„EvidenzUpdate“-Podcast
Die Politik mit Evidenz beraten – wie geht das in der Krise?
Hinter irgendeiner Tür im Adventskalender hatte sich B.1.1.529 versteckt. Nun muss die Politik agieren, während die Wissenschaft die Variante erst versteht. Ein „EvidenzUpdate“ über Politikberatung.
Veröffentlicht:Omikron (B.1.1.529) macht sich breit und die Republik sucht den nächsten Wellenbrecher. Ist es die allgemeine COVID-19-Impfpflicht? Ist es die Kontaktbeschränkung an Weihnachten oder erst danach? Oder braucht es den nächsten veritablen Lockdown? Der neue Expertenrat der Bundesregierung jedenfalls erachtet „starke Kontaktreduktionen“ schnellstmöglich unumgänglich. Das Robert Koch-Institut (RKI) hatte sich Anfang der Woche in der aktualisierten Fassung der „ControlCOVID“-Strategie gar für „sofortige maximale Kontaktbeschränkungen“ ausgesprochen. Die kommen ab 28. Dezember.
Wissenschaft ergründet und beschreibt, Politik entscheidet. Doch wie kann evidenzbasierte Politikberatung in diesen Tagen überhaupt gelingen, wenn man wegen einer SARS-CoV-2-Variante mit einer Verdopplungszeit von zwei bis drei Tagen nicht einmal mit dem Lesen der Papers hinterherkommt? Ist Evidenz dann überhaupt noch gefragt, oder zählen doch nur Meinungen? Und wie sollten Expertenräte zusammengesetzt sein, wer sind überhaupt die richtigen „Experten“? Sollten nicht eher Institutionen statt Einzelpersonen sprechen? Last but not least: Wie gehen wir mit Interessenskonflikten um?
Diesen Fragen gehen in dieser Episode vom „EvidenzUpdate“-Podcast Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami und DEGAM-Präsident Martin Scherer nach. Disclaimer: Beide beraten in der Pandemie selbst die Politik, insbesondere den Hamburger Senat. (Dauer: 56:02 Minuten)
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Transkript
Nößler: Omikron steht nicht mehr nur vor der Tür, sondern ist in Europa angekommen. Sorgt bereits für neuerliche Lockdowns, auch bei uns in den ersten Ländern. Ein Déjàvu, könnte man meinen. Und auch der neue Expertenrat der Bundesregierung und auch das Robert-Koch-Institut empfehlen rasches Handeln, am besten noch vor Weihnachten. Doch wie kann, wie sollte eigentlich evidenzbasierte Politikberatung in solchen Zeiten funktionieren? Darüber reden wir heute. Damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode von Evidenz-Update-Podcast. Heute wieder in einer Doppelbesetzung. Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Ich grüße Sie, Herr Scherer, Moin!
Scherer: Hallo Herr Nößler!
Nößler: Und heute ist bei uns dabei?
Emami: Pedram Emami.
Nößler: Facharzt für Neurochirurgie und ebenfalls am UKE tätig, dort als Oberarzt. Vor allem aber ist er auch Präsident der Ärztekammer Hamburg. Und in dieser Funktion ist er natürlich auch im Vorstand der Bundesärztekammer. Herr Emami, schön, dass Sie dabei sind. Hallo!
Emami: Danke für die Einladung.
Nößler: Ja, und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Hause Springer Medizin. Die Herren, wir wollen jetzt gleich mal in medias res gehen mit dem Thema Evidenzbasierte Politikberatung. Bevor wir das aber tun können, müssen wir uns mit B.1.1.529 beschäftigen, das ist Omikron. Was mich zunächst einmal interessieren würde von Ihnen beiden, ob Sie diese Variant of Concern genauso umtreibt wie ganz viele, die meisten von uns. Ich meine, wir haben tatsächlich jetzt Katastrophenfälle: London hat einen Shutdown, die Niederlande sind im Shutdown, bei uns sieht es auch danach aus. Ich glaube, in Hamburg, bei Ihnen gibt es jetzt auch schon wieder Sperrstunden. Wie geht es Ihnen beiden damit?
Scherer: Die Relevanz der Pandemie für Deutschland, wir erinnern uns an das letzte Jahr, begann mit Ischgl, begann mit Bildern aus Bergamo. Seitdem sind wir es auch gewohnt, das Infektionsgeschehen im Ausland zu beobachten und dann ist es natürlich beunruhigend zu sehen, was da gerade um uns herum passiert.
Nößler: Und Herr Emami, wie geht es Ihnen damit?
Emami: Ich glaube, aus der Erfahrung der letzten zwei Jahre ist es für mich wichtig zu sagen, dass einerseits natürlich bedeutsam ist, zu schauen, was um uns herum passiert. Für mich ist es sehr wichtig, dass wir aber einen besonnenen Ton anschlagen bei dem, was wir überlegen, bei dem, was wir kommunizieren. Das bedeutet aber, natürlich müssen wir vorsichtig sein, weil wir nicht viel wissen, was diese neue Variante mit sich bringt. Auf der anderen Seite gebietet es aber genau dieselbe Argumentation, nämlich dass wir nicht viel wissen, gerade was den klinischen Verlauf betrifft, dass wir die Menschen auch nicht unnötig verunsichern und sie nur anmahnen, vorsichtig zu sein.
Nößler: Herr Emami, da haben Sie jetzt schon genau das Thema aufgemacht, in das wir dann jetzt gleich noch mal in die Tiefe gehen. Vielleicht noch mal nachgehakt dabei: Wir haben ja nun erlebt, das RKI – wir kennen alle vom Robert-Koch-Institut die ControlCOVID-Strategie. Die haben jetzt am 21. Dezember ein neues Papier vorgelegt. Und da haben sie schon sehr bedrohliche Töne angeschlagen und haben gesagt: Vor Weihnachten alles runterfahren, maximale Kontaktbeschränkung, haben die Autoren das genannt. Ist das zu bedrohlich in Ihren Ohren?
Emami: Ich glaube, genau da sind wir in der Beschreibung der Problemlage. Das eine ist, wie die Wissenschaft das einschätzt und die Wissenschaft das sieht. Und die Zweite ist, was für Maßnahmen daraus abgeleitet werden können und wie das an die Öffentlichkeit kommuniziert wird. Und das ist die Schwierigkeit. Ich kann Ihnen nur ein kleines Beispiel nennen, was recht aktuell ist aus diesen Tagen, aus der Twitterosphäre sozusagen, ist eine Diskussion entbrannt um die Terminologie, was ist denn eigentlich ein schwerer Verlauf bei COVID-19 und was ist ein leichter bis mittlerer Verlauf. Und genau das im Hinblick auf die Frage, wie die Pathogenität von Omikron zu bewerten ist. Und daran sehen wir schon, dass die Terminologie, die wir Fachleute im Diskurs miteinander verwenden, in der Öffentlichkeit natürlich ganz anders aufgenommen wird. Und in einer Zeit, in der wir eine große mediale Zugänglichkeit haben zu den Informationen, sorgt das natürlich auch für eine breite Diskussion im Laienraum und damit verbunden auch Schlussfolgerungen, die vielleicht weder in die eine noch in die andere Richtung richtig sind.
Scherer: Wenn ich da mal einhaken darf: Einige Studien, auch in der Antikörpertherapie haben als Endpunkt die Krankenhauseinweisung oder die Krankenhausaufnahme definiert. Das würde sich ja eigentlich als Kriterium für einen schweren Verlauf anbieten. Krankenhauspflichtigkeit aufgrund von COVID-19.
