70 Jahre Kriegsende

Internisten und die Bürde der Nazizeit

70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft arbeitet die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin ihre eigene Geschichte in der NS-Zeit auf - radikal und ohne Tabus.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Studenten in Uniform: Der DGIM-Vorsitzende Professor Hans Eppinger bei einer Lehrveranstaltung.

Studenten in Uniform: Der DGIM-Vorsitzende Professor Hans Eppinger bei einer Lehrveranstaltung.

© Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv

MANNHEIM. Als alles vorbei war, der Krieg verloren, Deutschland von der Herrschaft der Nazis befreit, da erhielt Professor Hans Eppinger eine Vorladung zum Nürnberger Ärzteprozess.

Er sollte sich mitverantworten für perfide Meerwasserversuche mit Häftlingen, die sein Assistent Wilhelm Beiglböck im Konzentrationslager Dachau gemacht hatte. Eppinger fuhr nicht nach Nürnberg. Er nahm sich im September 1946 das Leben.

1879 als Sohn eines Pathologen geboren, war Eppinger in der Nazi-Zeit Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Seine Lebensgeschichte, sein Selbstverständnis als Arzt und seine Beziehung zum NS-Regime werden aufgearbeitet in einer historischen Untersuchung, die die DGIM beim Internistenkongress in Mannheim vorgestellt hat.

Seit 2002 haben Professor Hans-Georg Hofer von der Uni Münster und Privatdozent Ralf Forsbach vom Medizinhistorischen Institut Bonn, systematisch die Geschichte der DGIM in der Zeit des Nationalsozialismus unter die Lupe genommen.

Eppinger, Mitglied der NSDAP ab 1937, der in der Untersuchung als "schwieriger Charakter" dargestellt wird ("er öffnete die Arteria radialis eines Patienten ohne medizinischen Grund", "er stahl die Katze einer Oberschwester für einen Tierversuch"), steht beispielhaft für Menschen, die im Kontext ihrer DGIM-Mitgliedschaft im Nachhinein auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft werden.

Täter, Mitläufer und Opfer

Internisten auf der Flucht vor den Nazis

Walter Griesbach, Internist in Hamburg, wird 1934 die Lehrerlaubnis entzogen. Nach Entzug der Approbation 1938 arbeitet er als „jüdischer Krankenbehandler“. Er wird zur Emigration gedrängt, flieht mit Familie nach Neuseeland, erhält dort keine Zulassung als Arzt, widmet sich ausschließlich Forschung und Lehre.

Erwin Jacobsthal, Oberarzt mit jüdischen Wurzeln am Allgemeinen Krankenhaus Hamburg, wird die Lehrbefugnis am 31. Juli 1933 entzogen. Die NS-Zeitung „Hamburger Tagblatt“ nennt seinen Namen im Artikel „Es wird gesäubert!“ 1933 wandert Jacobsthal nach Guatemala aus und wird dort Leiter eines Kliniklabors

Es geht dabei nicht nur um Täter und um mehr oder weniger angepasste Mitläufer. Es geht auch um Ärzte, die konsequent jede Anpassung an die Wertewelt der Nazis verweigerten, schlichtweg Opfer waren und nicht selten Deutschland verlassen mussten.

Manchen gelang es, im Ausland wieder Fuß zu fassen, andere starben verbittert, weil sie die dramatischen Ereignisse der Flucht und Ausgrenzung nie verarbeiten konnten.

Konsequent haben die beiden Historiker Geschichte aufgearbeitet und dabei auch Medizinverbrechen nicht ausgeklammert, an denen Ärzte aus den Reihen der Fachgesellschaft beteiligt waren.

Kurt Plötner etwa, DGIM-Mitglied und zuletzt SS-Sturmbannführer, infizierte als Assistenzarzt im KZ Dachau Gefangene mit Malaria. Weil eine heilende Wirkung erwartet wurde, steigerte man künstlich das Fieber der Häftlinge. Das endete für mehrere Versuchsopfer mit dem Tod.

Das DGIM-Ausschussmitglied Siegfried Handloser, Chef des Sanitätswesens der Wehrmacht, wurde zehn Jahre nach der Aufnahme in die DGIM im Nürnberger Ärzteprozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt.

