EvidenzUpdate-Podcast
Ärztemangel oder nur Fehlverteilung? Über ein hausgemachtes Problem
Hat die Republik zu wenig Ärztinnen und Ärzte, oder sind sie einfach nur falsch verteilt? Und brauchen wir wirklich mehr Studienplätze? In diesem EvidenzUpdate schauen wir uns Analysen zu diesen Kontroversen etwas genauer an.
Veröffentlicht:Im internationalen Vergleich gibt es nur wenige Länder, die pro Kopf Einwohner so viele Ärztinnen und Ärzte haben, wie die Bundesrepublik. Dennoch erleben wir heute schon einen Arztzeitmangel, in Praxen und Klinikabteilungen täglich ganz konkret. Ob der demografisch bedingt zunehmenden Morbidität und erwartbaren ärztlichen Ruhestandswelle dürfte sich die Situation weiter verschlechtern. In der Politik – und nicht nur dort – werden mehr Studienplätze für die Humanmedizin als eine Antwort darauf genannt: konkret plus 5.000.
Nur ist das die Lösung? Oder ist die hiesige Situation nicht auch Folge von Fehlverteilungen? Wir schauen in einige Analysen zu diesen Befunden und überlegen, was Lösungsansätze wären. Cliffhanger: Sie dürften neue Kontroversen nach sich ziehen. (Dauer: 25:40 Minuten)
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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com
Shownotes
- DEGAM-Kongresse kompakt. Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 10 Oct 2024).
- Nößler D. Ärztemangel? Wir haben mal nachgerechnet. Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 10 Oct 2024).
- Mitglied werden - DEGAM. 2021. www.degam.de (accessed 10 Oct 2024).
- Lipovsek J, Schulz M, Hering R, et al. Bedarfsprojektion für Medizinstudienplätze in Deutschland – Aktualisierung 2024. Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Published Online First: 2024. doi:10.20364/FB3-24.01
- Kocalevent RD, Böttcher V, Boczor S, et al. Reale Dauer der fachärztlichen Weiterbildung in Deutschland – Ergebnisse der KarMed-Studie zehn Jahre nach Approbation. Das Gesundheitswesen 2023;86:124–9. doi:10.1055/a-2107-4717
- Zich K, van den Bussche H, Nolting H-D. Untersuchung zur Förderung der Weiterbildung Allgemeinmedizin im internationalen Vergleich. IGES 2023. www.iges.com (accessed 10 Oct 2024).
- 58. DEGAM-Kongress: Hausärztliche Weiterbildung – nicht die Länge macht‘s, oder doch? Ärzte Zeitung. 2024. www.aerztezeitung.de (accessed 10 Oct 2024).
- Fachkräfte im Gesundheitswesen: Nachhaltiger Einsatz einer knappen Ressource. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege 2024. www.svr-gesundheit.de (accessed 10 Oct 2024).
- Hering R, Schulz M, Czihal T. Zukünftige relative Beanspruchung von Vertragsärzten – Eine Projektion nach Fachgruppen bis 2035. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) Published Online First: 10 August 2023. doi:10.20364/VA-23.07
Transkript
Nößler: Eins plus eins ist drei. Und damit ist die ärztliche Versorgung der Zukunft doch gesichert, oder etwa nicht? Über den Ärztemangel wird viel gesprochen, auch gestritten. Zeit, ihn zu ergründen. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode des EvidenzUpdate-Podcast. Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer!
Scherer: Moin, Herr Nößler.
Nößler: Das mit dem Stakkato können wir super, da haben wir ein ganzes Wochenende für geübt.
Scherer: Aber verschnupft klingen Sie, Sie Ärmster.
Nößler: Ich war auf einem DEGAM-Kongress.
Scherer: Das sagt schon alles.
Nößler: Sie sind aber ohne geblieben, oder?
Scherer: Ich bin ohne geblieben. Ja. Ich hatte es ein paar Wochen vorher.
Nößler: Bösartig könnte ich sagen: Bei mir ist von der DEGAM-Tagung der Schnupfen geblieben. Was ist bei Ihnen von der DEGAM-Tagung geblieben?