Emami: Das würden wir beide als Kliniker womöglich so sehen. Es ist aber in der Tat so, dass auch sehr renommierte, sehr angenehme Wissenschaftler tatsächlich auch die Frage aufwerfen, ob nicht Fieber und Husten bereits als schwerer Verlauf oder mittelschwerer Verlauf zu sehen sind, wenn der subjektive Eindruck der Betroffenen ein solcher ist. Selbst wenn sie nicht im Krankenhaus aufgenommen werden, selbst wenn sie aus der medizinisch-ärztlichen Sicht keinen Grund hätten, im Krankenhaus aufgenommen zu werden. Und genau das spiegelt auch die Schwierigkeit in der öffentlichen Kommunikation aus meiner Sicht wider.
Nößler: Das ist ja schon fast sehr hausärztliches Thema, das Sie da jetzt gerade aufmachen. Also Stichwort Atemwegserkrankungen, respiratorische Atemwegsinfektionen. Herr Scherer, wie würden Sie denn bei einer Non-COVID-ARE, also im typischen hausärztlichen Setting, einen schweren Verlauf kennzeichnen? Ist es die Hospitalisierung?
Scherer: Danke für die Frage, Herr Nößler. Ich sehe gerade das Einweisungsformular vor meinem inneren Auge. Und da steht drauf – rosafarben ist es – Einweisung nur bei medizinischer Notwendigkeit zulässig. Und da sind wir schon gleich in dieser definitorischen Grauzone. Medizinisch erforderlich ist alles das, was man ambulant nicht bewältigen kann. Der ist so krank der Patient oder die Patientin, dass schwere Komplikationen zu befürchten sind. Dass er Probleme bekommt mit der Atmung, mit dem Kreislauf, dass er oder sie so schwach auf den Beinen ist, dass das zu Hause überhaupt nicht mehr funktioniert. Es handelt sich hier wirklich um schwerkranke Menschen. Wenn wir anfangen, solche Grundlagen in der Medizin jetzt noch mal neu aufzurollen, ja, dann wird es wirklich schwierig.
Nößler: Aber noch einmal nachgefragt, mit Blick auf die klassischen ARE, also auch das, was wir kennen, saisonal die Influenza, einen schweren Verlauf würden Sie bei der Influenza als hospitalisierten Verlauf klassifizieren, oder?
Scherer: Das würde ich schon so sehen. Das ist ein Verlauf, der ambulant einfach nicht zu bewältigen wäre. Dass der Monitoring-Aufwand zu Hause zu hoch ist, dass der Allgemeinzustand zu stark herabgesetzt ist und dass die Wahrscheinlichkeit, dass Komplikationen eintreten, im ambulant-hausärztlichen Setting einfach zu hoch ist und deshalb nicht zu verantworten ist.
Nößler: Verstehe. Herr Emami hat jetzt ein wichtiges Stichwort gegeben, nämlich dass das natürlich auch in der Publikumssphäre alles so diskutiert wird. Ich würde diesen Aspekt kurz zurückstellen und schauen, dass wir am Ende des Gesprächs noch mal auf das Thema einkommen, wie wir auch in der gesellschaftlichen, aber auch fachlichen und fachlich-gesellschaftlichen Diskussion noch einmal überlegen müssen, wie das gut funktionieren kann. Ich möchte noch mal auf das Eingangsthema zurückkommen, nämlich Omikron. Wir wissen alle, die neue Bundesregierung hat sich einen Expertenrat gegeben, besteht aus 19 Personen. Die allermeisten sind uns davon geläufig. Ich will mal aus dem Statement, das der Expertenrat am vergangenen Sonntag herausgegeben hat, zitieren – ich mache es ganz kurz: „Omikron zeichnet sich durch eine stark gesteigerte Übertragbarkeit unter Laufen eines bestehenden Immunschutzes aus. Dies bedeutet, dass die neue Variante mehrere ungünstige Eigenschaften vereint. Sie infiziert in kürzester Zeit deutlich mehr Menschen und bezieht auch Genesene und Geimpfte stärker in das Infektionsgeschehen mit ein. In Dänemark, Norwegen, Niederlanden und Großbritannien wird bereits eine nie dagewesene Verbreitungsgeschwindigkeit mit Omikron-Verdopplungszeiten von etwa zwei bis drei Tagen beobachtet.“ Noch mal mit Blick, Herr Emami, auf die Frage, wie kommunizieren wir diese Dinge. Das ist jetzt ein wissenschaftliches Politberatungspapier gewesen, wenn man so will. Aber es klingt doch sehr bedrohlich. Ist das das richtige Signal in dieser Zeit?
Emami: Also das, was mich sehr überrascht hat, dass dieses Papier zuerst auch das Tageslicht erblickt hat auf Twitter. Und zwar über Gremiumsmitglieder selbst veröffentlicht. Noch zu einem Zeitpunkt, in dem die Medien nur partiell daraus zitiert haben. Man kann es natürlich als Zeichen der Transparenz sehen, das wäre auch sozusagen legitim, wenn das eine Überlegung ist. Die Frage der Zielführung ist eine, die ich dabei immer wieder stelle. Ich glaube, wir verwechseln im Moment alle so ein bisschen unsere Rollen. Alles, was Sie vorgelesen haben, ist völlig richtig. Nichts davon ist zu beanstanden. Die Frage, wie man das aber in der Bewertung aufnimmt als Laie, der zuhört und das liest, das ist eine völlig andere Geschichte. Zum Beispiel reden wir in diesem Absatz, den Sie zitiert haben, ausschließlich über die Frage der Verbreitung dieser neuen Variante. Das, worüber wir nicht sprechen oder ehrlicherweise auch nicht sehr gut drüber sprechen können, weil nicht ausreichend Daten vorliegen, ist die Frage: Wie verhält sich das mit der Pathogenität, also mit der krankmachenden Wirkung dieses Virus eigentlich. Das ist etwas, was in dem, was Sie zitiert haben, nicht abgehandelt ist. Und was natürlich eine immense Bedeutung hat. Denn wenn Sie jetzt in der Rückschau einmal darüber nachdenken, wie die Delta-Variante aufgekommen ist seinerzeit – auch da war es ja so, dass es eine Variante gewesen ist, die gegenüber den Vorgängern eine deutlich höhere Geschwindigkeit an Ausbreitung aufgewiesen hat. Aber das ist natürlich eine sehr wichtige Information, die losgelöst von anderen klinischen und epidemiologischen Informationen, wie zum Beispiel der Impfstatus, die Wirksamkeit der Impfungen gegenüber dieser Variante und so weiter und so fort, losgelöst nicht zu bewerten ist. Und das sind Dinge, die, würde ich sagen, mit Verlaub, das kann ein Nichtfachmann oder eine Nichtfachfrau so auch nicht einordnen. Und das ist meine grundlegende Kritik gegenüber dieser Art vermeintlicher Transparenz.
Nößler: Das heißt, wenn ich Sie da richtig verstehe, würden Sie sagen, das gehört in dieser Form gar nicht direkt veröffentlicht für das Publikum?
Emami: Sagen wir es so, ich bin ja Kliniker, ich bin Chirurg, ich kläre meine Patienten auch sehr hart auf über Dinge, die auf ihn oder auf sie zukommen können. Das ist mein Tagesgeschäft seit 20 Jahren. Aber das, was auch in das ärztliche Aufklärungsgespräch hineingehört, ist auch eine Gewichtung und eine Bewertung der Requisiten, die auf die Personen zukommen. Wenn ich immer alles einfach gerade runterlese, was auf so einem Aufklärungsbogen draufsteht, dann würde sich kein Mensch auf der Welt mehr operieren lassen, weil alle denken würden, nach einer OP wäre ich entweder gelähmt oder tot. Oder wenn man einen Beipackzettel bei einem Kopfschmerzmittel durchliest, ohne das entsprechend zu gewichten und zu bewerten, dann würde man denken, ich würde wahrscheinlich, wenn ich an zwei Tagen Kopfschmerztabletten genommen habe, daran verbluten und sterben. Genau das ist ja unsere kommunikative Aufgabe als Ärztinnen und Ärzte, nicht nur Sachverhalte zu schildern, sondern auch eine Bewertung aus Expertensicht vorzunehmen und diese Bewertung dann erst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und zwar so, dass die Personen die Möglichkeit haben, auch interaktiv zum Beispiel Gegenfragen zu stellen und Aufklärung zu verlangen. So ist es ja unidirektional gar nicht möglich, außer dass sie das über die sozialen Medien betreiben, worüber wir dann noch mal zu sprechen kommen, sicherlich.
