SARS-CoV-2

Wissenschaftler zur jetzigen Corona-Impfstrategie: Ungeimpfte schützen, statt alle zu boostern!

Ob momentan alle Geimpften eine dritte Impfdosis zum Schutz vor COVID-19 brauchen, sehen Wissenschaftler skeptisch: Eher sollte man sich erst einmal auf Ungeimpfte konzentrieren – und die dritte Dosis Hochrisikogruppen vorbehalten.

Von Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Impfung quo vadis? Schwierige Entscheidungen zur richtigen Impfstrategie stehen an.

Impfung quo vadis? Schwierige Entscheidungen zur richtigen Impfstrategie stehen an.

© Zubada / stock.adobe.com

Neu-Isenburg. Widersprüchliche Daten über die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe gegen die Delta-Variante von SARS-CoV-2 sorgen für Verunsicherung. Wie hoch ist das Risiko für Impfdurchbrüche bei diesen Problemviren, und zwar auch angesichts der sinkenden Antikörpertiter bei den Impflingen? Können Geimpfte die Coronaviren weiter verbreiten? Lässt sich Herdenimmunität überhaupt erreichen, und brauchen auch wir dazu (möglichst schnell) Impfbooster?

Diesen Fragen haben sich Experten bei einer virtuellen Internationalen Pressekonferenz des Science Media Centers (SMC) Australien gestellt. Deutlich wurde dabei: Klare Antworten gibt es dazu in vielen Bereichen noch nicht.

Mehr Antikörper gegen Delta nötig

Die Delta-Variante ist kontagiöser als andere SARS-CoV-2-Varianten, und es werden zum Schutz mehr Antikörper gebraucht. Wie Meldungen über die Impfstoffwirksamkeit in diesem Kontext bei der Delta-Variante zu interpretieren sind, hat Professor Kim Mulholland von der „Strategic Advisory Group of Experts on Immunization“ (SAGE) bei der WHO an einem Beispiel aus Israel erläutert.

Für Aufsehen hat dort kürzlich die Schlagzeile zu einer Studie gesorgt: „Impfschutz nur noch 39 Prozent gegen Delta“. Hiermit war aber vor allem auch der Schutz vor leichten (symptomlosen) Infektionen gemeint. Gegen schwere Verläufe habe die dort verwendete BioNTech-Vakzine aber eine Wirksamkeit von 92 Prozent bei den unter 50-Jährigen und 85 Prozent bei den über 50-Jährigen gezeigt. Und: Seltene Impfdurchbrüche gingen kaum mit schwer verlaufender COVID einher. Betroffene Infizierte verbreiteten das Virus zudem viel weniger als ungeimpfte Infizierte.

Der Pädiater von der Universität Melbourne hob hervor, dass unbedingt zwei Dosen für den Impfschutz gebraucht würden. Nach Studiendaten mit den Impfstoffen von BioNTech/Pfizer und AstraZeneca ließen sich nach der ersten Impfung nur etwa bei 33 Prozent der Impflinge neutralisierende Antikörper nachweisen, erst nach der zweiten Dosis sind es über 90 Prozent.

Dass in Israel die Zahl der Erkrankungen in den vergangenen Wochen wieder angeschwollen ist, erklärt Mullholland vor allem mit Sorglosigkeit in der Bevölkerung und nachlassenden Schutzmaßnahmen.

Impfdurchbrüche nehmen zu

Allerdings: Auch die Antikörpertiter gehen in den Monaten nach kompletter Impfung schnell wieder zurück. Dies erklärt auch, dass es inzwischen vermehrt Impfdurchbrüche gerade in Israel und den USA, wo man schon vor acht Monaten in großen Teilen der Bevölkerung mit dem Impfen begonnen hatte, gibt. Mit einer dritten Dosis eines mRNA-Impfstoffs ließen sich die Antikörpertiter zum Beispiel nach Studiendaten auf die vier- bis sechsfache Menge im Vergleich zur Situation nach zweiter Impfdosis anheben. Israel will daher noch vor dem Winter allen Menschen über zwölf Jahren die Auffrischimpfung anbieten.