Scherer: Ein erschöpftes, aber auch ein bereicherndes und rundum positives Gefühl. Das war eine ganz tolle Veranstaltung. Würzburg hat ein prima Job gemacht. Die zwei Kongresspräsidentinnen Anne Simmenroth und Ildikó Gágyor mit ihrem gesamten Team, es waren circa tausend überwiegend junge Leute da. Das war eine prima Sache, das hat mir richtig Spaß gemacht.
Nößler: Besucher:innen-Rekord, habe ich gehört.
Scherer: Ja, es war auf jeden Fall ein Kongress der Rekorde mit vielen guten Veranstaltungen, mit guten Key Lectures, mit dem leeren Sprechzimmer, mit Dr. Josef Schuster, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden.
Nößler: Der mit dreifachem Personenschutz kommen musste.
Scherer: Absolut. Ja. Da habe ich mich auch zu geäußert, dass das traurigerweise nötig ist in Deutschland. Aber insgesamt gute Diskussion, auch um das Gesunde-Herz-Gesetz. Und eigentlich schließen wir da ja heute an. Wir hatten in der Eröffnungsveranstaltung zum Kongress auch das Thema Weiterbildung. Das gesamte Kongressmotto stand ja unter dem Siegel des Nachwuchses. Nachwuchs für Versorgung und Forschung begeistern. Und dazu passt eigentlich auch unser heutiger Podcast. Denn eine Key Message kann man schon mal vorwegnehmen. Das Thema Ärzte-/Ärztinnenmangel ist ein komplexes. Das ganze Thema Nachwuchsmangel ist komplex, weil es auch damit zusammenhängt, wie wir Bedarf definieren und wie wir personelle Ressourcen sinnvoll einsetzen. Damit sind wir eigentlich ganz tief drin in komplexen Systemfragen.
Nößler: Jetzt könnte man als Botschaft aus Würzburg mitnehmen, wenn man da so durch die heiligen Hallen schlawenzelt ist, ich erinnere mich auch an das mehr als volle Audimax bei der Eröffnungsveranstaltung. Sie haben es gesagt, wie jung da alles war. Wie viele junge Menschen da unterwegs sind. Wenn man dort über den Kongress geht, hat man nicht das Gefühl, dass der ärztliche Stand Nachwuchsmangelproblem hat.
Scherer: Sie wissen auch, dass da viele dabei sind, die andere Sachen studiert haben, die Soziologie, Psychologie studiert haben, Gesundheitswissenschaften. Und das sind natürlich genau die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die unsere Institute am Laufen halten. Und das habe ich auch betont auf dem Kongress: Unsere Stärke liegt in der Vielfalt und der Interdisziplinarität und der Interprofessionalität.
Nößler: Das war der Werbeblock, Mitglied in der DEGAM zu werden. Vielen Dank an dieser Stelle, Herr Scherer. Wo machen wir den Link zum Mitgliedsantrag hin?
Scherer: In die Shownotes.
Nößler: Perfekt. Kommen wir zum Thema Fachkräftemangel. Das wollen wir heute ein bisschen beleuchten und ein bisschen schauen, wie wir die Evidenz mehr oder weniger da zu besprechen. Also eigentlich geht es um die Empirie. Und wenn man jetzt mal sich anschaut, der erste Zugang zu dem Thema wäre die Statistik, die jährlich veröffentlicht wird von der Bundesärztekammer, liebevoll Ärztestatistik genannt. Wenn man da reinschaut, steht dort, dass über 400.000 ärztliche Personen berufstätig sind als solche. Das ist im Pro-Kopf-Verhältnis zu den Menschen, die in diesem Land leben und versorgt werden wollen, ziemlich rekordverdächtig international. Wo sehen wir da einen Mangel und vor allem wo erwarten wir denn da einen Mangel?
Scherer: Erst mal muss man sagen, dass es da unterschiedliche Rechnungen und unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt, unterschiedliche Quellen. Und ich darf jetzt in diesem Zusammenhang einmal die Ärzte Zeitung loben.
Nößler: Autsch.