Nößler: Haben wir. Jetzt haben Sie ein sehr interessantes Bild aufgemacht, Herr Emami, das will ich direkt mal zu Herrn Scherer rüberwerfen, nämlich das Shared Decision-Making. Das Gespräch zwischen Ärztin und Patientin, Arzt und Patient, das Aufklären von jemandem, der sich fachlich auskennt, mit dem Transmissionsriemen quasi in das spezifische Setting desjenigen, den es dann betrifft, hinein. Herr Scherer, könnte man nicht diese Analogie auch so verstehen, dass wir sagen, naja, dieser Expertenrat fungiert ein wenig, wie quasi der Arzt am Patientenbett und der Patient, das sind wir, wir die Gesellschaft. Und unsere Ärzte, die 19 an der Zahl, die geben uns jetzt hier quasi ihre klinische Einschätzung und sagen: Ja, wir müssen da was tun. Und ich habe da eine Idee, was wir machen können. Und jetzt beginnt halt das Gespräch, im Zweifel auch über Twitter. Ist die Analogie so fern, Herr Scherer?
Scherer: Es kann sein, dass es das Selbstverständnis des Expertenrats ist. Aber um das zu leisten, fehlt eben genau die Gewichtung, die Pedram Emami eben angesprochen hat. Wenn man das Papier zusammenfasst, dann könnte man sagen, es wird schlimm, schnallt euch an. Und das und das ist jetzt zu tun. Und wie Pedram Emami gesagt hat, ist auch gar nichts Falsches drin. Aber wenn das ein Nichtfachmann, eine Nichtfachfrau liest, dann denkt die: Mensch, es wird schlimm, was bedeutet das jetzt für mich. Und der Eindruck, der letztlich erzeugt wird, nicht nur mit diesem Papier, sondern in der öffentlichen Kommunikation überhaupt, Leute, es wird schlimm. Und der Eindruck ist dann: Es wird für jeden gleichermaßen schlimm. Dabei wissen wir seit Beginn der Pandemie, es sind bestimmte Bevölkerungsgruppen, die gefährdet sind. Es sind gerade die Älteren, die Vorerkrankten, das wissen wir von Beginn an und das hat sich nicht geändert. Und das ist eben nicht so, dass jeder gleich gefährdet ist. Und das ist auch nicht so, dass die Impfung für jeden gleich wichtig ist. Freilich müssen wir was tun. Denn die Zahl der Älteren, der Ungeimpften, der mit Vorerkrankungen, die sich jetzt innerhalb kürzester Zeit infizieren können, könnte sehr hoch werden. Und das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen stellen. Das ist schon ein Problem. Aber genau diese Gewichtung fehlt. Dass viele sich anstrengen müssen, um eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe zu schützen, die nämlich besonders betroffen ist.
Nößler: Gehen wir gleich noch mal auf das Thema Impfen ein. Ist ja auch insofern interessant, als dass wir diese Episode aufzeichnen an just dem Tag, an dem die Beschlussempfehlung der STIKO herausgekommen ist zur Verkürzung des Auffrischintervalls. Wenngleich es da den wichtigen Hinweise gibt, trotzdem bitte risikostratifiziert vorzugehen. Ich möchte noch auf einen Aspekt aus diesem Papier vom Expertenrat eingehen, damit wir dann da auch mal einen Haken dranmachen können, Herr Scherer. War das immer das Credo in der Pandemie zu sagen, wir müssen das Gesundheitswesen schützen, damit es eben nicht zur Überlastung kommt? Und jetzt gehen die Autoren aus dem Expertenrat, diese 19 Personen, die, ich finde, noch einen ganz entscheidenden Schritt weiter. Ich habe das in dieser Form so deutlich erstmals überhaupt gelesen. Auch das zitiere ich mal ganz kurz. Da geht es nämlich im die kritische Infrastruktur. Also das ist Polizei, das ist Feuerwehr, das sind die Rettungsdienste, Strom, Wasser, Abwasser, Telekommunikation et cetera. Und die schreiben da drin, dass die steigenden Inzidenzen ein hohes Risiko eben auch für diese Infrastruktur bieten. Die verweisen dort auf London unter anderem. Da ist es schon so, dass Krankenhäuser sich von der Versorgung abmelden mussten, jetzt am Wochenende, weil einfach eine ganze Station, also Personal massiv erkrankt war. Jetzt mal zusammengefasst: Wenn komplett eine Feuerwache krank wird, dann löscht da keiner mehr ein Haus am Ende. Und dann gibt es aus dem UK dieses Beratergremium SAGE, das kennen wir auch. Das ist so ein institutionalisiertes Beratergremium über diesen Expertenrat, wie wir ihn kennen, hinaus. Da gibt es die SPIMO-Group, die haben mal modelliert, wenn man das nicht einbremst, dann rechnen die mit 2 Millionen Neuinfektionen am Tag. Herr Scherer, AHA und L+C, das reicht dann einfach nicht mehr. Ist es dann nicht tatsächlich auch an der Zeit, dass man da so deutlich werden muss?
Scherer: Im Sinne eines neuen Lockdowns, meinen Sie?
Nößler: Zum Beispiel, danach sieht es ja so ein bisschen aus, auch bei uns.
Scherer: Wir wissen ja, dass das öffentliche Leben herunterzufahren, eine wirksame Maßnahme ist, um die Infektionsdynamik zu bremsen. Das hat sich immer wieder gezeigt. Die Frage ist nur, was ist der richtige Zeitpunkt dafür. Wenn wir jetzt über einen prophylaktischen Lockdown sprechen, dann wäre das eine sehr drastische Maßnahme. Andererseits kann es wiederum sein, dass die Geschwindigkeit der Ereignisse uns schlichtweg überwältigt. Also es ist schon eine schwierige Situation. Aber die Mittel, die auch in diesem Papier benannt sind, die sind bekannt und eigentlich auch jetzt sofort anzuwenden, dass man die Bevölkerung intensiv noch mal zur aktiven Infektionskontrolle auffordert, dass größere Zusammenkünfte vermieden werden, das konsequent bevorzugte Tragen von FFP2-Masken insbesondere in Innenbereichen, verstärkter Einsatz von Schnelltests bei Zusammenkünften vor und während der Festtage. Das sind alles Maßnahmen, die richtig waren, die jetzt mehr denn je richtig sind. Und diese Frage, die Sie jetzt so ein bisschen impliziert haben, müsste man nicht jetzt schon direkt in den Lockdown gehen, ist eine sehr schwierige. Würde mir jetzt im Augenblick zum jetzigen Zeitpunkt, Stand heute als sehr drastisch vorkommen.
Nößler: Dann gucken wir mal in das Thema Politikberatung hinein, bevor wir uns wieder mit der Frage beschäftigen, wie müssen wir so was eigentlich auch gesellschaftlich kommunizieren und abhandeln. Jetzt müssen wir den Disclaimer vielleicht an dieser Stelle mal machen, dass Sie beide gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen durchaus auch Politikberatung machen. Und zwar beraten Sie in Hamburg den Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher. Viele Hörer vom Podcast werden wissen, dass Peter Tschentscher Kollege, wenn man so will, ist von Ihnen, Labormediziner. Und Sie beraten quasi Hamburgs Ersten Bürgermeister darin, was aus medizinischer Sicht jetzt sinnvollerweise zu tun wäre. Herr Emami, jetzt tun wir vielleicht mal so, als wäre ich im Moment Peter Tschentscher, ich wäre jetzt Hamburgs Erster Bürgermeister. Was würden Sie mir denn angesichts einer Situation raten wie der momentanen?
