätigt Emrich. „Wenn jemand unzufrieden ist, wenn es gar Mobbing gibt, wenn Angestellte überfordert werden oder sich selbst überfordern, dann hat das neben psychischen auch körperliche Folgen.“
Physiotherapeutische und medikamentöse Behandlungen helfen solchen Patienten nur unzureichend. Sie benötigen ein Achtsamkeitstraining wie progressive Muskelentspannung, Yoga, Qi Gong oder Ähnliches. Emrich: „Ich sage meinen Patienten: Bei Verspannung wegen Stress braucht es Entspannung für die Seele.“ Dies löst und lockert dann auch Muskeln und Bewegungsapparat.