Scherer: Ich weiß nicht, wie oft wir die Ärzte Zeitung im EvidenzUpdate als Quelle hatten.
Nößler: Ich glaube, das ist fast Premiere.
Scherer: Aber heute können wir das mal machen. Und die dürfen Sie sogar dann wohin setzen?
Nößler: In die Shownotes etwa?
Scherer: Richtig. Wissen Sie denn auch, welche Ausgabe ich meine? Ich gebe Ihnen einen Tipp: Die Ausgabe heißt „Ärztemangel? Wir haben mal nachgerechnet“. Wir, Herr Nößler, das sind ...?
Nößler: Sie?
Scherer: Nein! Das sind Sie und Ihr Team.
Nößler: Also ich bin mir relativ sicher, dass es die Ausgabe war von der Woche vor Christi Himmelfahrt. Das muss im Mai gewesen sein.
Scherer: Korrekt. Im Mai. Und da haben Sie ein ganz schönes Stück verfasst. Und eine der Key Messages ist: Deutschland liegt im europäischen Vergleich gar nicht so schlecht, nämlich auf Platz 5. Wenn man die Zahl der Ärztinnen und Ärzte auf 1.000 Einwohner betrachtet. Griechenland führt mit 6,3 Ärzten pro 1.000 Einwohner, dann Portugal, dann Österreich, dann Norwegen. Und auf Platz 5 Deutschland mit 4,6 Ärzten pro 1.000 Einwohner, natürlich zusammengenommen der ambulante und er stationäre Bereich. Aber – und das fand ich gut – Sie haben auch ein Disclaimer reingesetzt, zwei Disclaimer sogar. Der eine Disclaimer richtet sich an die Betrachterin und den Betrachter mit dem Hinweis: Traue keiner Statistik, die du selbst gefälscht hast. Das heißt, alles ist fehlbar, selbst die Ärzte Zeitung.
Nößler: Aber so was von.
Scherer: Und ein Disclaimer, ein Aufruf an die Kammern, die reden Sie richtig an mit: „Liebe Kammern, liebe BÄK, eure Ärztestatistiken sind super, aber wir bräuchten doch mal absolute Zahlen über die Zu- und Abgänge.“ Und da fing es schon an, diese schönen Betrachtungen sind auf relativen Zahlen erst mal aufgebaut.
Nößler: Genau. Das wird im Prinzip jedes Jahr vielleicht für diejenigen, die die BÄK-Statistiken nicht ganz genau kennen: Es werden immer absolute Zahlen, also keine Veränderungswerte, keine Deltas genannt, sondern es werden absolute Zahlen pro Region, pro Fachgebiet, pro Altersgruppe dargestellt. Und jetzt kann man natürlich hergehen und kann sich die Statistiken der ganzen Jahre nehmen. So haben wir es damals gemacht in dieser Ausgabe und haben über die Jahre geschaut, wo sind da Deltas. Und das ist natürlich schwer. Wobei da gibt es auch nichterklärbare Abweichungen. Es gibt zum Beispiel auch, was man bei so einer Ärztestatistik nicht vergessen darf, Leute – es sind einige wenige – die in zwei Kammern gezählt werden. Das aber vielleicht nur noch zur Ergänzung des Disclaimers. Herr Scherer, Sie haben schon gesagt, ja, international sind wir ganz gut da. Ich lege noch einen oben drauf: In Hamburg haben wir die höchste Ärztedichte pro Kopf, Einwohner, in Berlin die zweithöchste. Und selbst in Berlin haben wir vor zwei Jahren die Situation gehabt, dass über einhundert Hausärztesitze nicht besetzt werden konnten, im Osten der Stadt. Also haben wir doch kein absolutes Mangelproblem, sondern ein Allokationsthema.