Emami: Ich bin ja sozusagen nicht Erster Epidemiologe in dieser Runde, deswegen bin ich weit davon entfernt, inhaltliche Weisheiten von mir zu geben, das steht mir nicht gut an. Was ich aber sozusagen als ärztlicher Kollege und ein bisschen Politiker sagen kann, dass ich meine, dass es ganz wichtig ist, in solchen Notsituationen – das brauche ich ihm eigentlich nicht zu sagen, das weiß er schon – es wichtig ist, Entscheidungen zu fällen, sie zeitnah zu fällen und konsequent umzusetzen und durchzusetzen. Und wenn ich das vielleicht anhängen darf, ich brauche ihm das deswegen nicht zu sagen, weil eins muss man schon festhalten, wenn Sie Hamburg vergleichen mit anderen Bundesländern, da ist es schon so, dass die Senatorin, die zuständig ist für die Gesundheit, genauso wie der Bürgermeister auch, sich bis jetzt auch eher dadurch ausgezeichnet haben, dass sie im Vergleich zu ihren anderen Kolleginnen und Kollegen im Bundesgebiet schon ad 1 durch Konsequenz und ad 2 durch Besonnenheit auch vor allem in der Kommunikation auszeichnen, das Lob darf ich auch mal aussprechen an dieser Stelle. Natürlich ist es so, dass wir uns aber auch klar sein müssen – und das ist genau das, was wichtig ist und genau das, was ich versucht habe, darzulegen als Kritik an die öffentliche Diskussion –, dass wir auf der einen Seite die Expertenmeinung haben, auf der anderen Seite die klinische Bewertung haben und im dritten Schritt auch eine politische Machbarkeit und Umsetzbarkeit haben. Das heißt, wir machen über mehrere Ebenen jeweils eine Risiko-Nutzen-Abwägung bei diesem ganzen Prozess durch. Und es ist natürlich vielleicht sehr reduziert in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, wenn man Sachen sagt: Da sind Wirtschaftsinteressen, da geht es nur ums Geld und da geht man diesem Verband klein bei oder jenem Verband klein bei, das ist mit Nichten der Fall. Man muss sagen, dass solche politischen Entscheidungsprozesse natürlich auch ganzheitliche Überlegungen anstellen müssen. Ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die die Entscheidung am Ende fällen. Wir können uns immer am Ende bequem zurücklehnen und sagen: Wir haben gesagt, was richtig ist, jetzt musst du aber machen. Aber jetzt denken Sie doch mal bitte ein Jahr zurück. Da waren die Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft sich einig, dass man das gesamte öffentliche Leben einschließlich des Schul- und des Universitätsbetriebes, des Bildungsbetriebes herunterfahren muss. Das haben wir gemacht, und zwar mit der Begründung, wir möchten die Alten und die Vulnerablen schützen. Und wenn wir uns die Zahlen aus der zweiten Welle angucken, der Schutz war bedingt gut, sage ich mal mit Respekt, aber wir haben den großen kollateralen Schaden im Bereich der Kinder und Jugendlichen gehabt. Aus der damaligen Sicht haben einige gesagt – damals schon gesagt – das ist ein viel zu hoher Preis, den wir dabei zahlen. Und dafür werden wir nicht sehr, sehr viel gewinnen. Das wird für das Gesamtgeschehen nicht so relevant sein wie viele meinen. Aber wir haben das in Kauf genommen. Und da muss man auch klar sagen, bei den politischen Entscheidungen auf einer anderen Ebene und Art, aber in Analogie zu den klinischen Entscheidungen, die wir fällen, geht es immer um diese Abwägung. Und aus den Erfahrungen des letzten Jahres muss eine Politikerin oder ein Politiker in diesem Jahr genau diese Abwägung noch mal machen und sagen, wenn jetzt in den nächsten Tagen die Entscheidung ansteht, mache ich dieses Jahr wieder die Schulen zu oder nicht. In deren Haut will ich nicht stecken. Kann ich nur wiederholen.
Nößler: Interessant in dem Zusammenhang mit den Kindern und Jugendlichen. Also auch mit denjenigen, die einfach in die Kita, in die Schule gehen, ist folgender Satz vom Expertenrat – jetzt muss ich ihn doch wieder zitieren. Da steht nämlich: „Bei allen Entscheidungen müssen die Interessen besonders belasteter und vulnerabler Gruppen wie beispielsweise Kinder, Jugendliche oder Pflegebedürftige höchste Priorität haben. Herr Scherer, nach meinem Dafürhalten und nach dem, was jetzt gerade Herr Emami gesagt hat, hat man da doch offenbar auch ein Stück weit dazugelernt, auch seitens der Wissenschaft. Und auf einmal es geschafft, Kinder und Jugendliche in eine vergleichbare Vulnerabilität zu bringen, also das eine gesundheitlich, das andere aus Bildungsperspektive, oder?
Scherer: Da haben Sie jetzt eine nötige Differenzierung reingebracht, denn es ist vielleicht jetzt nicht die stärkste Stelle des Papiers, die Sie da gerade zitiert haben, weil die Vulnerabilität der Kinder und Jugendlichen natürlich eine völlig andere ist als die, über die wir im Zusammenhang mit COVID-19 sprechen. Wir benutzen daher Vulnerabilität als Kernbegriff, als Risikofaktor für diesen schweren Verlauf. Und die Kinder und Jugendlichen, die haben dann die Verletzlichkeit im Bereich der sozialen Teilhabe, der sozialen Gesundheit, der psychosozialen Symptomatik. Das sind unterschiedliche Dinge. Und wenn man in einem Satz Vulnerabilität benutzt und dann die Kinder und Jugendlichen und die Pflegebedürftigen in einem Satz unterbringt, dann trägt das nicht unbedingt zur differenzierten Aufklärung bei. Ich will da jetzt gar nicht zu stark kritisieren, aber es kriegt ein Laie nicht auseinanderdifferenziert, was damit jetzt gemeint ist.
Nößler: Das heißt – ich versuche mal so eine Art Übersetzer –, man hätte den Satz im Prinzip so schreiben müssen oder können, dass man sagt: Bei allen Entscheidungen müssen die Interessen besonders belasteter oder vulnerabler Gruppen höchste Priorität erhalten.
Scherer: Ja, zum Beispiel.
Nößler: Und damit hätte man aber beide relativ gleichwertig betrachtet. Und das, würde ich doch meinen – bitte korrigieren Sie beide mich – da ist doch eine Art Lerneffekt drin, vor dem Hintergrund, was Herr Emami gerade sagte mit den Kollateralschäden, die offenkundig doch ein Stück weit hier ernst genommen werden, oder?