Wenn die verbleibenden 10 bis 15 Prozent ungeimpfter Risikopersonen in kurzer Zeit krank werden, ist eine große Belastung des Gesundheitssystems absehbar.

Professor Neil Ferguson, Imperial College in London

Langfristig werden solche Booster nötig werden, da waren sich die Wissenschaftler einig. Doch in der aktuellen Situation hält es der Epidemiologe Professor Neil Ferguson vom Imperial College in London für wichtiger, sich bei den Boostern auf Hochrisikopatienten und stark gefährdetes medizinisches Personal zu beschränken. Die Impfanstrengungen sollten überwiegend auf Ungeimpfte gerichtet werden. Diese werden im Vergleich schwerer krank und sind viel stärker für die Verbreitung von SARS-CoV-2 verantwortlich.

Nach Angaben des Epidemiologen sind in Großbritannien bisher 85 Prozent der Risikopersonen komplett geimpft. „Aber wenn die restlichen 10 bis 15 Prozent in kurzer Zeit krank werden, ist trotzdem eine große Belastung des Gesundheitssystems absehbar“, warnte Ferguson. Er erwartet in Großbritannien im Herbst und Winter eine starke Zunahme der Erkrankungszahlen, vor allem auch, wenn dort ab nächster Woche die Schulen wieder geöffnet sind.

Schutz für Entwicklungsländer

Auffrischimpfungen in reichen Ländern sorgen zudem momentan dafür, dass in armen Ländern weniger Impfstoff zur Verfügung steht, räumte Professor Helen Petousis-Harris von der University of Auckland ein. Und: „Bei einem Unglück ist es fatal, wenn sich ein Mensch mit Rettungsweste eine weitere Weste sichert, die er gar nicht braucht und diese damit anderen Menschen verwehrt.“

Die Impfexpertin betonte: Global gesehen lasse sich die Pandemie wirksamer bekämpfen, wenn mehr Menschen in Entwicklungsländern geschützt werden. Und ihr Kollege Mulholland warnte davor, die in vielen Ländern Afrikas relativ niedrigen Infektionszahlen nur mit dem hohen Anteil junger Menschen in den Bevölkerungen zu erklären. Bisher seien Erkrankungen auf dem Kontinent überwiegend in den Städten aufgetreten. Vier Fünftel der Menschen lebten dort aber auf dem Land. Ähnlich wie im Frühjahr in Indien mit der plötzlich auftretenden Delta-Variante könne dort bei den vielen Ungeschützten eine Katastrophe drohen.

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Aber lässt sich in einem Land durch Massenimpfungen in naher Zukunft tatsächlich eine Herdenimmunität erreichen und damit die Pandemie kontrollieren? Mullholland ist skeptisch, dass das zum Beispiel in Israel trotz weit fortgeschrittener Impfquoten in der Bevölkerung allein mit Impfungen möglich sein wird. Andere Maßnahmen gegen Infektionen seien weiter wichtig.

Keine gute Langzeitstrategie gegen die Pandemie sei die Abschottung, wie sie etwa in Taiwan oder Neuseeland praktiziert wird, so Mullholland. Niedrige Impfraten in der Bevölkerung und kaum Kontakt mit dem Virus hätten jetzt eine gefährliche Situation entstehen lassen.

Kombination Krankheit und Impfen

Sehr erfreulich und interessant ist für den Pädiater hingegen die Entwicklung in Indien. Dort waren im Frühjahr bekanntlich die Fallzahlen stark durch die hochinfektiöse Delta-Variante gestiegen, und das Gesundheitssystem war in einigen Regionen sogar kollabiert.

Die Infektionswelle ist aber inzwischen abgeebbt und bei der Mehrheit der Bevölkerung gibt es nur noch wenige schwere Erkrankungen und Todesfälle. Und das, obwohl der Anteil Geimpfter in der indischen Bevölkerung weiterhin relativ gering ist. Nach Studiendaten gebe es dort aber regional bei 70 bis 80 Prozent der Menschen Zeichen für eine durchgemachte Infektion. Vielleicht sei für eine Herdenimmunität eine Kombination von natürlichen Infekten und Impfungen nötig. Nationale Immunisierungskampagnen sollten dies möglicherweise berücksichtigen.

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