Scherer: Das ist genau das, was wir immer wieder sagen, was die DEGAM immer wieder sagt und was zeigt, dass dieses ganze Nachwuchs- und Ärztemangelthema ein komplexes ist. Weil es damit zu tun hat, welche Art von Medizin wir machen und wo wir welche Art von Medizin machen. Da gibt es regionale Unterschiede. Da gibt es unterschiedliche regionale Bedarfe. Es gibt regionale Überangebote. Und insgesamt sind wir da mittendrin im Thema, wie wir unsere ärztlichen Ressourcen so effizient wie möglich einsetzen. Und damit schlagen wir – Sie wissen, ich rede sehr gerne darüber, müssen wir heute nicht in extense tun, wieder die Brücke zum Gesunden-Herz-Gesetz. Denn wir brauchen im Grunde genommen Maßnahmen, die unser System effizienter machen. Wir erlauben uns viel falsche Medizin, die nicht gut ist und die ärztliche Zeit verbrennt, auch Geld verbrennt. Zwar geben sie in Ihrem Artikel aus dem Mai einen schönen Hoffnungsausblick und sagen: In 2033 werden wir wieder bei 400.000 Ärztinnen und Ärzte liegen. Aber wir können 500.000 haben, wir können 600.000 haben, wenn die nicht die richtige Medizin machen. Und das war auch eins meiner Statements, ich glaube in der Kongresseröffnung. Es gibt zu viele Patientinnen und Patienten, die keinen Hausarzt finden, zu viele Praxen, die überlastet sind und über den demografischen Wandel haben wir auch gesprochen in Würzburg. Damit sind wir eigentlich auch bei dem nächsten Evidenzstück zu diesem Thema, nämlich einem Bericht aus dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, dem Zi. Da gibt es nämlich eine aktualisierte Bedarfsprojektion zu Medizinstudienplätze.
Nößler: Richtig. Und die kommen, wenn ich es richtig sehe, Herr Scherer, mit viel Unsicherheiten behaftet, aber zu der Erkenntnis, dass in dieser Projektion bis – ich glaube, die gehen noch weiter, bis 2040 – es ein Saldo von Minus 50.000 Köpfen gibt.
Scherer: Ja. Also diese Projektion zeigt, dass den ausscheidenden Ärztinnen und Ärzten weniger Absolvent:innen gegenüberstehen aus den Medizinstudiengängen. Und das ist so bis 2036 ungefähr der Fall. Danach verbessert sich laut Zi die Situation. Und das ist ja auch etwas, was Sie in Ihrem Artikel vom Mai dargestellt haben, es ist nicht alles so düster. Wir haben ja sehr viele Medizinstudierende, 10.000 ungefähr netto, oder 9.000, die jedes Jahr dazukommen. In diesem Papier vom ZI, das wir auch verlinken, wird auf die Studien und auf die Vorarbeiten von Rik van den Bussche et al. hingewiesen, der unter anderem gezeigt hat, dass es einfach zu lange dauert, bis diese Hochschulabsolventen dann in der Versorgung ankommen, durchschnittlich sieben bis acht, oft mehr Jahre.
Nößler: Jetzt haben Sie schon Rik van den Bussche erwähnt, Ihren Kollegen, der im letzten Jahr viel zu früh gegangen ist, Autor von vielen Arbeiten. Hinsichtlich Weiterbildung, Sie haben es schon angesprochen, kennt man die KarMed-Studie, die versucht hat, viele Aussagen über Weiterbildungsdauern zu bekommen, auch geschlechtsbezogen und bekannt auch, Anfang dieses Jahres publiziert, Gutachten vom IGES Institut, an dem er mitgearbeitet hat im Auftrag des GKV-Spitzenverbands, wo man Weiterbildung im europäischen Ländervergleich mal analysiert hat, zu versuchen. Und da gab es auch einige Pain Points, die man hier zulande in diesen beiden unter anderem aufgedeckt hat.