Emami: Wenn ich das einmal sagen darf: Wir reden ja immer von der Wissenschaft, die dazulernt. Das ist keine homogene Masse. Auch innerhalb der Wissenschaft gab es schon vor einem Jahr unterschiedliche Bewertungen der Situation. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die will ich hier nicht mit Namen nennen. Aber das sind sehr renommierte und akzeptierte Persönlichkeiten, von allen Seiten akzeptierte Persönlichkeiten, die bereits vor einem Jahr gesagt haben: Wir müssen eine Art Risikoadjustierung vornehmen. Weil wir potenziell sonst Gefahr laufen, im Sinne dessen, was Sie gerade zitiert haben, bestimmte Gruppierungen in der Bevölkerung nicht gebührend zu berücksichtigen. Es ist nicht so, dass alle dazugelernt haben. Es gibt, mit Verlaub, andere, die das bereits früh erkannt haben, die aber nicht die Beachtung gefunden haben, die erforderlich gewesen wäre. Das muss man der Fairness halber auch sagen, weil in der öffentlichen Wahrnehmung sehr oft der Eindruck entsteht, dass es zwei Gruppen gibt: die Wissenschaftler/-innen und die Querdenker/-innen und dazwischen ist überhaupt gar nichts. Dazwischen ist ein Vakuum. Und das entspricht nicht der Realität. Auch in der Welt der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Ansichten, wie man eine Pandemie bewältigt und welche Strategie man vornimmt. Und dass man da unterschiedliche Ansichten hat und unterschiedliche Schwerpunkte setzt, heißt im Gottes Namen nicht, dass man das Ableben der einen Gruppe in Kauf nimmt oder den Untergang der anderen. Sondern wir wissen aus der medizinischen Behandlung, wir kaufen uns mit jeder Entscheidung immer etwas ein dafür. Wir müssen immer einen Preis bezahlen. Und wir müssen immer dabei überlegen: Ist das ein Preis, den wir zu zahlen bereit sind, weil wir als Gesellschaft der Meinung sind, dass es sich lohnt in Anführungsstrichen – das ist ein sehr merkwürdiger Terminus in diesem Kontext – oder sind wir nicht bereit, diesen Weg zu gehen? Aber da müssen wir auch, wenn wir schon Dinge publik machen, dann müssen wir aber auch offen und ehrlich miteinander diskutieren können, ohne dass wir uns die Köpfe einschlagen.
Nößler: Unter anderem macht ja auch die Dosis auch das Gift. Ich verspreche Ihnen, wir kommen gleich auf das Thema Publizität und wie machen wir so was öffentlich. Ich möchte noch mal so ein bisschen in dem Bereich Politikberatung bleiben. Das, was Sie gerade ansprechen, der Streit oder der vermeintliche Streit oder der medial inszenierte Streit, den es zwischen der und der Wissenschaft in Anführungszeichen da gegeben hat – wir dürfen auch nicht vergessen, Herr Emami – der wurde zu Teilen, trotz aller Differenziertheit wissenschaftlicherseits auch geschürt hin und wieder. Selbst von Vertretern aus der Wissenschaft heraus. Das dürfen wir ja nicht vergessen, das gehört ja auch mit dazu.
Emami: Absolut. Keiner von uns ist vor Eitelkeit gefeit. Wenn ich ein Beispiel nennen darf, früher – also vor der Pandemie früher – war das eigentlich üblich, wenn man Daten zur Verfügung hatte, dass man diese Daten einmal im wissenschaftlichen Raum veröffentlicht und zum Diskurs gestellt hat. Ein Paper wird von einem Journal reviewt, die Daten werden auf Kongressen präsentiert und man diskutiert das mit anderen da, auf einer zivilisierten Art und Weise. Heute funktioniert das so, wenn ich meinen Standpunkt durchsetzen will, kann ich noch vor der öffentlichen Publikation von der offiziellen Publikation meine Daten auf Twitter präsentieren und wenn ich genug Reichweite habe, habe ich genug Anhängerschaft dafür. Und damit wird auch schon eine Meinung gebildet. Aber Sie sehen, egal wie wir es drehen und wenden, wir landen bei jeder Frage, die Sie stellen, am selben Punkt und an derselben Problematik. Wie viel Öffentlichkeit gehört in den wissenschaftlichen Diskurs?
Nößler: Ja, kommen wir auch unbedingt zurück. Ich will aber noch mal das Thema Geschwindigkeit, das Sie jetzt gerade angesprochen haben, aufmachen. Und das spiele ich jetzt direkt wieder zu Martin Scherer rüber, nämlich die Frage, wie müssen wir abwägen? Herr Emami, Herr Scherer hat jetzt gerade das Beispiel des wissenschaftlichen Diskurs in der Vor-Corona-Ära noch mal skizziert. Für alle, die uns zuhören und nicht aus der Wissenschaftswelt stammen, wo man eben auf einem Kongress geht mit einem Abstrakt, wo man präsentiert und vielleicht noch Kritik mitnehmen und darüber reden kann. Und am Ende das Paper auch ein bisschen verfeinert. Das geht ja jetzt nicht in der jetzigen Form. Wir sind in der Krise, wir müssen hier schnell handeln. Technikfolgen abschätzen, wie wir das normalerweise kennen, das geht doch nicht, Herr Scherer, oder?
Scherer: Zumindest nicht in der Geschwindigkeit wie wir es gerne hätten. Wenn sich die Infektionszahlen tatsächlich dann, wie im Ausland beobachtet, im Zwei-, Dreitagesintervall verdoppeln, dann fehlt ja fast die Zeit, ein Paper zu lesen, geschweige denn Daten systematisch zu erheben oder auszuwerten. Also da geht es dann tatsächlich um Analogieschlüsse aus Erfahrungen aus dem Ausland vielleicht und um Pragmatismus und letztlich auch um die schnellste Form der Evidenzgenerierung, nämlich der Expertenkonsens. Wobei natürlich der Begriff Experte kein geschützter Begriff ist und hier die Zuordnung oftmals sehr willkürlich vorgenommen werden. Also auch der Expertenrat, über den wir jetzt sprechen, der ist ja offensichtlich nach dem Prinzip der individuellen Expertise zusammengesetzt. Und man muss sich dann schon die Frage stellen, nach welchen Kriterien wurde er ausgewählt, sind das legitimierte Vertreter einer besonderen im Gesundheitswesen relevanten Gruppierung. Aber das Prinzip ist, glaube ich, genau das, dass man zusammentritt, wie auch immer die Gruppe zusammengestellt ist. Und dann die unterschiedlichen Perspektiven zusammenträgt, also mit PubMed wird man das jetzt so nicht bewältigen können.
Nößler: Ja, mit PubMed – Sie verzeihen es mir, aber ich habe so ein bisschen herausgehört, dass Sie sich eher vorstellen könnten, das ein Expertenrat mit Vertretern besetzt ist, von Fachgesellschaften beispielsweise oder ärztlichen Gremien. Also dass da beispielsweise statt Einzelpersonen zu nennen, die ja auch irgendwelche Ämter haben in der Wissenschaft, in der Standespolitik, in ihren Fachgesellschaften, dass man dort wirklich Nominees abstellt aus einzelnen beispielsweise ärztlichen Organisationen, oder habe ich das falsch verstanden?
Scherer: Zumindest ist es ein Gedanke, den auch Pedram Emami schon an verschiedenen Stellen geäußert hat. Und vielleicht Pedram, willst du das mal ausführen?