Handloser wurde zum Verantwortlichen für Medizinverbrechen im Bereich von Wehrmacht und Waffen-SS schlechthin, er war umfassend über Humanexperimente an KZ-Insassen informiert, ohne je zu intervenieren.

Neben Reichsärzteführer Gerhard Wagner gilt Handloser als einflussreichster Arzt des NS-Apparats, der zugleich auch einem Gremium der DGIM angehörte.

Der heutige DGIM-Generalsekretär Professor Ulrich R. Fölsch aus Kiel bezeichnete die in Mannheim vorgelegte Untersuchung als einen "wichtigen und notwendigen Schritt für die Fachgesellschaft.

Die geschichtliche Aufarbeitung erinnert nicht nur an Geschehenes, sie schärft auch den Blick auf die Gegenwart und ruft ins Bewusstsein, wozu Menschen in der Lage sind", sagte er.

Die Arbeit zeigt, dass nach dem Krieg manche Ärzte aus den Reihen der DGIM wieder weitgehend unbehelligt praktizieren konnten, obwohl sie sich in der NS-Zeit schuldig gemacht hatten.

Deutlich wird aber auch, das es mit Blick auf die nachträgliche Bewertung eines Lebenswerkes auch in der NS-Zeit ein "nur gut"und "nur schlecht" nicht gibt.

Die DGIM entschloss sich nach einer ersten Analyse der Recherchen, die von 1996 bis 2010 verliehene Gustav von Bergmann Medaille 2013 durch die Leopold Lichtwitz Medaille zu ersetzen.

"Gustav von Bergmann war zwar ein herausragender Arzt", sagt Fölsch, "aber als Prodekan an der Berliner Charité 1933 setzte er diskussionslos in der Fakultät um, dass 1933 alle Juden entlassen wurden."

Er erschien als nüchterner Vollstrecker des NS-Unrechts, machte sich allerdings später, wie die Autoren der Studie klarstellen, "nicht zum blinden Erfüllungsgehilfen der NSDAP."

Dass die höchste DGIM-Auszeichnung jetzt den Namen von Leopold Lichtwitz trägt, ist nach den Ergebnissen der Untersuchung keineswegs überraschend.

Hitler wird Reichskanzler

Lichtwitz, renommierter Stoffwechselforscher und Leiter der Inneren Abteilung des Virchow-Krankenhauses in Berlin, war 1932 mit der Leitung des Internistenkongresses ein Jahr später betraut worden. Doch im Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler, und danach überschlugen sich die Ereignisse.

"Sehr schnell hielt man es in der DGIM für inopportun, einen von den neuen, antisemitischen Machthabern als Juden klassifizierten Arzt mit dieser Aufgabe betraut zu lassen", heißt es im Buch zur Ausstellung. Lichtwitz wurde schlicht und ergreifend von seinen DGIM-Kollegen aufs Abstellgleis gestellt.

Er verließ notgedrungen Deutschland, ging später in die USA, bekam eine leitende Position in einem New Yorker Krankenhaus und wurde Professor an der Columbia University. Weiter recherchierte Fakten der Historiker lassen allerdings erhebliche Zweifel, ob sein Leben dort wirklich glücklich verlief.

Die wissenschaftliche Arbeit der DGIM ist nicht beendet. Für 2018 plant die Fachgesellschaft eine umfangreiche Monographie zum brisanten Thema Vergangenheitsbewältigung.

Warum aber kommt diese Aufarbeitung erst jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, zu einem Zeitpunkt also, an dem praktisch alle, die in der Nazizeit in irgendeiner Weise Verantwortung trugen, längst gestorben sind? Beim Kongress in Mannheim stellten sich manche Besucher der Ausstellung diese Frage, und sie scheint nicht ganz unberechtigt.

Eines wird man der DGIM allerdings nicht länger vorwerfen können: Dass sie fatales Fehlverhalten von nicht wenigen ihrer damaligen Mitglieder in einer schlimmen Phase deutscher Geschichte immer noch unter den Tisch kehren würde.

Lesen Sie dazu auch: Internistenkongress 1936: "Staatsbürgerpflicht geht vor Berufspflicht!"

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