Scherer: Ja, so ist es. Also es ist – das haben Sie auch in Ihrem Artikel betont – immer wieder die Frage, welche Daten nimmt man her. Es ist ein großes Mosaik. Man muss unterschiedliche Datenquellen bemühen. Die KarMed-Studie ist eine große Primärdatenquelle, die Karriereverläufe in der Medizin zeigt. Aber wer ist schon in der Lage, den Versorgungsbedarf in den nächsten Jahrzehnten zu projizieren. Auch die Projektion des Zi beruhen auf Daten derer, die innerhalb der kassenärztlichen Versorgung sind. Das heißt, die vielen Patientinnen und Patienten, die multimorbide sind und einen Versorgungsbedarf haben und keinen Hausarzt finden, die schlagen sich darin nicht nieder. Und diese Versorgungsbedarfe, die ja auch bestehen, die sind schwer in eine solche Projektion zu integrieren. Fazit jedenfalls des Zi von 2022 bis 2036/2040 gibt es ein jährliches Defizit von rund 2.500 fehlenden ärztlichen Nachbesetzungen. Und der Ausblick ist der interessante. Das, was sie sagen, basierend auf den Daten von Rik van den Bussche ist, dass eine Erhöhung von Medizinstudienplätzen mit einem gewissen Time lack verbunden wäre und aufgrund der langen Weiterbildungszeiten, die jetzt dann relativ spät auch in der Versorgung ankommen.
Nößler: Mindestens 12 bis 15 Jahre.
Scherer: Ja. Deshalb, wenn man über schnelle Maßnahmen redet, um den Ärztinnen- und Ärztemangel oder sagen wir mal besser die Fehlverteilung nicht zu stark durchschlagen zu lassen auf die Versorgung, dann müssen wir effizienter werden, dann müssen wir solche unsinnigen Gesetze weglassen, die noch mehr Gesunde in die Arztpraxen schicken. Dann brauchen wir eine bedarfsgerechte Versorgung, dann müssen wir die ärztlichen Ressourcen bündeln und dahin konzentrieren auf diejenigen, die sie wirklich am dringendsten brauchen. Und wir müssen aufhören, uns den schädlichen Luxus von Überversorgung zu leisten.
Nößler: Wie hoch, würden Sie denn sagen – Sie haben ja auch ein ganz kleines Team, dass „in der Notaufnahme arbeitet“. Wir wissen ja, UKE, da haben wir so eine duale ZNA, die von der Allgemeinmedizin mitversorgt wird, wo es die ambulante Versorgung gibt. Wie hoch ist denn da die Bürokratielast bei Ihren Leuten, die da arbeiten?
Scherer: Das ist ein sehr schöner Begriff mit der Bürokratie. Der kommt auch im Zi-Bericht, in der Zi-Bedarfsprojektion vor. Das mit der Bürokratie ist natürlich unheimlich schwer zu quantifizieren. Wo fängt die Bürokratie an, wo hört die Dokumentation auf. Da ist auf jeden Fall Verbesserungspotenzial noch zu erheben. Man braucht doch immer noch relativ viel Zeit zum Dokumentieren. Ich glaube, in dem Moment, in dem KI-gestützte Verfahren, die es ja gibt, die vielfach auch schon angewendet werden, einem bei der Dokumentation und beim Schreibkram helfen, je mehr das der Fall ist, desto mehr Zeit wird man dann auch für die eigentliche Versorgung zur Verfügung haben. Also das ist auf jeden Fall ein wesentlicher Punkt: Schreibarbeit, Dokumentation. Und dann die Konzentration auf das Wesentliche.
Nößler: Der Marburger Bund geht sogar so weit, dass er sagt: Wir haben 30 Prozent der ärztlichen Arbeitszeit, die mit Papierkram irgendwie zu tun haben. Das ist jetzt erst mal nur eine Quantifizierung, noch keine Qualifizierung des Papierkrams. Und die haben mal vorgerechnet, dass man ohne Weiteres bis weit über 20.000 ärztliche Vorzeitäquivalente freibekäme, wenn man daran was änderte. Noch mal zurück: Auch die bvmd, von der man jetzt eigentlich sagen müsste, Herr Scherer, die sind die Interessen der Medizinstudierenden in Deutschland und die hätten vielleicht Interesse, dass es mehr von ihnen gibt. Nein, im Gegenteil, die sagen seit langer, langer Zeit: Nein, das brauchen wir nicht, wir brauchen nicht diese 5.000 mehr Studienplätze, die Karl Lauterbach versprochen hat, die er aber gar nicht bezahlen kann.