Emami: Danke, Martin. Also der Punkt ist – Sie haben es genau angesprochen – der Faktor der Zeit spielt hier eine wesentliche Rolle. Was aber genauso wichtig ist – das ist das, was Martin Scherer anspricht –, dass man sozusagen wissenschaftliche Meinungen von Personen löst. Das hat den Sinn zu sagen, dass Personen nicht mehr so im öffentlichen Kreuzfeuer stehen, wie es im ersten Jahr der Pandemie der Fall war, dass Kolleginnen und Kollegen von uns wirklich massiv angegangen worden sind. Das ist eine absolute Unart. Und das kann man natürlich zum einen vermeiden, indem man das depersonalisiert. Und auf der anderen Seite muss man auch sagen, ist es auch in solchen Krisensituationen so, dass man angewiesen ist auf ein Miteinander. Man kann nicht sagen, dass eine Person allein im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit ist. Man muss einen Weg finden. Und deswegen ist es wichtig, dass man solche Gremien oder die Zuordnung institutionalisiert, anstatt dass man das personenbezogen macht. Und ich persönlich – wenn ich das Modell ausführen darf: Natürlich sind alle 19 Menschen ganz zweifelsohne, die in diesem Gremium sitzen, hochhonorige und hochintelligente Menschen, daran will ich überhaupt keinen Zweifel lassen. Nur was die Transparenz für die Öffentlichkeit und damit was die Akzeptanz betrifft und auch was die Systematik für die Zukunft betrifft, wäre es natürlich gut gewesen, wenn man gesagt hätte, man hätte eine transparente, nachvollziehbare Systematik, nach der so ein Gremium zusammengesetzt wird. Und da wäre es doch klug gewesen, wenn wir gesagt hätten, dass Dachverbände oder Einrichtungen aus ihrer Mitte heraus jemanden im Konsens entsenden, von dem sie sagen, dass diese Person im Austausch mit der eigenen Fachdisziplin auch eine wissenschaftliche Meinung repräsentieren kann, die die anderen Kolleginnen und Kollegen aufgrund der Sachexpertise aus dieser Gruppe heraus unterstützen würden. Das hatte natürlich den zusätzlichen positiven Aspekt, dann hat die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler, der/die da vorne steht, die komplette Rückendeckung seiner Kolleginnen und Kollegen. Da kann keiner sozusagen querschießen in der Öffentlichkeit, weil die ganzen Diskussionen bereits in den eigenen Fachgremien vorher die Chance hatten, zumindest kurz erörtert zu werden, bevor sie in die Beratung eingebracht werden. Und damit ist es zwar ein abgestuftes Verfahren, wenn Sie so wollen oder ein Verfahren, dem eine Art von Legitimation vorausgeht, was aber trotzdem die Möglichkeit hat, auf Zack zu agieren und gleich zu reagieren, wenn es denn sein muss.
Nößler: Herr Scherer, ich nehme jetzt mal das Bespiel STIKO, da sitzen nun auch eine Kollegin und ein Kollege von der DEGAM drin, Eva Hummers, kennen wir, und Thomas Ledig. Das sind ja DEGAM-Leute. Aber die sitzen dort als Eva Hummers und Thomas Ledig drin. Wäre es so ein Format, wie es Herr Emami skizziert? Wäre das so ein Analogon?
Scherer: Das wäre eine Möglichkeit, dass man sagt, die Fachgesellschaften entsenden Vertreter, aber die agieren nicht auf Weisung der Fachgesellschaften. Das ist ja auch ein Prinzip, das zum Beispiel das RKI verfolgt im Influenza-Rat. Der Influenza-Rat des RKI ist jetzt erweitert worden auf andere respiratorische Infektionserkrankungen. Da entsendet die DEGAM eine Person, zum Beispiel Prof. Hanna Kaduszkiewicz aus Kiel. Aber sie agiert da frei. Und das ist eine Möglichkeit, dass die Fachgesellschaften in irgendeiner Form repräsentiert sind, aber die Person, die entsendet sind, frei sind. Eine andere Variante ist die der Mandatsträger. Das kennen wir aus der Leitlinienentwicklung. Wo dann auch sichergestellt wird, dass die Mandatsträger die Mehrheitsmeinung einer Fachgesellschaft repräsentieren. Das ist ein kleines bisschen aufwendiger, weil es Rückkopplungsschleifen, Feedbackschleifen braucht, Abstimmungsverfahren, Umlaufbeschlüsse per E-Mail in den Vorständen und Präsidien. Das könnte etwas aufwendiger sein. Aber das sind alles Dinge, die die AWMF seit langer Zeit eingeübt hat. Und die AWMF hat auch parallel zu dem ganzen Wust, der öffentlich so abgeht, eine Taskforce am Laufen, wo sehr viel parallel passiert und wo auch Umlaufbeschlüsse sehr schnell gefasst werden. Und der Vorteil ist, dass bei diesen 180 medizinischen Fachgesellschaften, die unter dem Dach der AWMF versammelt sind, dann auch sehr schnell – Pedram Emami hat gesagt – auf Zack diejenigen benannt werden können, die für eine bestimmte Versorgungsfrage von Relevanz sind. Und der Vernetzungsgrad ist einfach sehr hoch.
Emami: Einen Satz würde ich gerne nachschieben. Sie haben am Anfang uns auf unsere Conflict of Interest angesprochen. Und das ist natürlich immanent wichtig, dass solche Dinge auch transparent dargelegt werden in der Öffentlichkeit. Wer aus welchem Grund in so einem Gremium berufen wird und wo es potenzielle Interessenskonflikte gibt. Nicht, dass ich das jemandem unterstelle, da will ich bitte gar nicht missverstanden werden. Der Punkt ist ein anderer. So gibt man die Möglichkeit, dass es keine Angriffsflächen gibt, weil das ja zu den Märchen der Querdenkern gehören, die immer wieder einzelne Personen aus diesen Kreisen herauspicken und sagen, der hat finanzielle Interessen, der hat Öffentlichkeitsinteressen und sonstige Dinge, die zum Teil unwahr sind oder verzerrt widergegeben sind. Und genau diese Transparenz ist auch ein Bestandteil der Akzeptanz. Und dafür ist ein institutionalisiertes Vorgehen immanent wichtig.
Nößler: Das kann man dann im Zweifel auch so lösen wie es beispielsweise die STIKO macht, dass die Mitglieder, die etwa Honorare für Vorträge von einem Hersteller genommen haben, nicht stimmberechtigt sind, wenn es um einen Impfstoff geht von dem. Also das ist ja so was.
Emami: Ich fürchte, das ist ein bisschen komplizierter in diesem Fall. Ich sage es einfach mal so als Beispiel. Was ist denn, wenn ich von einem großen Ministerium Unsummen von Drittmitteln und Fördergeldern bekomme. Im Kontext genau der Sache, in der ich auch beratend für die Bundesregierung tätig bin. Ist es ein Interessenskonflikt – ja oder nein? Und wie ist es zu bewerten?
Scherer: Vielleicht darf ich auch noch mal ergänzend zum Hamburger Interessenskonflikt – Herr Nößler, Sie haben gefragt, was würden wir jetzt Herrn Tschentscher raten. Da hat Pedram Emami gesagt, dass er so viele Ratschläge gar nicht braucht, was ich teile. Dann schauen wir auf Tagesschau.de, da hat er bereits gehandelt, heute, wo wir diesen Podcast aufzeichnen. Für Ungeimpfte weiterhin Kontaktbeschränkungen, dann eine Sperrstunde ab 23 Uhr, das heißt, dass man Tanzveranstaltungen, Klubs herunterführt, dass man auf FFP2-Masken noch mal sehr achtet auf diese Nutzung in Innenräumen. Dann auch bestimmte Beschränkungen vornimmt, also dass man wirklich sagt: Maskenpflicht in Innenräumen bis hin zu einem Verbot von Feuerwerk und Ansammlung von mehr als zehn Personen vor und in der Silvesternacht. Das sind Entscheidungen, wenn ich das mal so sagen darf, die mit Augenmaß getroffen werden, die sehr klar und ohne viel Wind kommuniziert werden. Und der Erste Bürgermeister Hamburgs, die Senatorin Frau Leonhard und überhaupt der Senat ist die einzige Landesregierung – korrigieren Sie mich –, die sich klar zur STIKO bekennt und zu den STIKO-Empfehlungen bekennt. Das muss man vielleicht auch noch mal sagen. Und dieses Hamburger Beispiel der ruhigen, bedachten, unaufgeregten Kommunikation der Treue zu den wissenschaftlichen Methoden der STIKO, das ist eigentlich ein guter Weg. Und hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Hamburg gut dasteht beziehungsweise bislang einen guten Weg gemacht hat.
