Aktuelle Umfrage

Seltene: 80 Prozent der Bundesbürger sehen Versorgungslage kritisch

Bei den Seltenen Erkrankungen sind wie kaum in einem anderen Therapiegebiet Innovationen nötig. Doch eine aktuelle Repräsentativumfrage im Auftrag von Takeda zeigt: Das Vertrauen zumindest der Bundesbürgerinnen und -bürger in bessere Therapiechancen ist gering. Was das EU-Pharmapaket damit zu tun hat und welche Weichen das in diesem Jahr neu zu wählende EU-Parlament stellen müsste.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Patientengespräch: Bei Seltenen Erkrankungen dauert es häufig nicht nur Jahre bis zur Diagnose, oft fehlen auch Therapieoptionen. Der Zugang zu Orphan-Drug-Innovationen könnte sich ausgerechnet durch den EU-Pharma-Pakt weiter verschlechtern, fürchten Politiker, Mediziner und Unternehmen.

Patientengespräch: Bei Seltenen Erkrankungen dauert es häufig nicht nur Jahre bis zur Diagnose, oft fehlen auch Therapieoptionen. Der Zugang zu Orphan-Drug-Innovationen könnte sich ausgerechnet durch den EU-Pharma-Pakt weiter verschlechtern, fürchten Politiker, Mediziner und Unternehmen.

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Berlin. 71 Prozent der Deutschen halten Innovationen insbesondere der Pharma-Industrie für bedeutsam, um Menschen mit Seltenen Erkrankungen neue Therapiechancen zu eröffnen. Die Hauptverantwortung dafür sehen sie bei der Industrie selbst und bei der Bundesregierung, sprich der Politik.

Das sind Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativbefragung unter 5000 Bundesbürgern über 16 Jahre im Auftrag des Unternehmens Takeda; sie wurden bei einem von Takeda organisierten Fachgespräch mit Betroffenen, Experten und Politikern in Berlin anlässlich des Tages der Seltenen Erkrankungen präsentiert. Die Umfrage, in der in einer Sonderauswertung auch Patienten und deren Angehörige einbezogen worden waren, zeigt die nach wie vor unbefriedigende Versorgungssituation und eine düstere Zukunftsperspektive.

Noch immer vergehen bis zu fünf Jahre bis zur Diagnose

Nur knapp jeder fünfte Bundesbürger hält danach die Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen für angemessen. Aber nur zwölf Prozent erwarten in den nächsten fünf Jahren eine Verbesserung, gut 38 Prozent hingegen eine Verschlechterung.

Unter den Betroffenen selbst fällt das Urteil noch kritischer aus: Hier sind drei Viertel der Meinung, dass ihre Versorgung nicht angemessen ist. Ursächlich dafür könnte sein, dass die durchschnittliche Dauer bis zu einer Diagnose immer noch fünf Jahre beträgt und der Weg dahin einer Odyssee durch die Medizin gleicht. Und trotz zweifellos vorhandener Fortschritte insbesondere seit der EU-Orphan-Drug-Legislation im Jahr 2000 und seiner speziellen Förderung von Innovationen gibt es für die meisten Patienten noch keine kausalen Therapien.

Mehrheit der Patienten blickt pessimistisch in die Zukunft

Stärker noch als der Durchschnitt der Bevölkerung befürchten Patienten und ihre Angehörigen, dass sich die Versorgungssituation in den kommenden fünf Jahren verschlechtern wird: 60 Prozent sind pessimistisch – gegenüber 38 Prozent in der Allgemeinbevölkerung.

Ein Grund dafür, dass nicht zuletzt in Deutschland die Zukunftsperspektive so schlecht eingeschätzt werden, könnte das im vergangenen Jahr von der EU-Kommission vorgelegte Pharmapaket für eine Novellierung der arzneimittelrechtlichen Rahmenbedingungen sein. Die Kommission versucht, dabei vor allem ein Problem zu adressieren: den in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten de facto nicht möglichen Zugang zu Orphan-Drug-Innovationen. In etlichen EU-Ländern – und nicht nur in den ärmeren Osteuropas – sind neue Orphan Drugs entweder gar nicht oder nur mit mehrjähriger Verspätung über das jeweilige Sozialversicherungssystem verfügbar. Deutschland, wo grundsätzlich jedes neu zugelassene Arzneimittel automatisch eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ist und Orphan-Drugs auch in der Nutzenbewertung einen privilegierten Status haben, bildet da eine Ausnahme.