Scherer: Ja, das hat die bvmd schön gesagt. Das ist so richtig, dem stimmen wir zu. Aber es gibt noch etwas anderes, das der bvmd vielleicht nicht so gut gefällt, das wäre die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Steuerung der Weiterbildung. Das kollidiert dann mit der freien Berufswahl. Das kann ich gut verstehen. Das hören junge Leute nicht gerne, das hätte ich wahrscheinlich auch nicht gerne gehört. Das war auch ein Riesenthema beim Kongress, bei der Eröffnungsveranstaltung. Aber es gibt, um wieder zurück zum Artikel der Ärzte Zeitung zu kommen, aus dem Mai, eine sehr schöne Abbildung, die zeigt, dass sich doch die Kontingente innerhalb der einzelnen Fächer verschoben haben. Wissen Sie, welche Abbildung ich da meine?
Nößler: Ja, die ist, glaube ich, irgendwo rechts auf der Doppelseite, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, oder?
Scherer: Richtig. Da gibt es durchaus Fächer, die gewonnen haben seit 1995, die Chirurgie, die Anästhesie, die Orthopädie, die Innere Medizin, die Radiologie, die Urologie. Das sind bis auf die Innere Medizin alles operierende Fächer, die sehr stark gewonnen haben. Das passt natürlich zu diesen Überkapazitäten, die wir im OP-Bereich haben. Das passt dazu, dass wir Weltmeister sind bei Knie-TEPs, bei Hüft-TEPs, bei Wirbelsäulen-OPs, auch bei Krankenhaustagen im Übrigen. Und dann gibt es aber Fächer, wo sich die Verteilungen der Ärztinnen und Ärzte in den letzten 20 Jahren eher negativ entwickelt hat. Das sind besonders stark die Augenheilkunde, die HNO, die Frauenheilkunde. Also ein sehr wichtiges primärversorgendes Fach auch, die Neurologie und last not least dann auch die Allgemeinmedizin. Die Allgemeinmedizin mit minus 5 Prozent in den letzten 20 Jahren und das natürlich bei einem demografischen Wandel. Und das auch – das ist auch Teil ihrer Berechnungen – bei einer relativen Überalterung der Ärztinnen und Ärzte, 34,5 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte sind älter als 60 Jahre. Also da kommt dann doch noch was auf uns zu.
Nößler: Und bei den Hausärzt:innen ist der Anteil noch höher.
Scherer: Ja. Insofern macht es bei mir – das sage ich Ihnen ganz ehrlich – eine gewisse kognitive Dissonanz, wenn man auf der einen Seite die handfesten Fehlverteilungen haben zu Ungunsten der hausärztlichen Versorgung und auf der anderen Seite dann die freie Berufswahl im ärztlichen Bereich so hochgehalten wird, was ich einerseits gut nachvollziehen kann. Aber was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass dann von Zwang gesprochen wird. Das ist eine Polemik, man sollte es viel eher von einer bedarfsgerechten Steuerung, auch in der Weiterbildung sprechen. Denn das ist kein Spaß, die hausärztliche Versorgung sicherzustellen und aufrechtzuerhalten.
Nößler: Aber das, was Sie ansprechen, ist das Podium gewesen bei der Eröffnung. Und es gibt ja auch vom Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege, das letzte Jahresgutachten, im April vorgestellt, zum Thema Fachkräftemangel. Und darin sagt der Rat recht deutlich, dass sie dieses Mangelthema absolut nicht nachvollziehen können. Dass sie auch diesen Überalterungseffekt, Stichwort Babyboomer, was ja im Niedergelassenen eigentlich ein Seehofer-Bauch ist, wenn man genau ist, auch nur bedingt nachvollziehen kann. Und die haben tatsächlich empfohlen, eine Art Planungsinstrument für Gesundheitsberufe bis hin zu der Frage, Fachgebiete zu quotieren. Und bei der Podiumsdiskussion, die Sie ansprechen, wurde auch verwiesen auf Frankreich beispielsweise, wo es solche Instrumente gibt. Allerdings wurden da auch schon Schattenseiten skizziert. Und wenn ich mich recht erinnere, haben Sie gesagt, Herr Scherer, es muss ja keine harte Quote sein, es kann ja auch andere Möglichkeiten geben.