Nößler: Gut. Die Interessenskonflikte von Ihnen beiden pro Hamburg, die hatten wir ja schon geklärt. Deswegen lassen wir das mal exakt mal so stehen. In der Tat fällt es mir aber schwer, Herr Scherer, auf Ihre Frage eine Antwort zu geben, welches Bundesland, welcher Stadtstaat sich exakt an die STIKO hält. Das wäre vielleicht mal eine Aufgabe, die wir im neuen Jahr uns vornehmen könnten zu checken. Wir müssen zum Ende des Gesprächs über genau das Thema natürlich sprechen, das Sie beide schon des Öfteren angesprochen haben, nämlich: Wie kommen wir aus diesem gesellschaftlichen Hühnerhaufenmodus raus. So hat es ein Hausarzt hin und wieder genannt. Wie schaffen wir eine Kommunikation, die funktioniert, die fachlich, gesellschaftlich auch kongruent miteinander funktioniert. Ich muss jetzt – es tut mir Leid – doch noch mal den Expertenrat zitieren. Denn an einer Stelle in diesem Papier steht folgender Satz drin: „Eine umfassende Kommunikationsstrategie mit nachvollziehbaren Erklärungen der neuen Risikosituation und der daraus folgenden Maßnahmen ist essentiell. Die Autoren rekurrieren hier auf die Bevölkerung, die durch eine fast zweijährige Pandemie und deren Bekämpfung erschöpft ist und in der massive Spannungen täglich offenkundig sind.“ Soweit das Zitat aus dem Expertenratspapier. Herr Emami, was muss denn so eine Kommunikationsstrategie aus Ihrer Sicht leisten? Dass sie nicht kommuniziert?
Emami: Ich bin ja bekanntermaßen kein Kommunikationswissenschaftler, ebenso wenig wie Epidemiologe. Ich versuche nur aus der Sicht des Ärztekammerpräsidenten vielleicht was zu sagen. Ich bemühe mich genau mit diesen Disclaimern, die ich immer vorwegschicke, erst mal zu sagen, wovon ich Ahnung habe, wovon nicht. Und mich genau zu den Dingen nicht zu äußern, wovon ich keine Ahnung habe. Wenn Sie sich die Twitterosphäre angucken, die leider einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen mittlerweile ausüben, obwohl die alle vor ein paar Jahren noch den amerikanischen Präsidenten der damaligen deswegen verdammt haben, da tummeln sich wahnsinnig viele Kolleginnen und Kollegen von uns rum, die möglicherweise als Ärztinnen und Ärzte wahnsinnig kompetent sind und einen guten Job im Alltag leisten. Aber sie haben weder die Fachexpertise in der Epidemiologie oder Virologie, noch haben sie sozusagen die Position, für eine Gruppe in der Ärzteschaft zu sprechen. Nichtsdestotrotz aufgrund ihrer großen Reichweite oder der Followerschaft schlagen sie auch mal ziemlich harte Töne an, wo ich sagen würde, also so sollten wir als Ärztinnen oder Ärzte in der Öffentlichkeit weder mit Kolleginnen und Kollegen sprechen, geschweige denn mit anderen Menschen. Das ist nicht die Art. Und ich glaube, alle sollten sich darauf besinnen, dass sie gewisse Aufgaben haben, gewisse Rollen haben und gewisse Kompetenzgrenzen haben. Wenn sich alle dran halten würden, wären wir schon ein ganzes Stück weiter.
Nößler: Dann ist es ja super, Herr Emami, dass wir mit Ihnen tatsächlich einen Kammerpräsidenten hier haben, wenn ich so sagen darf, der oberste Wächter des ärztlichen Berufsrechts in der freien und hansischen Stadt Hamburg. Und die Berufsordnung setzt ja durchaus dem ärztlichen Dasein auch außerhalb von Klinik und Praxis doch gewisse, ich sage mal Leitplanken. Und unter anderem skizziert das Berufsrecht ja auch gewisse Verhaltensregeln, sobald man als Arzt oder Ärztin in Erscheinung tritt. Jetzt haben Sie schon vorsichtig skizziert, dass es doch hier und da – Stichwort Twitter – Beispiele gab, wo Kolleginnen und Kollegen von Ihnen sich geäußert haben, wie man es aus Ihrer Sicht vielleicht nicht hätte tun sollen. Ist das dann nicht manchmal auch vielleicht eher ein Fall für das Berufsrecht?
Emami: Das ist leider ein schwieriges Terrain. Natürlich ist es so, wenn medizinische Empfehlungen aus der Sicht von Medizinerinnen und Medizinern getroffen werden, die möglicherweise nicht richtig sind – denken Sie bitte an, Gott sei Dank, die sehr, sehr wenigen Impfleugnerinnen und -leugnern unter unseren Kolleginnen und Kollegen, die das möglicherweise in der Praxis so tun. Sobald es uns zu Ohren kommt, dass sie ihre Patientinnen und Patienten schlecht beraten, können wir agieren. Das haben die auch gemacht. Das ist, glaube ich, auch hinlänglich aus den Medien bekannt, wie wir da vorgehen. Deutlich schwieriger ist es, wenn zum Beispiel Kolleginnen und Kollegen eine politische Entscheidung in der Pandemie mit herben Worten kritisieren und auch möglicherweise gegenüber einzelnen Akteurinnen oder Akteuren in diesem System sich harsch ausdrücken. Das ist dann eine Privatmeinung, die da geäußert wird. Und das ist leider der öffentlich (Bios? #00:46:25#), der vorhanden ist, was so problematisch ist. Ich kann den Menschen nicht daran hindern, seine persönliche Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern. In die eine Richtung ebenso wenig leider wie in die andere Richtung. Was aber schwierig ist, dass man es nicht verhindern kann, dass die Lesenden das doch als die Meinung eines Arztes oder einer Ärztin wahrnehmen und dann das doch irgendwie dieser ärztlichen Kompetenz zuschreiben. Und das ist genau das, was die Sache schwierig macht. Gerade bei denjenigen, die nicht einmal die politische Legitimation haben für die Ärztinnen und Ärzte zu sprechen. Ich glaube, denen ist gar nicht klar, was sie für Baustellen für die Zukunft damit aufmachen.
Nößler: Das wäre natürlich durchaus dann auch Frage einer ... Das würde ich Ihnen jetzt einfach mal so zurückspielen – könnte natürlich auch Thema für die Agenda einer Kammerversammlung sein, so was mal zu thematisieren und dann eben auch an die Kolleginnen und Kollegen zurückzuspielen: Was macht ihr da auf?
Emami: Das ist sogar eine wunderbare Aufgabe für eine unserer bevorstehenden Zoom-Veranstaltungen, bei denen wir solche Dinge auch vielleicht mit Fachexperten aus der Kommunikation bei uns aus der Twitterosphäre diskutieren könnten. Das greife ich gerne mit auf.
Nößler: Herr Scherer, Stichwort Twitter, das Beispiel, das Herr Emami da jetzt gerade aufgemacht hat und das, was eben auch der Expertenrat da befundet hat, was wir ja alle kennen, dass wir alle wahnsinnig fertig sind in dieser Zeit, dass es gesellschaftlich doch immer mehr auch miteinander zu ertragen gibt. Sollten wir in so einer – und jetzt wird es komisch, Achtung, ich mache ein großes Cave – sollten wir in solchen Zeiten Twitter vielleicht hin und wieder mal abschalten?