Verkürzung der Patentlaufzeiten könnte zum Problem werden

Aus diesem Grund schlägt die Kommission in der Novellierung vor, das Ausmaß des Unterlagenschutzes und damit der geistigen Eigentumsrechte mit der Frage zu verknüpfen, in welchem Umfang neue Orphan Drugs in den EU-Staaten für die Patienten tatsächlich verfügbar sind, also von der dortigen Sozialversicherung bezahlt werden. Damit soll Druck auf die anbietenden Unternehmen ausgeübt werden, in den jeweiligen Systemen sozialverträgliche Erstattungsbedingungen zu vereinbaren – nur dann soll der bislang geltende verlängerte Unterlagenschutz noch gewährt werden.

Eine effektive Verkürzung der Patentlaufzeiten könnte sich kontraproduktiv auf das Forschungsengagement der entscheidenden Player in der Industrie auswirken, befürchtet Dr. Philipp Mathmann, leitender Oberarzt an der Universitätsklinik Münster, der für Bündnis 90/Die Grünen für das Europäische Parlament kandidiert. Notwendig sei es aber, Strukturen zu schaffen, die Investitionen für Innovationen begünstigen.

In gewisser Weise unterhält Mathmann Unterstützung vom CSU-Bundestagsabgeordneten Erich Irlsdorfer, der auch Schirmherr der Fachgespräche war: Er hält es nicht für gerechtfertigt, über eine EU-Regelung die Versorgungssituation in Deutschland indirekt zu verschlechtern, etwa weil in Rumänien Orphan Drugs nicht zugänglich sind. Andererseits ist Irlsdorfer davon überzeugt, sich tatsächlich wirksame Medikamente mit der Zeit auch international durchsetzen werden.

Wenn EU-Ebene und nationale Regelungen konkurrieren

In diesem Zusammenhang gab Jean-Luc Delay, Geschäftsführer Takeda Deutschland, zu bedenken, dass Pharmaunternehmen einen „großen Beitrag“ für die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen leisteten. Für die zeit- und kostenintensive Forschung und Entwicklung von innovativen und wirksamen Therapien „benötigen wir verlässliche Rahmenbedingungen“. Es liege in der Verantwortung der Politik, das EU-Pharma-Paket so zu gestalten, dass Wissenschaft, Unternehmen und Gesundheitssystem optimale Voraussetzungen bei der Entwicklung von Innovationen und der flächendeckenden Versorgung der Betroffenen haben.

Die Rolle der EU bei der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen werde bislang noch viel zu wenig beachtet, darin waren sich die Diskussionsteilnehmer einig. Ursächlich dafür ist, dass die Gestaltung der Sozialversicherungssysteme und deren Leistungen eindeutig in die jeweilige nationale Kompetenz fallen.

Das müsse sich mit dieser Wahl ändern, fordert etwa Helmut Geuking, der für die Familienpartei Mitglied des Europäischen Parlaments ist. So gebe es beispielsweise seit 2008 eine erste Strategie der EU zu Seltenen Erkrankungen. Der erste Bericht zur Umsetzung dieser Strategie sei allerdings bereits zehn Jahre alt und längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Hier scheint also eine dringende Aktualisierung geboten.

Verbindliche Umsetzungspflichten müssen her

Auf einen weiteren Aspekt verwies Geske Wehr, Generalsekretärin von EURIDIS – Rare Diseases Europe: Seit 2017 befindet sich ein Referenz-Netzwerk zum systematischen Wissensaustausch von Forschern im Aufbau, das zu einer enormen Verbesserung der Versorgung beigetragen habe. Notwendig sei aber nun ein neuer Aktionsplan mit verbindlichen Umsetzungspflichten durch die Mitgliedsländer der EU. Das gelte etwa für die Umsetzung der Europäischen Behinderten-Konvention durch die Mitgliedsstaaten. Auch Deutschland sei dabei noch im Rückstand.

Mit gravierenden Konsequenzen für das Alltagsleben der betroffenen Patienten und ihrer Familien, wie die Mutter eines Kindes mit Smith-Magenis-Syndrom plastisch darlegte: Nicht nur der Weg zur Diagnose der noch unbehandelbaren Krankheit sei ein langer Irrweg gewesen – auch die Anerkennung des speziellen Versorgungs- und Betreuungsbedarfs eines schwerbehinderten Kindes durch Krankenkassen und Sozialbehörden sei zermürbend für eine Familie, deren ganzes Organisationssystem durch die Krankheit auf den Kopf gestellt werde.

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