Scherer: Richtig. Wichtig ist, dass man den Begriff der bedarfsgerechten Steuerung in der Weiterbildung nicht verteufelt. Also im Grunde genommen kann man das Thema wie folgt zu einem Fazit bringen, wenn das für Sie in Ordnung ist, Herr Nößler. Wir haben auf der einen Seite eine demografische Entwicklung, die extrem herausfordernd ist, insbesondere für den ambulanten Bereich, eigentlich für alle Bereiche innerhalb der Medizin. Wir haben eine bestimmte fachgruppenspezifische Variation, wir haben Fächer, die profitieren von der Verschiebung der Kapazitäten, andere Fächer, die profitieren eher nicht. Insbesondere sind es Fächer, die sich mit psychischen Erkrankungen befassen. Das ist, glaube ich, noch mal ein ganz wichtiger Punkt. Natürlich halten wir hier immer die Fahne der hausärztlichen Versorgung hoch. Das liegt in der Natur der Sache. Da habe ich persönlich ein Bias oder ein Interessenskonflikt. Aber uns ist natürlich auch an der bedarfsgerechten Versorgung von psychisch Erkrankten gelegen. Und da haben wir auch einen extremen Nachwuchsmangel zu beklagen. Wir haben vermehrt Renteneintritte bei einem insgesamt relativ hohen Anteil der über 60-Jährigen in der Ärzteschaft und natürlich eine gewisse regionale Heterogenität. Sie haben das schon angesprochen, Herr Nößler, die hohe fachärztliche Dichte in den Metropolen. Insgesamt, wenn wir die Situation schnell verbessern wollen, müssen wir auf eine effizientere Nutzung dieser ärztlichen Ressourcen hinauslaufen, und das sind eben genau diese Dinge, die wir angesprochen haben: Konzentration auf das Wesentliche, Vermeidung schädlicher Überversorgung, Vermeidung unnötiger Bürokratie und eine sinnvolle Verteilung nach Bedarf.
Nößler: Und jetzt könnte man nämlich noch weitergehen und das heben wir uns für eine andere Episode auf. Dass man über das Thema Demand nachdenkt, über das Thema Leistungsnachfrage, Leistungsinduktion, Vergütungsanreiz, ob stationär oder ambulant. Aber Herr Scherer, das können wir ja an anderer Stelle mal besprechen.
Scherer: Das können wir an anderer Stelle machen. Das hört sich fast ein bisschen an wie ein Cliffhanger. Aber bevor wir zum Cliffhanger kommen, müssten Sie eigentlich eine kleine Cliffhanger-Korrektur machen. Ich weiß nicht, haben Sie sich mal überlegt, wie viele Zuhörerinnen und Zuhörer sich unseren Cliffhanger anhören und dann merken, dass wir in der nächsten Folge doch was anderes machen als das, was wir angekündigt haben?
Nößler: Dafür müssten wir tatsächlich eine Befragungsstudie auflegen und tatsächlich eigentlich eine Kohorte aufbauen. Das haben wir tatsächlich nicht. Wir hatten über CKD gesprochen, nicht wahr?
Scherer: Eigentlich hatten wir angekündigt, in dieser Folge über Niereninsuffizienz sprechen zu wollen, zusammen mit Jean Chenot. Da müssen wir erst mal warten, bis die Leitlinie publiziert ist. Dann können wir das machen. Also diese Folge läuft uns nicht weg.
Nößler: Kein Podcast ohne Leitlinie. Okay. Das heißt, wir cliffhangern quasi ohne Zeitbezug noch mal die CKD erneut. Was wollen wir denn noch cliffhangern, Herr Scherer?
Scherer: Wie wäre es mit Lipoprotein a?
Nößler: Teste ich jeden Tag zweimal.
Scherer: Dann sollten wir darüber reden.
Nößler: Reden wir drüber. Gruß an alle da draußen. Bis bald! Tschüss!
Scherer: Gute Besserung Ihnen! Tschüss!