Scherer: Das ist schwer. Rückblickend auf die USA und das, was Twitter da angerichtet hat oder was, sagen wir genauer, mithilfe von Twitter angerichtet wurde, würde man sagen, da hätte das schon viel früher passieren müssen. Bezogen auf das, was sich jetzt hier auf Twitter abspielt, würde ich nicht zu solche drastischen Befürchtungen neigen, weil Twitter natürlich auch große Vorteile hat. Also man kann innerhalb kürzester Zeit Dinge teilen. Die Pressemitteilungen, die alte, liebe Pressemitteilung, würde ich es mal nennen, die ist durch Twitter fast obsolet geworden, zumindest partiell nicht mehr das Instrument, weil man auf Twitter innerhalb sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen erreichen kann. Und wenn man eine bestimmte Art der Kommunikation einhält und einen bestimmten Code of Condact einhält, dann kann das ein sehr gutes Instrument sein. Das Problem ist die Begrenzung auf 200 Zeichen, das Problem ist die Tendenz zur Polarisierung und der Vereinfachung komplizierter Dinge. Die Welt wird dadurch nicht einfacher. Also Twitter abschalten, das werden wir nicht können und das wird vielleicht auch nicht nötig sein. Aber die Art der Diskussionskultur nochmals zu überdenken, zu überdenken, ob man in den Grauzonen des Wissens vielleicht nicht weicher sein muss in der Diskussion, das sind Dinge, die machen Sinn. Und um abschließend auf den Hühnerhaufen zu sprechen zu kommen, wie kommen wir da raus, Her Nößler? Vielleicht einfach mal weniger gackern.
Nößler: Ja, einfach mal nicht mehr gackern. Das wäre jetzt ein schöner Appell auch in dieser doch eher besinnlichen – in der Regel jedenfalls besinnlichen – Jahreszeit und zum Jahresausklang. Vielleicht müssen wir noch eine zusätzliche Take-Home-Message generieren oder Sie beide vielmehr, nämlich auch an Ihre Kolleginnen und Kollegen. Herr Emami hat es ganz eindrücklich schon als Appell auch formuliert. Wie tritt man als Ärztin, wie tritt man als Arzt auch in der Öffentlichkeit auf, auch wenn man Verantwortung hat in Form einer Mitgliedschaft in einem Expertenrat, in Form eines riesigen Follower-Kreises et cetera. Wenn wir jetzt sagen, an uns als Gesellschaft gerichtet, wir sollten manchmal auch einfach das Gackern sein lassen, es muss nicht immer sein, was können Sie als Take-Home-Message vielleicht noch formulieren für sich, für die gesamte deutsche Ärzteschaft und letztlich auch diejenigen, die als Experten hier fungieren in der Pandemie, wie wir die Kommunikation im neuen Jahr besser miteinander gestalten sollten.
Emami: Ich würde fast sagen, ich würde es nicht begrenzen auf die Ärzteschaft allein. Ich würde sagen, das ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Und erlauben Sie einen kurzen Schwenk aus meiner persönlichen Erfahrung der letzten Monate zu berichten. Ich war im Spätsommer in Italien in der Nähe von Bergamo, wo die dramatischen beängstigenden Bilder der ersten Welle sich so ins öffentliche Gedächtnis eingebrannt haben. All die Dinge, die da vorgefallen sind, all die Entwicklungen und all die Maßnahmen, die ergriffen worden sind, haben aber das öffentliche Leben nicht so erschüttert wie wir es hier gerade bei uns erleben. Das Miteinander, das gesellschaftliche Miteinander war in diesem Spätsommer dort ein ganz anderes, mit Verlaub, als ich das gerade bei uns erlebe. Und wir haben beileibe nicht so viel Leid erfahren müssen wie es die Norditalienerinnen und Norditaliener zu dem Zeitpunkt haben tun müssen. Und vor dem Hintergrund müssen wir auch, glaube ich – und da wird es ein bisschen weihnachtlich in der Tat – ein bisschen Bescheidenheit und Dankbarkeit an den Tag legen und sagen: Bei aller Dramatik, es hätte uns auch schlimmer treffen können. Vielleicht sollten wir alle ein bisschen verbal abrüsten und jetzt die Weihnachtszeit auch nutzen, in uns hineinzukehren und nachzudenken, wie wir Dinge besser anpacken können. Wenn wir wirklich meinen im Sinne der Gesellschaft, dann müssen wir aber auch alle in der Gesellschaft meinen. Und ja, es gibt andere, die anderer Meinung sind und ja, die Meinung kann trotzdem objektiv gesehen auch nicht richtig sein. Aber ich glaube, die Lösung kann nicht sein, dass wir uns gegenseitig – um den Terminus zu benutzen – die Köpfe deswegen einschlagen.
Scherer: Dem kann ich mich nur anschließen. Verbunden mit der Hoffnung, dass wir nicht zu viel Porzellan zerschlagen haben. Verbunden mit der Hoffnung, dass wir irgendwann dazu kommen, das zu reflektieren, was mit unserer Gesellschaft passiert ist und natürlich auch verbunden damit, dass wir jetzt erst mal gut durch die nächste Zeit kommen und dann auch die nötige Ruhe einkehrt, um überall das nachzudenken und sich dann auch wieder als Gesellschaft zu finden.
Nößler: Sich als Gesellschaft wieder finden, sich nicht die Köpfe abreißen, gegenseitig jedenfalls, sich auch nicht abreißen lassen, innehalten, die Zeit am Jahresende, die Weihnachtszeit zu nutzen zum Innehalten, im nächsten Jahr vielleicht etwas verbal abzurüsten und vor allem das Miteinander zu suchen, im Gespräch miteinander und eben über das Gemeinsame zu denken, wie kommen wir da raus. Das ist die große Frage. Das ist die Take-Home-Message, die Sie beide hier skizziert haben zum Jahresende hin. Es war ein kurzer Versuch über die Frage „Wie müssen wir miteinander kommunizieren, wie muss auch Politikberatung funktionieren und kommunizieren?“, so zum Jahresende hin, so zur Jahresendepisode im EvidenzUpdate-Podcast. Herr Emami, vielen Dank, dass Sie heute als Gast mit dabei waren. Es war mir eine Freude.
Emami: Herzlichen Dank für die Einladung. Es hat mir riesen Spaß gemacht mit Ihnen beiden.
Scherer: Vielen Dank, Pedram, für das sehr gute Gespräch. Hoffentlich wieder mal im neuen Jahr.
Nößler: Ja, hoffentlich wieder mal. Und natürlich auch, Herr Scherer, von mir vielen Dank für dieses zweite EvidenzUpdate-Jahr, das wir hier miteinander machen konnten. Jetzt gehen wir beide auch in die verdiente Weihnachtspause, in das Jahresende hinein. Wollen den Hörerinnen und Hörern natürlich alles Gute wünschen, viel Gesundheit, dass Sie gut ins neue Jahr reinkommen. Aber Sie wissen, dass ich Sie dennoch fragen möchte an dieser Stelle, ob Sie es wieder mit einem kleinen Cliffhanger versuchen möchten.
Scherer: Der Cliffhanger wäre der, dass wir das Mikrofon vielleicht eng am Mann haben und bei all unseren vorsichtigen Verwandtschaftsbesuchen, die natürlich, wenn sie stattfinden, regelkonform stattfinden, das Mikro dabei haben und vielleicht dann doch noch ein Jahresrückblick schaffen.
Nößler: Aha! Jetzt hat er wieder verraten, was eine Überraschung hätte sein können. Herr Scherer macht also den Cliffhanger eines Jahresrückblicks. Dann soll es genau diesen geben. An dieser Stelle und auf gleicher Welle. Ich freue mich, wenn wir uns wieder hören. Herr Scherer, bleiben Sie gesund! Herr Emami, alles Gute! Auf bald! Und an die Hörerinnen und Hörer, ein schönes Weihnachtsfest! Auf bald! Tschüss!
Scherer: Tschüss!
Emami: Tschüss!