Heinsberg-Studie
Höhere Infektionsgefahr beim Singen
Neue Erkenntnisse aus der „Heinsberg-Studie“: In Gangelt sind 15 Prozent der Bevölkerung mit SARS-CoV-2 infiziert. Wissenschaftler warnen aber davor, die Ergebnisse einfach auf die Bevölkerung in Deutschland hochzurechnen.
Veröffentlicht:Köln. In der niederrheinischen Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg, einem Hotspot der Corona-Pandemie, haben sich 15 Prozent der Bevölkerung mit SARS-CoV-2 infiziert, 0,37 Prozent der Erkrankten sind gestorben. Das zeigen die am Montag präsentierten Ergebnisse der „Heinsberg-Studie“.
Eine Hochrechnung der Ergebnisse auf die gesamte Bundesrepublik, nach der es hierzulande 1,8 Millionen Infizierte geben könnte, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen.
Wissenschaftler der Universitätsklinik Bonn unter Leitung des Virologen Professor Hendrik Streeck hatten in der Zeit vom 30. März bis zum 6. April Einwohner von Gangelt befragt und sie auf SARS-CoV-2 getestet. Einbezogen in die Studie waren 919 Personen aus 405 Haushalten.
Zu wenige Kinder, zu viele ältere Menschen
„Wir hatten eine Unterrepräsentation von Kindern und eine Überrepräsentation von Teilnehmern über 65 Jahren“, berichtete Streeck in einer Webkonferenz. Von den 919 Teilnehmern wurden 138 positiv getestet, was einer Quote von 15,0 Prozent entspricht.
Damit lag die Zahl der Infizierten fünfmal höher als die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle. Doppelt- und Mehrfachbestimmungen sind herausgerechnet worden. Für Gangelt nannte Streeck eine Infektionssterblichkeit von 0,37 Prozent. Mit sieben erfassten Todesfällen ist die Basis allerdings sehr klein.
„Für mich überraschend war, dass 22 Prozent der Infizierten in den letzten zwei Monaten keine Symptome hatten“, sagte er. Das bestätige aber Studien aus China, dass 20 Prozent der Betroffenen einen asymptotischen Verlauf haben. „Die typischen Symptome sind Geruchs- und Geschmacksverlust, trockener Reizhusten und Halsschmerzen.“
Risiko für Infektion unabhängig vom Alter
Nach Angaben von Professor Gunther Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Bonner Uniklinik, haben Menschen, die mit einem Infizierten in einem Haushalt leben, zwar ein höheres Infektionsrisiko, aber nicht in einem so großen Ausmaß, wie man es erwarten könnte.
In einem Zwei-Personen-Haushalt liegt das Risiko demnach 28 Prozent über dem durchschnittlichen Infektionsrisiko von 15 Prozent, bei einem Drei-Personen-Haushalt 20 Prozent und bei einem Vier-Personen-Haushalt drei Prozent. „Bei hochkontagiösen Virusinfektionen müssten es 100 Prozent sein“, betonte er. Das sei bei anderen Infektionen allerdings auch nicht der Fall.
„Das Risiko, infiziert zu sein, ist nicht abhängig von der Altersgruppe“, nannte Hartmann ein weiteres Ergebnis. Bei den Jüngeren – die unterrepräsentiert waren – sei es zwar etwas niedriger, aber nicht signifikant. Auch bei Co-Morbiditäten haben die Forscher keine besonderen Auffälligkeiten gefunden.
Höhere Infektionsrate bei Teilnehmern der Karnevalssitzung
Anders sieht es aus bei der Teilnahme an Karnevalssitzungen: Bei den Sitzungsteilnehmern liegen sowohl die Infektionsrate als auch die Zahl der Symptome höher als im Schnitt. Ein weiterer Befund: „Lautes Sprechen und Singen ist mit einer viel höheren Infektionsweitergabe verbunden“, berichtete er.
Die von dem Forscherteam veröffentlichte Studie ist noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet worden. In die Pressekonferenz war allerdings Professor Gérard Krause einbezogen, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
„Es sind die ersten richtig verfügbaren Daten für Deutschland und sehr überzeugend“, lobte er. Es gebe jetzt erste Anhaltspunkte und für Gangelt eine gute Basis für das Verhältnis von Infizierten und den durch das Meldesystem erfassten Menschen. „Das ist ein Verhältnis, mit dem wir arbeiten können.“ Das gelte auch für die Relation Verstorbene zu Infizierten.
Daten werden zügig gebraucht
Skeptisch sieht Krause allerdings die Hochrechnung auf Gesamtdeutschland. Die Bonner Forscher hatten anhand der Ergebnisse aus Gangelt eine Gesamtzahl von 1,8 Millionen Infizierten im ganzen Land ermittelt, das wären rund zehnmal so viele wie offiziell gemeldet. Es handele sich nur um eine Modellrechnung, betonte Hartmann. „Niemand hat behauptet, dass es 1,8 Millionen sind.“
Mit solchen Übertragungen sollte man vorsichtig sein, warnte Krause. So sei die Zahl von sieben Todesfällen ungewöhnlich niedrig. Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen, wie es sie jetzt häufig gibt, seien dabei nicht berücksichtigt. Sie seien für die Gesamtsterblichkeit aber maßgeblich. „Die Zahlen sind richtig für Gangelt, aber eine Hochrechnung auf Deutschland würde ich nicht machen“, betonte er.
Krause nahm die Bonner Wissenschaftler gegen den Vorwurf in Schutz, zu schnell mit Forschungsergebnissen an die Öffentlichkeit gegangen zu sein, normalerweise bräuchten Studien mehr Zeit. „Wir brauchen die Daten jetzt“, betonte Krause.
Die Ergebnisse der „Heinsberg-Studie“ werden seiner Meinung nach hilfreich sein bei verbesserten Modellierungen. „Die Studie ist sehr wertvoll.“